Bauwelt

Garten, Raum, Horizont


Franklin D. Roosevelt-Memorial


Text: Merrill, Michael, Darmstadt


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    David Brennan

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    David Brennan

Auf einer Insel im New Yorker East River entsteht zur Zeit das vor 38 Jahren von Louis Kahn entworfene Franklin D. Roosevelt Memorial. Es erinnert vor allem an die Rede des Staatsmanns zur Lage der Nation im Jahr 1941, bei der er bereits am Vorabend des Eintritts der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg die Vision einer Nachkriegswelt in Frieden und Freiheit entwarf.  
Auf Roosevelt Island im New Yorker East River senkt ein Kran behutsam einen tonnenschweren Granitblock ab. Männer mit Schutzhelmen manövrieren den Steinblock mit einer Präzision, die dem Gewicht des Blocks und seinem grob gehauenen Aussehen widerspricht, genau an die vorgesehene Position, ei­nen Inch neben dem nächsten. Ein Besucher, der diesem aufwendigen Schauspiel etwas länger zusieht, gewinnt schnell den Eindruck, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Baustelle handelt. Und so ist es auch: Fast vierzig Jahre nach seiner Konzeption nähert sich der Franklin D. Roosevelt Four Freedoms Park, eines der wichtigsten ungebauten Projekte von Louis Kahn, Stein für Stein seiner Fertigstellung. Im Herbst soll es übergeben werden.

Ein Zeitalter zuvor, Mitte der 70er Jahre, fiel das Projekt in einen Dornröschenschlaf. Kahn starb unerwartet im Jahr 1974, nur Wochen, nachdem sein Entwurf endgültig gebilligt wurde; Gouverneur Nelson Rockefeller, eine treibende Kraft hinter dem Projekt, rückte in das Amt des US-Vizepräsidenten auf; gleichzeitig steuerte die Stadt New York auf den Bankrott zu. Mit einem Satz konstruktionsreifer Pläne in der Schublade, die unmittelbar nach Kahns Tod von Mitchell-Giurgola Architects und Kahns Büroleiter David Wisdom fertiggestellt worden waren, hielten die Wächter von Roosevelts Vermächtnis das Projekt am Leben, beharrlich darauf wartend, dass wieder einmal finanzielle Unterstützung und politischer Wille zusammenkommen würden. Vor sieben Jahren war es soweit. Der Dokumentarfilm „My Architect“ von Kahns Sohn Nathaniel sorgte für erneutes öffentliches Interesse, und eine Ausstellung über das Projekt an der Cooper Union brachte die Sache endgültig in Bewegung. Dank der Anstrengungen einer Gruppe von Architekten, Politikern und Spendenbeschaffern konnte die Verwirklichung des Projekts im März 2010 beginnen.

Der Park ist Roosevelt und den „vier Freiheiten“ gewidmet, die den Kern seiner Rede zur Lage der Nation vor dem US-ameri­kanischen Kongress im Januar 1941 bildeten: Freiheit der Rede und der Meinungsäußerung, Religionsfreiheit, Freiheit von Not (wirtschaftliche Verständigung) und Freiheit von Furcht (Abrüstung). Am Vorabend des Eintritts der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg entwarf Roosevelt die Vision einer Nachkriegswelt, in der diese Werte die Grundlage einer dauerhaften Demokratie bilden sollten. Die vier Freiheiten gingen später in die Charta der Vereinten Nationen ein, zu de­ren Mitbegründern Roosevelt zählte, und prägten die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Kahn dachte sich die Gedenkstätte als enge Verbindung zweier räumlicher Arche­typen: Raum und Garten. Für ihn war der Raum „der Anfang der Architektur ... eine Erweiterung des Selbst“, der Garten „eine persönliche Natur ... eine Verdichtung der Natur“. In dem endgültigen Entwurf wurde der Garten als ein großer, ge­neigter Keil am südlichen Ende der Roosevelt Island erdacht, an dessen Spitze sich, den Fluss teilend, ein offener, an einen Schrein erinnernder Raum befindet. Die axiale Klarheit des Entwurfs täuscht über seine subtile Komplexität hinweg; tatsächlich strebt er genau jene schwierigen Synthesen und glücklichen Widersprüche an, welche die anderen großen Werke Kahns kennzeichnen: den Zusammenfall des von Menschen Geschaffenen mit dem Natürlichen, das Zusammen­treffen von Geometrie und Erfahrung, von Leichtigkeit und Schwere, von Monumentalität und Intimität.

