Bauwelt

Bibliothek in Sint-Martens-Latem


OFFICE Kersten Geers David Van Severen quadrieren den Kreis: Ihre kleine Bibliothek bei Gent verschneidet Grundformen – Zylinder, Rechteck, Satteldach – zu einem immateriell anmutenden Bau.


Text: De Mey, Louis, Gent


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    Bücher am Hof bietet hinter „Spiegeltüren“ die neue Bibliothek für Sint-Martens-Latem von OFFICE.
    Foto: Bas Princen

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    Bücher am Hof bietet hinter „Spiegeltüren“ die neue Bibliothek für Sint-Martens-Latem von OFFICE.

    Foto: Bas Princen

Im mondänen Sint-Martens-Latem wurde im Herbst 2023 ein neues polyvalentes Gebäude eröffnet, das unter anderem die örtliche Bibliothek beherbergt. Das ebenso schlichte wie widerspenstige Bauwerk hat OFFICE Kersten Geers David Van Severen im Rahmen eines offenen Realisierungswettbewerbs im Jahr 2016 entworfen. Der Entwurf ist sowohl ortspezifisch als auch generisch. Er bezieht sich explizit auf den Kontext und sein Programm, jedoch reiht sich auch schlüssig ein ins Werk von OFFICE.
Das neue Volumen ist perfekt kreisförmig und hat keine explizite Vorder- oder Rückseite. Stattdessen ist die Fassade in gewisser Weise auf allen Seiten identisch. Der runde Grundriss wird paradoxerweise mit einem Satteldach abgeschlossen. So verschmilzt eine abstrakte Grundrissform mit einer fast volkstümlichen und kontextuellen Geste zu einem komplexen Ganzen, das vage Assoziationen an ein Festzelt weckt. Aus dem runden Volumen ist ein großer rechteckiger Innenhof herausgeschnitten. Dieser geschlossene Lesegarten organisiert im Inneren mühelos die verschiedenen Programmteile. Der Außenraum bringt außerdem reichlich Licht in das eher geschlossene Volumen und fördert die Sichtbeziehungen zwischen den verschiedenen Räumen.
Im Lesehof steht ein Kunstwerk von Richard Venlet: ein rundes Betonvolumen. Es bildet einen zentralen Punkt in dem geschlossenen Außenraum und stellt eine Rückbindung zur Hülle des Gebäudes her. Das runde Betonelement – Sitzbank, Sockel, Podium – trägt Worte von Cicero, die so viel bedeuten wie: „Wenn man einen Garten in der Bibliothek hat, fehlt nichts“. Damit bekommt der Entwurf eine Bedeutung aus dem Gebäudeinneren heraus.
Im Grundriss gibt der Innenhof dem Kreis eine Richtung, indem eine seiner Längsseiten auf der Mittellinie des Kreises liegt. Der Eingang zur Bibliothek steht senkrecht auf dieser Linie. Man betritt sie also unter der Firstlinie des Daches, wo der Innenraum am höchsten ist und so als öffentlicher Raum wirkt. Die Konstruktion der gebogenen Außenhülle und der geraden Wände des Innenhofs ist aus Schichtholzstützen. Im Innenhof bilden diese die Pfosten-Riegel-Fassade. An der Außenfassade bilden sie gleichzeitig die vertikale Struktur der Bücherregale. Angrenzend an den Innenhof befindet sich ein identisch rechteckiges Volumen, das eher massiv und geschlossen ist. Hier sind die Nebenräume untergebracht. Auf dieser Seite ist auch ein Viertel des Kreises ausgespart – ein Raum, der zur angrenzenden Grundschule gehört.
Im Wettbewerbsvorschlag war das Volumen mit einer Fassade aus rotem Ziegelmauerwerk mit gelber Holzkonstruktion und einem Dach aus Wellblech angedacht. Auf diese Weise brachte der Entwurf einen Hauch von „Pop“ in den ländlichen Vorort. Die realisierte Version ist jedoch weicher und neutraler, mit einer weiß verputzten Außenhülle und unauffälligen Zimmererarbei­­ten. Die Ausarbeitung sorgte auch für eine komplexere und gleichzeitig reduziertere Kubatur. Die nüchterne Verkleidung des Volumens hebt zudem die spärlichen Fenster hervor, hinter denen sich die Bücherregale fortsetzen, als subtiles Aushängeschild für die Hauptfunktion des Gebäudes.
Neben diesem starken Motiv der den Raum strukturierenden Bücherregale – das auch in der Fakultätsbibliothek für Ingenieurswissenschaften der Universität Gent und in der Buchhandlung für das Palais de Tokyo zu finden ist – ist die räumliche Erscheinung des Bibliotheksvolumens im Gesamtwerk der Architekten von besonderer Bedeutung. Die klare und autonome Figur des Kreises steht in scharfem Kontrast zu ihrer Umgebung, ebenso wie bei den Entwürfen für den Erweiterungsbau der Stockholmer Stadtbibliothek in der eher dichten Umgebung des Stadtzentrums oder bei dem Solo House, einer Villa in einer weiten Wüstenebene. Diese wiederkehrenden Motive zeigen, wie die Praxis nicht nur auf Ideen aufbaut und diese weiterentwickelt, sondern auch, wie reale Projekte eine Form der typologischen Forschung und des Experimentierens beinhalten können.
Der Wettbewerbsentwurf für diese festliche, aber angemessen beschauliche, introvertierte Bibliothek war bereits in Form eines Modells in Composite Presence auf der Biennale von Venedig 2021 zu sehen. Inmitten der hypothetischen Collage-Landschaft des belgischen Pavillons von Bovenbouw Architectuur wurde der runde Entwurf – gewissermaßen unpassend – in einem Innenbereich eines Baublocks platziert. Dieser Eingriff zeigt in hohem Maße die Willkürlichkeit dieses architektonischen Objekts, aber auch seine Widerstandsfähigkeit. Wie beim Entwurf für die Stockholmer Stadtbibliothek scheint der Baukörper hier ebenso respektvoll mit seiner Umgebung umzugehen, wie er gleichzeitig seine autonome Existenzberechtigung mit Nachdruck einzufordern versteht. Neben einem beson­deren öffentlichen Raum mit ausgewogener Monumentalität ist der Entwurf somit ein starkes räumliches (und sogar städtisches!) Objekt in der parzellierten Grünanlage von Sint-Martens-Latem.
Der Text erschien auf Niederländisch im zweimonatlich herausgegebenen belgischen Magazin A+ 306 (Building for Culture), Februar 2024. Übersetzung: Gaby Heijltjes



Fakten
Architekten OFFICE, Brüssel
Adresse Latemstraat 78, 9830 Sint-Martens-Latem, Belgien


aus Bauwelt 9.2025
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