Bauwelt

„Obwohl sie Geschichte fortschrieben, schockierten diese Bauten“

Interview mit Adam Caruso

Text: Fischer, Florian, München

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Reliance Building
Foto: Florian Fischer

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Reliance Building

Foto: Florian Fischer


„Obwohl sie Geschichte fortschrieben, schockierten diese Bauten“

Interview mit Adam Caruso

Text: Fischer, Florian, München

Adam Caruso über seine Vorbilder aus den beiden „heroischen Phasen“ der Hochhausarchitektur in Chicago, von Le Baron Jenny und Sullivan bis zu Mies, und warum er selbst in seiner Praxis als Architekt immer eklektizistischer wird
Die Bauwelt zeigt Zeichnungen von 16 herausragenden Hochhäusern der Chicagoer Schule von 1879 bis 1971. Wie konnte es in Chicago gerade in der Phase nach dem großen Brand von 1871 gelingen, auf die rigiden Bedingungen der Zeit mit einer äußerst künstlerischen Haltung zu
reagieren? Und weiter gefragt: Was können wir von Chicago heute lernen?
Es wird ja gern behauptet, dass Louis Sullivan – würde er heute leben – frei geformte, parametrische Gebäude entwerfen würde – aus Glas und Membranen. Und dann gibt es Hans Kollhoff, der die Ansicht vertritt, dass Mies, wenn er heute tätig wäre, steinerne Gebäude realisieren würde. Was aus seinem Ansatz geworden ist, würde Mies derart irritieren, dass er auf der Suche nach dem Wesenskern eines Klassizismus vermutlich eher in Stein bauen würde. Ich weiß nicht, welcher Position ich zustimmen soll. Aber die Behauptung, dass Sullivan heute parametrisch entwerfen würde, setzt doch voraus, dass dieser Konzeption eine radikale Haltung zugrunde liegt – was man bezweifeln kann.
Kann man Sullivan wirklich als radikalen Architekten bezeichnen? Er war doch sehr pragmatisch. Seine Radikalität lag allenfalls auf einer zweiten Ebene, die vorhandenen Bedingungen mit allen Mitteln für die Architektur nutzbar zu machen.
Aber das ist doch seit jeher die Grundlage der Architektur! Einzig die Moderne dachte auf eine sehr naive Art und Weise, dass Architektur ein Werkzeug für den sozialen Wandel sein könnte. Das war sie aber nie. In Chicago gab es damals ein großes, ein formales Einverständnis der wichtigsten Akteure – allen voran Sullivan und Root, die, radikal oder nicht, mit ihrer Architektur wirkliche Kunst betrieben. Eine Kunst des Augenblicks: Es wurde damals unglaublich schnell
und viel entworfen – es zählte nur der Superlativ. Mich hat das Chicago Sullivans immer auch an Venedig und die dortige Idee des Gebauten mit all den widrigen Ausgangsbedingungen, dem vie-len Wasser, dem schrecklichen Baugrund, erinnert. Diesen Bedingungen wurde dann die Typologie des Venezianischen Palazzos entgegengestellt – eine Art kontradiktorisches Ideal. In Chicago verhält es sich ähnlich mit dem berühmten Loop. Auch hier hat man den Eindruck, dass die enormen ökonomischen Kräfte der Entstehungszeit überall spürbar sind und trotzdem eine Architektur auf höchstem Niveau nicht verhindert haben. Obwohl sie die Architekturgeschichte Chicagos wie selbstverständlich fortführten, haben diese Bauten damals schockiert. Das hing einfach mit ihrer Größe zusammen und der gleichzeitig ex­trem feinen Durcharbeitung. Verglichen mit den massiv errichteten, steinernen Gebäuden erzeugten sie den Eindruck enormer Leichtigkeit.
Ist dieser Umbruch, der in Chicago in den ersten 20 Jahren nach 1871 zu beobachten ist, auch mit der Situation in anderen Großstädten zu vergleichen? Wie sieht es aus mit der europäischen Gründerzeit, zum Beispiel in Wien?