Roosevelt Island liegt zugleich in der Mitte von New York City und zugleich abseits; ständig im Blickfeld von Manhattan und Queens, aber nicht unmittelbar erreichbar. In dieser Lage bietet die horizontal ausgeprägte Gedenkstätte einen Ort der Besinnung inmitten der geschäftigen Stadt. Man betritt einerseits einen Park und erlebt andererseits eine sich langsam entfaltende Choreografie, eine Promenade entlang zurückgehaltener und freigegebener Ausblicke, die dem unwidersteh­lichen Drang zur Spitze der Insel folgt. Die Besucher erreichen den zwei Hektar großen Park, indem sie an den Ruinen des alten Smallpox Hospitals vorbei in Richtung Süden gehen. Nachdem sie einen Buchenhain durchquert haben, stehen sie  vor einem keilförmigen Wall. Hier haben sie die Wahl, entweder längs einer der beiden angeschrägten Seitenflanken des Keils weiterzugehen oder die monumentale Freitreppe in der Mitte hinauf zu schreiten. Von der Spitze der 3,60 Meter hohen Aufschüttung blicken sie in einen abwärts geneigten, trichterförmigen Garten. Zwei Doppelreihen von Linden begrenzen ihn und lenken zugleich den Blick auf eine Nische am Ende der Baumreihen. In ihr wird eine monumentale Bronzebüste von Roosvelt stehen. Sie stammt vom Künstler Jo Davidson. Seitlich an dieser Nische vorbei – in deren Rückseite die Worte der Four-Freedoms-Rede gemeißelt sind – betritt der Besucher an der äußersten Spitze der Insel einen nach Süden offenen, steinernen Raum. Dieser fasst den Blick zum Horizont förmlich ein. Gebildet durch dreißig massive Granitblöcke, die an drei Seiten einen quadratischen Sockel umstehen, ist dieser Raum heidnischer Tempel und Schiffsbug zugleich. Dies ist vielleicht Kahns grundsätzlichste Wiedergabe von architektonischem Raum: bestehend aus horizontaler Plattform und ver­tikalen Begrenzungen, Innen und Außen, Erde und Himmel. Jeder der silbrigen Blöcke misst 1,8 x 1,8 x 3,6 Meter und wiegt 36 Tonnen. Während die nach außen weisenden Oberflächen der Blöcke sägerau belassen sind, wurden sie an den Innenseiten poliert, sodass sie sich wegen des nur einen Inch großen Zwischenraums im benachbarten spiegeln. Das Ergebnis ist ein wenig irritierend: Die Blöcke bilden die fast gewichtslos wirkenden Innenflächen des Raumes, stehen aber auch jeder für sich, als Solitäre, mit der wuchtigen Präsenz uralter Megalithe. Mit seiner offenen Form aus dem schwerstmöglichen Material gebaut, bietet der Raum gerade genug Eingrenzung, um zu umschließen, und gleichzeitig mehr als genug Substanz, um eine Ewigkeit zu überdauern. Wer hier steht, fühlt sich zugleich wohlwollend umschlossen, inspiriert und frei, als erfüllte sich ein uraltes, naturgegebenes Verlangen.

