Im Sasso San Gottardo
Text: Gabler, Christiane, Basel
Die Alpenfestung im St.Gotthard-Massiv wird von der Schweiz nicht mehr zur Verteidigung ihrer Souveränität und Neutralität benötigt. Barbara Holzer und Tristan Kobler haben im unteren Teil eine Ausstellung inszeniert, die sich hier, am Kreuzungspunkt europäischer Kulturen, drängenden Fragen der Gegenwart widmet.
Das „Reduit national“ sorgt seit Jahrzehnten für Diskussionen über seine Rolle im Zweiten Weltkrieg und den Einfluss auf das Nationalverständnis der Schweiz. Das Vokabular reicht vom Bild der wehrhaften Alpenrepublik als eingerolltem, Stacheln zeigenden Igel – ein Bild der Schweizerischen Landesausstellung 1964 – bis hin zu sarkastischen Äußerungen Max Frischs, der auch von der „Bewachung von Murmeltieren“ durch die Schweizer Armee sprach. Doch wie kam es überhaupt zu diesen Abwehranlagen tief in den Alpen?
Nach der Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 sah sich die Schweiz plötzlich von den sogenannten Achsenmächten umgeben, eine für die Strategie der Verteidigung völlig neue Situation. Die Eidgenossen fürchteten einen weiteren „Blitzkrieg“ der deutschen Wehrmacht. In dieser Lage erteilte General Guisan den „Reduit-Befehl“ und wurde damit zum Symbol des nationalen Widerstands. Die Strategie sah vor, im Falle eines Angriffs die Verteidigung der Schweiz auf das Gebiet der Hochalpen mit den wichtigen Passübergängen, vor allem das Gotthardmassiv, zu konzentrieren und alle Zufahrten zu den Bergen notfalls zu zerstören. Zwischen 1941 und 1945 entstand daraufhin ein gewaltiges unterirdisches Festungssystem. Es ist ein Bauwerk der Superlative: Die größten Anlagen konnten bis zu 600 Mann aufnehmen und sind durch ein Stollensystem miteinander verbunden. In nur vier Jahren wurden rund 657 Millionen Franken verbaut – nach heutiger Kaufkraft entspricht dies gut 8 Milliarden Schweizer Franken. Neben jenen Bauwerken, in denen Waffen in Stellung gebracht wurden, sind auch Anlagen für die Lagerung von Lebensmitteln, Ersatzteilen für die Armee und Treibstoff, Reparaturwerkstätten, Produktionsanlagen für Medikamente und Druckereien für Zeitungen eingerichtet worden. Schon während der Bauzeit war der Sinn der Alpenfestung umstritten, doch erst mit dem Ende des Kalten Krieges wurden die Festungswerke nach und nach ausgemustert. Einige sind in Privatbesitz übergegangen, in einigen sind Museen entstanden.
Eine der größten und bedeutendsten Artillerie-Stellungen auf der Gotthard-Passhöhe, der Sasso da Pigna, wurde 1998 außer Dienst gestellt. Die Festung mit Geschützständen und Munitionsmagazinen am Nordhang des Monte Prosa, auf der Höhe der Alpi di Sella, diente dem Schutz der Gotthardpass-Straße. Der Stollenkomplex besteht aus zwei deutlich getrennten Teilen. Hinter dem Haupteingang auf der Passhöhe befanden sich Küche, Krankenzimmer, Unterkünfte und Werkstätten. Im oberen Teil wurden Räume für die Unterkunft der Geschützmannschaft, die Munitionsmagazine und natürlich für die Geschütze selbst in den Berg gesprengt. Zwischen beiden Ebenen liegen über 90 Meter Höhenunterschied, und sie sind 1,5 Kilometer voneinander entfernt. Die historisch wertvollsten Bereiche stehen unter Denkmalschutz und sind in diesem Jahr der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden – doch nicht als ein Festungsmuseum unter vielen, sondern eingebettet in die „Themenwelt Sasso San Gottardo“, die das Zürcher Architekturbüro Holzer Kobler in den unteren Teil der Festungskavernen implantiert hat.