Die Gründerzeit basierte unter städtebaulichen Gesichtspunkten auf einer wirklich aufregenden Idee. Aber sie tendierte doch sehr dazu, historisierend zu sein. Diese Architektur erzeugt in der Tat wirkliche Stadt. Aber sie wurde, wie etwa in Wien – auch in hohem Maße kritisiert. Verglichen mit Chicago könnte man bereits ein erstes Schwinden der Kräfte konstatieren. Chicago hingegen war im 19. Jahrhundert nicht nur von einem exponentiellen Wachstum geprägt, es war einfach eine unglaublich vitale Stadt.
In der Gründerzeit war, zugespitzt formuliert, das einzelne Haus nicht so wichtig. Es diente primär dazu, Stadtraum zu bauen. In Chicago hingegen wird gewissermaßen eine Brücke geschlagen zwischen der städtebaulichen Regel und dem Gebäude als einzelnem Objekt.
Einverstanden, aber die Hochhäuser in Chicago stehen doch in Verbindung zueinander. Sie besitzen eine gemeinsame Kontinuität, sowohl typologisch als auch ideel. Das hat nicht zuletzt mit den Architekten zu tun. Es gab diese Gruppe von Architekten, Le Baron Jenny, Sullivan, Root, Burnham, Holabird und Roche, die alle auf einem unglaublich hohen Niveau gearbeitet haben. Und auf der anderen Seite die Kontinuität der vergleichsweise harten Auftraggeber. Keiner von ihnen wollte zu viel Geld ausgeben. Keiner von ihnen wollte in Stein bauen oder den Stein künstlerisch bearbeiten. Was sie aber alle wollten: schneller und billiger bauen. Die Gebäude, die hier entstanden, waren samt und sonders „money making buildings“.
Das war die Situation mit der die Architekten zurecht kommen mussten. Und sie kamen in einer bewundernswerten Weise zurecht. Wenn sie etwa Terracotta für die äußere Verkleidung verwendet haben – eigentlich ja nur ein Material für den Brandschutz – dann bearbeitete man es so akribisch, dass es am Ende zu diesem unglaublichen Fassadenmaterial wurde, wie wir es heute etwa noch am Reliance Building bewundern können.
All dies geschah auf der Basis eines völlig banalen Programms, der neuen Typologie des großen Bürogebäudes. Was den Fall Chicago so außergewöhnlich macht war der Umstand, dass es den Architekten gelungen ist, den neuen Maßstab in erster Linie als architektonische Frage aufzufassen und nicht als eine technische. Sullivan sagt das in seinen Texten ja auch unmissverständlich. Es ist umso ärgerlicher, dass die von Sullivan geprägte Redewendung „form follows function“ in der Folge dann so absichtlich missbraucht und auch missverstanden wurde.
Der Begriff der Funktion ist bei Sullivan umfassender zu verstehen, mehr im Sinne von etwas Lebendigem, Organischem. Andrerseits hat Sullivans Partner, Dankmar Adler, das schlichter gesehen und eher den richtigen Ausdruck der neuen Technologien anvisiert.
Sullivan war in seiner Position absolut eindeutig: Der Nutzen und die Funktion in der Architektur sind von Anfang an gegeben. Aber erst der Architekt macht daraus Architektur. Das geht natürlich nicht von selbst. Sullivan diente da der Bezug zum Organischen als Grundlage eines umfassenden intellektuellen Konstruktes, das wiederum Grundlage für seine Architektur war. Adler hingegen war mehr ein Bauingenieur, ein sehr guter wohlgemerkt. John Wellborn
Root zum Beispiel (siehe Seite 25) war auf Augen- höhe mit Sullivan. Root konnte Deutsch und übersetzte etwa Auszüge aus Gottfrieds Sempers theo­retischem Werk – ein schönes Beispiel dafür, dass viele Themen, mit denen sich die Architekten in Chicago auseinandersetzten, ihre Wurzeln in der alten Welt hatten.
In welcher Beziehung steht dann die erste „heroische“ Generation, also Sullivan und Root zur zweiten heroischen Generation nach dem Krieg, zu Mies und seinen Schülern? Kann man im Erscheinen von Mies eine Art Renaissance der ersten Chicagoer Schule sehen?
