Bauwelt

Im Sasso Barisano



Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin


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    Domenico Barile

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    Domenico Barile

Nicht durch Karstprozesse, sondern von Menschenhand entstand in Matera eine Höhle, deren Existenz lange vergessen war. Der städtische Ufficio Sassi hat mit Architekt Renato Lamacchia hier ein Kulturzentrum eingerichtet, das mit der Betonung des individuellen Entwurfs eine Spannung aufbaut zu den Räumen, deren Schöpfer anonym geblieben sind.
Wenn man ein Steinchen in einen Hohlraum fallen lässt, erlaubt die Zeit, die bis zu seinem Aufprall verstreicht, Rückschluss auf die Fallhöhe und damit auf die Tiefe des Hohlraums. Mag der Boden in der süditalienischen Stadt Matera auch reich an Löchern sein – der Architekt Tony Strammiello war erstaunt, wie lange es dauerte, bis er den Aufschlag jenes Steinchens vernahm, das er im Sommer 1998 in eines dieser Löcher im „Sasso Barisano“ warf, die den Boden in den ältesten Teilen seiner Heimatstadt so zahlreich perforieren: die zufällige Entdeckung eines lange vergessenen Raums. 14 Jahre und zwei Projektideen später bereichert die Höhle als „Casa Cava“ genannter Veranstaltungsort das kulturelle Leben der knapp 60.000 Einwohner zählenden Provinzhauptstadt um einen weiteren eindrucksvollen Raum.

Den kuriosen Ursprung des Projekts erzählt mir Angelo Stagno, gebürtiger Materaner, als Architekt in Wien lebend und ein Freund des jung verstorbenen Strammiello, bei einem Rundgang durch den Stadtteil Sasso Barisano. Das trichterförmige Quartier bildet zusammen mit dem ähnlich geformten Sasso Caveoso und dem dazwischen liegenden Felssporn der Cività die Altstadt von Matera und besteht zu einem großen Teil aus jenen berühmt-berüchtigten Höhlenwohnungen, die, zum Elendsquartier herabgesunken, Mitte des 20. Jahrhunderts geräumt worden waren – der Hinweis auf Carlo Levis Anklage der unhaltbaren Zustände in seinem Buch „Christus kam nur bis Eboli“ darf an dieser Stelle nicht fehlen. Am Rand der Gravina-Schlucht in der Basilikata gelegen, ist Matera auf und im Kalkstein der Murge-Hochebene erbaut, deren größerer Teil in der Nachbarregion Apulien liegt; der karstige Untergrund, aber auch die bis in die Jungsteinzeit zurückreichende, ununterbrochene Besiedlung dieses Ortes sind für die Perforation des Bodens verantwortlich.

Als sich eine jüngere, in den Neubauvierteln der fünfziger und sechziger Jahre aufgewachsene Generation daranmachte, Sasso Barisano und Sasso Caveoso wiederzubeleben, hatten die alten Quartiere mehr als drei Jahrzehnte weitgehend leer gestanden: ein kurzer, aber bedeutsamer Abschnitt der Stadtgeschichte, in dem die Sassi verwahrlost und manche ihrer Besonderheiten dem Vergessen anheim gefallen waren. Überraschende Entdeckungen waren in den letzten zwanzig Jahren deshalb nichts Ungewöhnliches. Die Falldauer des erwähnten Steinchens aber führte zur Entdeckung eines Raums, wie er selbst hier, wo einst ganze Kirchen in den Fels gehauen wurden, als außergewöhnlich gilt.

Von außen ist seine Dimension kaum zu ahnen. Wenn man auf der Piazza Duomo am Südrand vom Sasso Barisano steht, ist das auffälligste Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite der Campanile der Kirche San Pietro. Ansonsten bilden renovierte, eher schlichte Fassaden die Stadtansicht, die sich in die Schlucht hinabtreppt. Eine dieser Fassaden, links neben der Kirche, wird nur von einem Portal durchbrochen, das mit einer Gittertür verschlossen ist und den Blick in einen kleinen Hof erlaubt: der Haupteingang in die Casa Cava. Die Fassade dahinter, die den Hof auf der Hangseite begrenzt, ist zweigeschossig, mit einem großen Bogen im unteren Geschoss und einer schmalen Fenstertür darüber. Das liefert eine erste Ahnung von der Höhe des dahinter sich erstreckenden Raumgefüges – tatsächlich liegt der tiefste Punkt des Auditoriums noch um einige Meter unter dem Niveau des Haupteingangs und sein Scheitel deutlich darüber. Was man nicht ahnen kann ist, dass auch der gesamte Bereich zwischen Hof und Kirchturm zur Casa Cava gehört und wie tief sich der Höhlenkomplex eigentlich in den Berg hinein erstreckt.