Der etwas gewöhnungsbedürftige Name weckt Assoziationen von Themenparks im Stile von Jurassic Park oder Disneyland, doch hinter ihm steckt die Idee, hier, tief im Gotthardmassiv, drängende aktuelle Themen zu behandeln: unseren Umgang mit natürlichen Ressourcen, die Veränderungen von Klima und Landschaft, Zukunftsvisionen und Gefahren unserer Zeit. Das macht Sinn – gerade hier am Gotthard bekommen diese Fragen Brisanz, denn an diesem „Dach Europas“ verknüpfen sich regionale und globale, vergangene und bevorstehende Veränderungen. Der Berg ist eine Wasserscheide – hier entspringen große europäische Flüsse, Reuss und Rhein, Rhône und Ticino –, und er ist Wettergrenze zwischen Nord- und Südeuropa. Angesichts dieser Urgewalt aufgetürmten Gesteins wird die Frage nach technischem Fortschritt und unbegrenzter Mobilitität von jeder Generation erneut gestellt und der Besucher begegnet hier gleichzeitig den Grenzen dieser Träume.
Bereits vor sieben Jahren entstand die Idee zu einer Ausstellung im Sasso da Pigna, aber erst im Frühjahr 2011 kam Dynamik in das Projekt, als die Swisscom als wichtiger Sponsor gewonnen werden konnte. Das Budget für die Ausstellung betrug rund zwei Millionen Franken – eine bescheidene Summe angesichts der extremen Bedingungen für die Bauarbeiten und der hohen Kosten für Brandschutz und Gebäudetechnik. Aufgrund der Geheimhaltung gab es keine verlässlichen Pläne zu den Räumlichkeiten. Ein Helikopter lieferte Material und transportierte an manchen Tagen auch die Arbeiter. Im Stollen konnten sich nur spezielle Fahrzeuge bewegen, der Beton wurde vor Ort hergestellt. Die Passtraße ist nur von April bis September befahrbar, was den Zeitplan für die Bauarbeiten zusätzlich stark einschränkte.
Die Architekten setzten sich nach ihrer Arbeit für die Ausstellung im Dresdner Militärhistorischem Museum (Heft 43.11) erneut mit einem eher abschreckend konnotierten Ort auseinander. Und wie in Dresden haben sie auch hier einen erzählerischen Ansatz verfolgt – mit dem es gelungen ist, die klaustrophobische Atmosphäre der Festung in ein dichtes Ausstellungserlebnis umzuwandeln. Jedem der Räume im unteren Teil der Festung ist ein eigenes Thema gewidmet: Energie, Sicherheit, Klima und Wasser, Mobilität und Lebensraum. Angesprochen wird ein breites Publikum. Der Zugang erfolgt über den langen, nur spärlich beleuchteten Stollengang. Man hat Zeit, sich an Dunkelheit, Nässe und niedrige Temperaturen, höchstens 18 Grad Celsius, zu gewöhnen. Der erste Ausstellungsraum, zum Thema Energie, ist die ehemalige Versorgungszentrale der Festung. Er ist fast unverändert geblieben, Maschinen und Elektroverteilern sind einige wenige Objekte zur Seite gestellt, die das Potenzial der erneuerbaren Energien und die Möglichkeiten, Energie zu speichern, einprägsam veranschaulichen.
Im nächsten Raum findet sich ein in Metall gegossenes Modell der Festung, das an der gewölbten Betondecke hängt; an den Wänden lehnen große Tafeln aus Cortenstahl. Eine jede stellt dem Besucher eine Frage: nach seinem Umgang mit den natürlichen Ressourcen, seinem Verhältnis zur Umwelt, seinem Lebensstil. Fast pathetisch inszeniert, mahnen die modernen „Zehn Gebote“ zum Nachdenken.
Der Raum zur Mobilität ist zurückgebaut bis auf den nackten Fels. Auf den Stirnseiten laufen Filmcollagen mit Zukunftsvisionen zur Mobilität aus dem 20. Jahrhundert.
