Bauwelt

Agriturismo in der Stadt



Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin


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Die nordöstliche Ecke des Zentrums von Ferrara evoziert die Weite der Po-Ebene. Francesco Magnani und Traudy Pelzel haben mit dem Agriturismo „Principessa Pio“ einen Ort geschaffen, der den Gast beherbergt – und hinaus treibt.
Der „Agriturismo“ ist für Urlauber in Italien ein fester Begriff. In dem Wort verschmelzen die Vokabeln „Agricoltura“ und „Turismo“, was deutlich macht, worum es geht: Landwirtschaft und Urlaub sollen sich miteinander verbinden, zum beiderseitigen und allgemeinen Nutzen. Denn die Einnahmen sind vielen Höfen, die einen solchen Agriturismo betreiben, eine willkommene Hilfe. Sie unterstützen den Fortbestand der Anwesen wie auch der Kulturlandschaft insgesamt, und die Gäste kommen nicht nur in den Genuss von Lebensmitteln, die am Urlaubsort selbst produziert worden sind, sondern erhalten mitunter auch Einblick in den Alltag des Landwirts.
 
Angeregt von der Mitte der 1950er Jahre in Frankreich gegründeten „Fédération Nationale des gites ruraux“, entstanden die ersten Agriturismi im darauffolgenden Jahrzehnt; in den siebziger Jahren widmeten sich in Italien bereits zwei Organisationen, die „Terranostra“ und der „Turismo Verde“, dieser speziellen Form eines verträglichen Urlaubs. 1985 wurde der Agriturismo per Gesetz definiert. Insofern sind für den Gast böse Überaschungen kaum zu befürchten. Ein Aufenthalt in dem von den venezianischen Architekten Magnani Pelzel gestalteten Agriturismo „Principessa Pio“ in Ferrara bietet allerdings noch mehr als das, was der Urlauber kraft Gesetz erwarten darf: eine Unterkunft, die ohne übertrieben rustikale Anklänge auskommt, und noch dazu die Gelegenheit, eine sehenswerte, vom Massentourismus aber ignorierte Stadt zu entdecken, die für Architekten und Stadtplaner ein besonderes Erlebnis bereit hält.

Urlaub an der Zeitenwende
Die über Jahrhunderte von der Familie d’Este geprägte, heute rund 130.000 Einwohner zählende Provinzhauptstadt in der Emilia-Romagna gehört seit 1995 als „Stadt der Renaissance“ zum UNESCO-Weltkulturerbe. Ihr historisches Zentrum besteht aus zwei unterschiedlichen Hälften, die durch den in Ost-West-Richtung verlaufenden Corso della Giovecca getrennt werden: Südlich dieser Achse liegt der mittelalterliche Teil der Stadt, nördlich davon ihre Erweiterung, die, Ende des 15. Jahrhunderts vom Architekten Biagio Rossetti (1447–1516) konzipiert, als erste neuzeitliche Stadtplanung überhaupt gilt. Der Paradigmenwechsel, der an der Grenze der beiden Stadtteile noch heute erlebbar ist, muss seinerzeit eine überwältigende Wirkung entfaltet haben: Das mittelalterlich krumme Straßengewirr des alten Ferrara scheint sich plötzlich zu entspannen, sich in die weite Landschaft der Po-Ebene hinaus zu dehnen und zu strecken. Nicht weniger als das Erwachen der modernen Planung (und des modernen Menschen) lässt sich hier auf wenigen Metern Wegstrecke nachempfinden: der Schritt vom Ende einer Epoche hin zum Beginn einer neuen Ära.

Was die Stadterweiterung der Renaissance kennzeichnet, ist ihr großer Anteil an Grünflächen: Nicht nur wird die Bebauung nach Norden hin immer lockerer, es mischen sich auch Gärten, Friedhöfe, ja sogar Äcker und Wiesen ins Bild. „La Campagna dentro le mura“, die Landschaft innerhalb der Mauern, wird dieser Teil der Stadt denn auch auf Hinweisschildern benannt. Die Mauern und die sie begleitenden Wälle und Gräben haben sich bis heute erhalten. So unüberwindbar wirkt die Befestigung, dass der Betrachter unwillkürlich denkt, sie allein hätte es vermocht, die vor über fünfhundert Jahren entstandene Struktur bis heute vor dem Ansturm des Fortschritts zu bewahren.

Die städtische Scheune
Der Agriturismo „Principessa Pio“ liegt in der nordöstlichen Ecke dieser Umgrenzung. Er ist nach der 1670 in Ferrara geborenen Margherita Pio di Savoia benannt, die wegen ihres für die damalige Zeit ungewöhnlich selbstbestimmten Lebensstils bis heute geachtet wird. Das rund 3,5 Hektar große, L-förmige Anwesen wird im Norden und Osten von der Stadtmauer gerahmt; im Westen grenzt es an den katholischen Friedhof der Stadt, im Süden an den jüdischen. Nur über die schmale Via delle Vigne oder über die Via dell’Erbe und einen Fußweg durch einen Garten gelangt man vom Corso Porta Mare, dem Decumanus der Renaissance-Stadterweiterung, in diesen verborgenen Winkel der Stadt. Von seiner trotzdem zentralen Lage ist folglich nichts zu spüren – „la campagna dentro le mura“ trifft den Charakter dieses Ortes genau. Allein die Baumreihe auf der Kuppe der Stadtbefestigung im Hintergrund lässt die Besonderheit der Situation erahnen; wäre sie nicht, könnte der Agriturismo auch weit außerhalb der Stadt liegen. So aber braucht es nicht mehr als einen zehnminütigen Fußweg, und man steht auf der Piazza Ariostea, wo alljährlich Ende Mai der „Palio di Ferrara“ stattfindet, wo es aber dank etlicher Renaissance-Paläste in nächster Nähe auch zu jeder anderen Jahreszeit genug zu sehen gibt – erwähnt sei nur der berühmte Palazzo dei Diamanti.