Ja und nein. Mies war natürlich prägend. Im Gegensatz zu Sullivan hat er fast nichts geschrieben. Er entwarf als Künstler. Darin liegt in der Tat eine direkte Verbindung zu Sullivan. Er war genauso interessiert am Bauen selbst als einer architektonischen Disziplin – das ist wichtig. Was mir an Mies gefällt ist seine Verbindung zum Klassizismus. Diese ist natürlich auch „rhetorisch“ zu verstehen. Und sie zeigt sich im eigentlichen Tun. Das gibt Mies Häusern ihre enorme Kraft. Mies war immer dazu fähig, aus der Kon­struktion, dem Material und dem Maßstab diese Kraft zu schöpfen. Und er tat das interessanterweise vollkommen unsystematisch – er benutzte einfach seine Augen, um die richtigen Propor­tionen zu finden. Er arbeitete wirklich wie ein Künstler, und die Mittel und Materialien waren ebenso pragmatisch wie bei Sullivan.
Es gibt ja auch eine Art anekdotische Gemeinsamkeit zwischen den beiden. Denn die Slogans „form follows function“ und „less is more“ stiften eigentlich mehr Verwirrung, als dass sie die Essenz ihrer Werke veranschaulichen.
Ich denke, da gibt es einen Unterschied: Sullivan machte diese Äußerung im Kontext eines transzendentalen Diskurses. Es geht ihm dabei um die organische Form. Es ist also der Kern einer Idee, die er entwickelt und ausarbeitet. Bei Mies ist es anders. Er war einfach froh, dass er mit „less is more“ ein hintergründiges Statement hatte. Für ihn ging es darum, nach der Essenz der Dinge zu suchen, die wiederum in einer Art hoch konzentrierter Form zu finden ist. In dem Sinne wie wir es im Parthenon oder bei Schinkel finden, wo es wirklich nichts mit einem buchstäblichen „Weniger“ zu tun hat. Ganz im Gegenteil: Diese Form des Klassizismus und seine antiken Vorbilder sind äußerst komplex. Es geht um formale Verdichtung und Zuspitzung. Das trifft zwar irgendwie auch auf Sullivan zu, aber er hat diese Zuspitzung nicht so intensiv betrieben wie Mies sie betrieb. Aber er spielte damit, so wie er etwa beim Guaranty oder beim Wainright Building die Fassade organisierte. Auch bei den Ornamenten, die Sullivan zeichnete, zeigt sich diese Form der Komplexität. Vielleicht ist diese Komplexi-tät eine Sackgasse – aber trotzdem oder gerade deswegen schauen wir uns diese Dinge so genau an. Und deswegen werden wir in unserer eigenen Praxis als Architekten auch immer eklektizistischer.
Aber kann die Antwort auf die Frage „What can we learn from Chicago today?“ lauten: Ornamente? Zeigt uns das Beispiel Chicago nicht neben einem Buch voller Bilder auch ein Buch voller Regeln, aus denen man die entsprechenden methodischen Referenzen entnehmen könnte?
Für mich handelt es sich schon um Bilder. Aber für mich tragen diese „Bilder“ eben nicht nur die Information in sich, wie ein großes Haus aussieht. Sondern sie sprechen auch darüber, wie es sich anfühlt, welcher Art seine Präsenz ist, welche Beziehung es zur gesellschaftlichen Situation und zur Umgebung hat. Es geht doch darum, eine Balance in ein Bürogebäude zu bringen: zwischen den berechtigten kommerziellen Interessen des Auftraggebers auf der einen Seite und den Interessen der Stadt drum herum auf der anderen Seite. Das ist es, was uns Chicago zeigt: dass dieses Spannungsverhältnis nicht zwangsläufig konfliktreich sein muss – im Gegensatz etwa zum Beispiel Manhattan. Auch heute stehen Bürogebäude fast immer wie große Vakuen in der Stadt. Sie unterliegen einer Art konzeptionellem Isolationismus. Sie versuchen, ihre Urheber sichtbar zu machen. Aber am Ende ist dort nichts als Leere.
Fakten
Architekten Caruso, Adam, London
aus Bauwelt 40.2013
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