Im darauf folgenden Raum geht es um Trojaner, Spam und Phishing – die leicht unterschätzten Bedrohungen unserer Zeit werden in einer Umgebung thematisiert, die selbst einmal der Bedrohung und Verteidigung diente. Gelbe Rettungsinseln stehen im Raum, überzogen von einem Netz aus Lichtschranken.
Visuell sehr beeindruckend widmet sich ein Raum dem Thema Wasser und Klima. Er ist geflutet. Über kleine Inseln bewegt man sich im Halbdunkeln. Geräusche – Regen, Gletscherknacken, Tropfen, die ins Wasser fallen, Donner und Blitze – werden durch die Akustik der rohen Felsenkammer verstärkt. Ein Fahrrad liegt im Wasser, ein vorbeifahrendes Schiff wird auf die Felswand projiziert, ein „letzter Gletscher“ ist konserviert, in einem Labor wird danach gefragt, ob wir Klima machen können oder ob wir es nicht schon längst tun.
Fels als Verstärker
Der Ausstellung steht ein wissenschaftliches Forum zur Seite; jährlich werden sich Seminare als eine Art Thinktank mit den Ausstellungsthemen befassen. So soll sie kontinuierlich aktualisiert werden. Die Ausstellung selbst lebt von diesem eigentümlichen, fast unheimlichen Ort: der besonderen Akustik, dem Gefühl, sich in einem Berg zu bewegen; gut zweitausend Meter hoch über dem Meer und mit tausend Meter festem Gestein über sich. Kälte und Feuchte dringen in den Körper. Man fühlt sich abgeschottet, wie in einer Black Box, was die in der Ausstellung aufgeworfenen Fragen noch drängender erscheinen lässt. Alle Sinne werden angesprochen; Fragen und Fakten werden lakonisch präsentiert, manchmal mit einem Augenzwinkern. Einen erhobenen Zeigefinger findet man glücklicherweise nicht. Geschickt bauen Holzer Kobler immer wieder eine Verbindung zum Ort. Die Konzepte der Räume sind nicht wie aus einem Guss, sondern suchen spezielle Möglichkeiten zur Visualisierung der einzelnen Themen. Einige sind wie ausgehöhlt, roh und rau, wie ein Loch im Berg. Andere atmen noch die vormalige Überformung durch den Menschen, eine militärisch-spartanische Ordnung und die Rationalisierung des Krieges: eine Atmosphäre der Bedrohung. Dann wieder wird man überwältigt von der Schönheit der Natur, den geheimnisvoll glitzernden Bergkristallen, denen sich einer der oberen Räume widmet.
Nach dem Besuch der Ausstellung führt ein Fußweg durch einen hunderte Meter langen Stollen im Halbdunkel langsam bergan, bis plötzlich ein uniformierter Mann erscheint. Er bedient den Schrägseillift, der durch Kälte und Dunkelheit an 400 Treppenstufen vorbei in die 90 Meter höher liegenden sechs Artillerieräume führt. Hier ist die Vergangenheit konserviert; Schlafkammern, Büros und Werkstätten wirken, als wären sie erst gestern verlassen. In der langgestreckten Pulverkammer sind in den Regalfächern Fundstücke – Essgeschirr, Gasmasken oder Devotionalien um den verehrten General Guisan – gesammelt und hinter Glas arrangiert. Schmale Gassen führen zu den Artillerieräumen mit den alten Geschützen. Durch eine unscheinbare Tür wird man aus der Enge in die neblige Bergwelt entlassen. Licht und Luft tun gut nach dem langen Weg durch die Kavernen.
Infolge der strengen Geheimhaltung sind rund um das Reduit in den Alpen Gerüchte und Legenden entstanden. Wer sich auf so ein legendenhaftes Gedankenexperiment einlassen möchte, dem sei Christian Krachts Roman „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ empfohlen. In ihm wird die jüngere Geschichte neu erfunden: Lenin verlässt 1917 nicht im plombierten Wagon Zürich Richtung St.Petersburg, die Schweiz erlebt einen kommunistischen Umsturz und die Geschichte des 20. Jahrhundert nimmt einen anderen Verlauf. Das Reduit tief in den Schweizer Alpen ist das Zentrum dieser bolschewistischen Schweizer Macht: das große „Herz der Finsternis“.
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