Gedrehte Achse

Doch zurück zum Agriturismo. Eingerichtet wurde er in einer alten Scheune, deren frühere Architektur trotz Umnutzung noch erkennbar ist. Eine Reihe von Pfeilern aus Ziegelmauerwerk flankieren an den Längsseiten des schlichten Baukörpers Flächen aus Holzfurnier, in die größere und kleinere Fenster eingebunden sind – „frei“ wirkt ihre Anordnung aber nur, wenn man das Gebäude von außen sieht; im Inneren erklären sich ihre Position und Dimension schnell. Ursprünglich um einige Achsen länger als heute, wie sich einer Darstellung aus dem 18. Jahrhundert entnehmen lässt, und zwischen den Pfeilern offen, diente das Gebäude anfangs wohl dem Trocknen von Hanf. In den letzten Jahrzehnten waren mehrere Nutzungen in dem zweieinhalbgeschossigen Baukörper untergebracht: unten Ställe, darüber eine Wohnung und Speicherraum. Erschlossen wurden die drei Bereiche über einen Mittelflur in Gebäudelängsrichtung; der Eingang befand sich in der westlichen Giebelwand. Im Erdgeschoss verunklarten kleinere Anbauten, die als Geräteschuppen dienten, die Kubatur.

Als erster Eingriff der Umnutzung wurden diese Anbauten abgerissen zugunsten eines neuen, langgestreckten, minimalistisch gestalteten Eingeschossers an der östlichen Grundstücksgrenze; in ihm haben die Nebenräume des Agriturismo Platz gefunden. Das Hauptgebäude selbst wurde neu aufgeteilt. Verschwunden ist der Mittelflur, und der alte Eingang dient jetzt nur noch der direkten Verbindung von Küche und Terrasse. Der Haupteingang liegt heute auf der Nordseite. An den großzügigen Eingangsbereich in der Gebäudequerachse grenzt linker Hand der Speiseraum im ehemaligen Stall mit seinen ins 19. Jahrhundert datierenden Ziegelpfeilern und -kappengewölben, rechter Hand ein mittig im Grundriss platzierter Körper aus Eichenholz, der an einen übergroßen Einbauschrank erinnert und in dem sich Küche und Nebenräume verbergen. Im Obergeschoss befinden sich die vier Gästezimmer und ein großer, bis hinauf zum Dachstuhl offener Saal, der für Feste und Veranstaltungen genutzt werden kann; über den Gästezimmern schließlich liegen die Wohnräume des Bauherrn, der das Anwesen auch bewirtschaftet. Die neue Treppe, im Erdgeschoss von blockhafter Wirkung, löst sich von Geschoss zu Geschoss allmählich ins Leiterartige auf.
 
Die Tatami-Fassade
Die heute anzutreffende „Urbanität“ der Landschaft, wie sie mit den technischen Veränderungen der landwirtschaftlichen Produktion einerseits, mit der Wiederbelebung von weitgehend verlassenen Dörfern durch Städter, die nach Authentizität und Dinglichkeit suchen, andererseits gleich doppelt in Erscheinung tritt, scheint im Agriturismo „Principessa Pio“ schon wegen der Besonderheit der Lage zusammenzufallen. So ist die Absicht der Architekten verständlich, die Beziehung von Innen und Außen zu stärken; die geschlossene Erscheinung des Gebäudes zu öffnen, ohne seinen Charakter vollends zu verwandeln. Die Felder zwischen den Pfeilern wurden dazu mit Holzfurniertafeln gestaltet, die eine Art „vertikales Tatami-Muster“ bilden, wie die Architekten es nennen, und die zum Teil als Klappläden von dahinter angeordneten Fenstern dienen. Geöffnet lassen sie in größeren Räumen an über die Wand verteilte Landschaftsbilder denken, in kleineren inszenieren sie auf die Möblierung bezogene Blicke: vom Bett etwa in die Krone eines Baumes im Garten oder über das Grundstück hinweg bis zur Allee auf der Stadtbefestigung. Nah und fern im Auge, lässt sich über Start und Ziel, über Sinn und Zweck des Reisens bestens nachdenken, was dazu verführen kann, nach einem vorzeitigen Erwachen flugs zu einem frühmorgendlichen Spaziergang durch das still daliegende Ferrara aufzubrechen – eine Architektur für Ankunft und Aufbruch gleichermaßen.



Fakten
Architekten MAP Studio, Venedig, Francesco Magnani, Traudy Pelzel
aus Bauwelt 42.2012
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