Bauwelt

Berlin und seine Bauten | Teil I: Städtebau

Text: Hoffmann-Axthelm, Dieter, Berlin

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Berlin und seine Bauten | Teil I: Städtebau

Text: Hoffmann-Axthelm, Dieter, Berlin

Als Ernst Heinrich, der große Berliner Baugeschichtler, 1964 den ersten Band der von ihm seit 1956 vorbereiteten Neubearbeitung von „Berlin und seine Bauten“ vorlegte – es handelte sich um Teil II, Rechtsgrundlagen und Stadtentwicklung –, waren bis auf den ersten Band alle weiteren Bände schon in Bearbeitung, und ein Ende des Unternehmens schien greifbar, war doch der Zeitraum „von 1896 bis zum Zeitpunkt der Herausgabe“ vorgesehen. Immerhin sah auch Klaus-Konrad Weber, der ihm als Schriftleiter folgte, 1971 noch die Beendigung innerhalb des gerade angefangenen Jahrzehnts vor. Seitdem verspäteten sich nicht nur die Bände, sie wuchsen allmählich auch in eine andere Buchdimension und zugleich in eine andere Zeit hinein.
Noch einmal ganz anders gilt dies für den jetzt erschienenen Band I. Schon vom Format her steigt er endgültig aus der bisherigen Reihe aus (und passt damit kaum noch in ein Bücherregal, vom Gewicht zu schweigen). Aber auch im Layout: Verglichen mit der schlanken Zweispaltigkeit der frühen Bände ha­ben wir hier ein Breitwandformat, das einerseits Zweispaltigkeit plus einer Spalte für Bilderklärungen und kleinere Abbildungen erlaubt, andererseits die großformatige Wiedergabe querrechteckiger Pläne (und welcher Berlin-Plan, der sich ernst nähme, wäre das nicht).
Es ist aber heute nicht nur alles eben viel prächtiger zu machen, so man die Sponsoren dafür fin-det (eine längere Liste im Anhang zeigt, wo man sie fand). Vielmehr, es kommt so, und vor allem, der entscheidende Umstand zur Darstellung, dass hier etwas wirklich historisch geworden ist, dass zwischen 1964 und 2009 in der Tat ein Zeitbruch stattgefunden hat. Dieser Bruch ist mit dem Jahre 1975, also der im Buch selbst thematisierten Zeitschwelle, aber nur unzureichend bezeichnet. Wenn inzwischen eine Tür zwischen der Gegenwart und dem 20. Jahrhundert zugefallen ist, welches Gegenstand dieses Bandes ist, dann liegt der Schnittpunkt wohl eher in den neunziger Jahren. Es geht um mehr als einen Wandel der Architekturauffassung – man lebt in ei-ner Zeit, die andere Vorannahmen hat und andere Ängste kennt.
Auf das „Berlin und seine Bauten“ von 1964 ff. blickt man heute also unweigerlich als etwas Historisches zurück. Die Frage des Anschlusses des Spätlings Teil I an das übrige Werk war also von den Autoren im Rahmen des alten Gefüges gar nicht mehr zu beantworten. Drei der Autoren gehören gerade noch zur Schülergeneration Ernst Heinrichs, einer vertritt bereits die dritte Generation. Anders gesagt, wir haben hier eine Reflexion auf das städtebauliche Berlin des 20. Jahrhunderts vor uns, die in ihrem Ausgangspunkt ein ganzes Halbjahrhundert weiter ist als der Ausgangspunkt des 1956 gestarteten Unternehmens.
Die inhaltliche Verbindung zu den alten Bänden ist denn auch denkbar locker, sie besteht im Grunde nur in der formalen Einreihung in das damals auf zehn Bände angelegte Schema und die fortlaufende Begleitfunktion des AIV, alles andere, einschließlich Verlag, hat gewechselt. So gibt es denn auch jede Menge Überlappungen mit den älteren Bänden, wie schon die Autoren im Vorwort zugeben. Einerseits haben sie einfach die besseren Abbildungen und genaueren Quellen, andererseits sehen sie den Stoff auch ausreichend genug mit anderen Augen, um ihn noch einmal auf ihre Weise vorzutragen.
Das ist Vorzug und Schwäche zugleich. Vorzug, weil ein Sachstand erstmals geschlossen vorgelegt wird, welchen die Generation der Autoren sich allererst selbst erarbeitet hat. Schwäche, weil damit endgültig der Anschluss an die frühe, fast technische Knappheit der Aussageform der ersten Bände (und erst recht der Vorgänger von 1877 und 1896) verloren geht zugunsten kritischerer, das Fachlich-Städtebauliche zugleich kulturell erfassender Reflexion. Damit tritt Entfernung ein: Die Nachrichten kommen – zumindest gilt das für Teil I und II – endgültig aus der Plankammer und nicht mehr aus der Erfahrung des Büros. Wie immer man zu diesem unvermeidlichen Fortschritt der Dinge stehen mag, klar ist, dass das die Darstellungsachse verschiebt: Die institutionellen Umstände treten in den Hintergrund, die archivalisch greifbaren Ergebnisse in den Vordergrund.