Die posthume Verwirklichung eines Bauwerks ruft zwangsläufig gemischte Gefühle hervor. Das gilt besonders für ein Werk von Louis Kahn, jenem Baumeister, der bis ins Detail der letzten Mörtelfuge mit seinen Gebäuden rang. Kahns Erbe ist auch eine schwere Last; man kann sich gut vorstellen, dass es den mutigen Projektverantwortlichen zuweilen so schwer geworden ist wie seine Granitblöcke. Zu den Paradoxa des Kahn’schen Werks gehört, dass es trotz seiner scheinbaren Robustheit in Wahrheit äußerst fragil ist. Die oft beschriebene Magie seiner Räume ist auch das Ergebnis zahlreicher, genau aufeinander abgestimmter handwerklicher Entscheidungen. Dadurch kann bei der Umsetzung auf der Baustelle viel schief gehen. Es spricht für die Fähigkeiten und das Ethos der Beteiligten, dass bisher alles geglückt ist. Die Palette der verwendeten Materialien ist extrem begrenzt: Erde, Granit, Gras, Bäume. Die strengen Symmetrien des Entwurfs und seine präzies gelegten Fluchtlinien verzeihen keine Ungenauigkeiten. Über die Länge eines Fußballfeldes hinaus ist jede Fuge sichtbar. Der Abbau der gewaltigen, aber zerbrechlichen Steine, die Logistik ihrer Verschiffung zur Baustelle, ihre Aufstellung in fast vergessenen Verbänden – nichts davon ist Bestandteil heute gängiger Bautechnik. Die Architekten und Handwerker zeigen sich im Einsatz von Techniken, die vom Altertümlichen bis hin zum High-Tech reichen, bestens ihrer Aufgabe gewachsen. Komplementär zu dieser kunstvollen Konstruktion entwickelt sich ein Gefühl der Kunstlosigkeit oder der Anony­mität. Die Neigungen, Gegenneigungen und Geometrien des Geländes, die Gravitas der Steine und die alte handwerkliche Verbindlichkeit, mit der sie gesetzt werden, die Spannung zwischen dem Widerstand des Materials und der ihm abverlangten Präzision –, all das erschließt sich abwechselnd durch Körper und Geist. Beim Erlaufen der Baustelle kann sich der seltsame Eindruck einstellen, dass all dies fast unvermeidlich ist, irgendwie vertraut, dass hier nicht nur etwas gebaut, sondern auch etwas enthüllt wird. („Stille“ gehörte zu Kahns Lieblingswörtern, und in ihrer kunstvollen Kunstlosigkeit erreichten seine späten Werke manchmal eben diesen Zustand.) Das alles mit fast vierzig Jahren Verzögerung zu erleben, erinnert auf eindrucksvolle Weise daran, dass es Kahn war, der vielleicht mehr als jeder andere Architekt des vorigen Jahrhunderts versuchte, Erinnerung und Moderne zu versöhnen.

Während auf Roosevelt Island bis in den Herbst hinein ruhig und präzise Steine aufgestellt und Bäume gepflanzt werden, bietet sich nun inmitten des Lärms auf der gewaltigen Baustelle für das neue World Trade Center die Gelegenheit, Michael Arads Mahnmal für die Opfer der Terroranschläge vom 11. September 2001 zu besichtigen. Die räumliche und zeitliche Nähe beider Werke macht es schwer, sie nicht miteinander zu vergleichen, zumal beide elementare räumliche Phänomene für das Unaussprechliche nutzen. Es sind allerdings die Unterschiede zwischen den zwei Werken, die am lautesten reden: Das eine Monument gedenkt einer Hoffnung, das andere erinnert an einen Verlust. Das eine beschwört einen historischen Augenblick, in dem ein Land sich der Herausforderung stellte, die Rolle der Weltmacht und der moralischen Führung anzunehmen, das andere erinnert an den Zeitpunkt, als die Führerschaft wankte und verloren ging; die eine Stätte ist ein ruhiger, verankerter Blick zum Horizont, die andere ein endloser Sturz in einen Abgrund. Die Koexistenz beider Monumente, die nur wenige Kilometer voneinander entfernt sind, erzeugt einen seltsamen, bittersüßen Zusammenklang. Es ist eine betrübliche Tatsache, dass heute, mehr als siebzig Jahre nach Roosevelts Ansprache, die in ihr verkündeten Ziele noch immer an jenem fernen Horizont liegen, die das Roosevelt Memorial anzusteuern scheint. Die Verwirklichung von Kahns Werk, fast vierzig Jahre nach dessen Konzeption, hat dem Denkmal eine zusätzliche, ursprünglich nicht vorgesehene Bedeutungsebene gegeben: Es feiert die Beharrlichkeit, mit der Menschen die Verwirklichung ihrer Ideale anstreben. Architektonisch zeitlos und zugleich politisch zeitgerecht, ist das Werk zum Monument zweier Männer und ihrer Ideen geworden, und zu einem Monument für diejenigen, die sich durch diese Ideen zu Taten inspirieren ließen.

Übersetzung aus dem Englischen von Christian Rochow



Fakten
Architekten Louis Kahn; Mitchell-Giurgola; David Wisdom;
Adresse Roosevelt Island New York City, New York, Vereinigte Staaten


aus Bauwelt 17.2012
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