Zwischennutzung Jazz Club

Die große Höhle des heutigen Auditoriums, die seinerzeit durch den besagten Steinchenwurf entdeckt wurde und die den Endpunkt der Raumfolge darstellt, entstand nicht durch Karstprozesse, wie die Mehrzahl der Höhlen von Matera, sondern von Menschenhand, als Steinbruch. Vom 11. Jahrhundert, als die Stadt über den Felssporn der Cività hinaus nach Süden in den Sasso Caveoso und nach Norden in den Sasso Barisano wuchs, bis ins 17. Jahrhundert, als Matera zur Hauptstadt der Basilikata erhoben wurde und mit dem Bau des „Rione Piano“ auf der Ebene oberhalb der Schlucht das neue, „bessere“ Matera entstand, wurde hier Baumaterial gewonnen. Erst als sich das Gestein als zunehmend schwieriger abzubauen erwies, wurde der Steinbruch aufgegeben und der Hohlraum zur Müllkippe.

Die erste Idee, wie dieser wiederentdeckte Raum genutzt werden könnte, geht auf die Materaner Architektin Dora Capozza und den örtlichen Onyx Jazz Club zurück. Zusammen plante man, hier einen kleinen Konzertsaal und ein Aufnahmestudio einzurichten, nebst Seminarräumen und weiteren Angeboten, die vor allem den Jugendlichen der Stadt offenstehen sollten. Zwar gelang es, die Räumlichkeiten von der Stadt übertragen zu bekommen – seit der Räumung der Höhlenviertel in den fünfziger Jahren befinden sich diese in öffentlichem Eigentum und werden im Rahmen von Überlassungsverträgen an private Nutzer vergeben –, doch scheiterte die Umsetzung der „Casa del Jazz“ an der Finanzierung durch die Region.

Die neue Nutzung zum Ausdruck bringen

Im Jahr 2008 dann entstand eine neue Nutzungskonzeption. Die besondere Akustik der großen, sich nach oben konisch verjüngenden Höhle, die im unteren Bereich in einige niedrigere Räume übergeht, legte zwar eine Bestimmung für Konzerte nahe, aber auch Vorträge, Filmvorführungen und Podiumsdiskussionen könnten hier stattfinden, befand der städtische, für die Sanierung und Wiederbelebung der Höhlenviertel zuständige Ufficio Sassi; im vorderen Teil wäre außerdem Platz für Ausstellungen und ein wenig Gastronomie – eine Art „piccolo Beaubourg“, wie die Stadt es nennt. Mit der architektonischen Bearbeitung beauftragte das Entwicklungsbüro den Materaner Architekt Renato Lamacchia, und das 1,5 Millionen Euro teure Projekt wurde in Angriff genommen.

Der Wunsch, mit dem unumgänglichen Einbau von Bühne, Bestuhlung und Technik die Wirkung des Steinbruchs noch zu steigern, führte zu einem Ansatz, der die neue Nutzung in bewussten Kontrast zur Höhle und ihren von unzähligen Spuren der Steingewinnung gezeichneten Oberflächen stellt – ein ganz anderes Herangehen also als es vor zwei Jahren im Hotel „Le Grotte della Cività“ praktiziert wurde, wo auf ein gestalterisch und funktional möglichst bruchloses Anknüpfen an die Historie abgezielt wurde (Heft 9.11).

Alles Hinzugefügte gibt sich in der Casa Cava als dezidiert „modern“ zu erkennen; Stahl und Glas sind die dominierenden Materialien, Transparenz und Technik die Inspirationsquellen. Dazu gehört, dass auch die Kanäle und Leitungen der Gebäudetechnik nicht etwa hinter Verkleidungen versteckt, sondern sichtbar belassen wurden, etwa unter den abgetreppten Stuhlreihen. Die von der Entstehung der Höhle als Steinbruch kündenden Spuren an den Wänden wurden dagegen sorgsam konserviert; sie sollen als die unterschiedlichen „Handschriften“ der einst hier Arbeitenden lesbar sein – analog zu den mit Ambition gestalteten Details der gegenwärtigen Bauteile. Mit dieser Betonung der entwerferischen Individualität ist die Casa Cava mit der Architektur des Rione Piano verwandt – ein Hinweis darauf, dass sich das heutige Leben in den Sassi, das sich noch vor zwanzig Jahren so kaum ein Materaner vorstellen konnte, „von oben“ speist: als kultur- wie geschichtsbewusstes Projekt des bürgerlichen Matera, welches das noch immer gegenwärtige Trauma einstigen Elends auf Distanz zu halten vermag.  



Fakten
Architekten Renato Lamacchia, Matera
Adresse 75100 Matera, Provinz Matera Italien


aus Bauwelt 46.2012
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