Generationsspezifisch ist aber auch schon der Titel des Bandes. 1964 wurde Teil I, gleichsam hilfsweise, mit einer Begriffsreihung angekündigt: „Zusammenfassung der baugeschichtlichen Vorgänge, Verwaltungsgeschichte, Denkmalpflege“; für jeden der drei Bereiche wäre ein Autor zuständig gewesen. Der jetzige Band hat diese Aufgabenstellung entschieden hinter sich gelassen zugunsten einer integrierten Sicht, die sich nicht sachlich, sondern lediglich chronologisch aufgliedert, wobei die Verwal-
tungsgeschichte und die Denkmalpflege mehr oder minder fortfallen und die baugeschichtlichen Vorgänge unter den Kampfbegriff der postmodernen Wende von 1975 gestellt sind – Städtebau. Damit ist noch nicht gesagt, dass dieser Zugriff unangemessen sei. Im Gegenteil, er ist seinem Material noch zu sehr angemessen und steht ihm insofern noch nicht kritisch genug gegenüber. Es ist in der Tat die bestimmende Achse des Bandes, dass, von Bruno Möhring und Hermann Jansen über Albert Speer bis zu den Entwürfen für Potsdamer- und Alexanderplatz Anfang der 90er Jahre, Stadtplanung sich zunehmend städtebaulich darstellt und Architekten-sache wird, d.h. in Bildern realisierter Stadt zustande kommt, welche so viel Architektur zeigen, wie sie Planung anschaulich machen sollen – bis es am Ende nur noch um das mit Stadt verwechselte Architekturbild geht und die Stadtplanung auf der Strecke bleibt. Dieser Prozess wird aber im Buch nicht ausdrücklich reflektiert. Damit entschwindet jene Spannung zwischen Bildproduktion und Ermächtigungsfantasien aus dem Blick, welche die erlittenen Stadtzerstörungen ausreichend erklären würde. Die Frage, warum der Weg über die versuchte – und letztlich gescheiterte – Auflösung der Stadt gerade in Berlin so fatal unumgänglich war, stellt sich unweigerlich, und die Antwort der Autoren, man hätte eben von vornherein eine andere Stadt und eine andere Lebensweise der Menschen gewollt, ist so richtig, wie sie voraussetzt, was zu erklären wäre: warum es gerade in Berlin zu einer solchen Zuspitzung kam.
Epoche macht der Band in jedem Fall. Er macht es einfach dadurch, dass er die erste Gesamtdarstellung des Berliner 20. Jahrhunderts ist, die sich, nach langen Wirren, angesichts der Evidenz der seit vierzig Jahren angehäuften Forschungsergebnisse, aus dem Denkkorsett der Ideologien von 1900 befreit hat – der Hobrecht-Verteufelung, der Ideologie der Miets- kaserne, der Verwechslung von Lohnpolitik und Wohnungszuständen, der konservativen Stadtfeindschaft. Man hat, mit einem Wort, Hegemann hinter sich gelassen.
Damit wird der gesamte Zeitraum von 1918 bis zum Bruch von 1975 – dem Zeitpunkt der Beendigung des Großsiedlungsbaus in Berlin West – zu einer Parenthese, die das gesamte Vorhaben gliedert. Einmal die chronologische Aufgliederung zugrunde gelegt, wurde die Arbeitsteilung – zugleich die Ver-teilung des Stoffes auf vier Autoren – nicht allgemeinhistorisch, also nach politischen Regimes, sondern bauhistorisch vorgenommen. So behandelt zwar Harald Bodenschatz ein weiteres Mal, aber mit zuvor noch nicht erreichter Problembreite und Quellenfülle, die Jahre 1890–1918, und Niels Gutschow und Jörn Düwel bearbeiteten ungeachtet der politischen Zäsu­ren den nur baugeschichtlich einigermaßen plausiblen Zeitraum von 1918 bis 1975 (!), so dass der restliche Zeitraum, über den Wendepunkt 1989 hinweg, an Hans Stimmann fiel.
Für den so entstehenden Hauptteil des Buches hat das bedenkliche Folgen. So logisch die unter den Autoren vereinbarte Systematik sein mag, den Stoff durch ein geographisches Vorgehen von innen nach außen binnenzugliedern, funktioniert das doch nur in dem überschaubaren Zeitraum des Abschnitts Bodenschatz zufriedenstellend. Im zeitgeschichtlichen Großraum des zweiten Abschnitts dagegen gerät der Leser völlig aus dem Takt, weil jeder Unterabschnitt, nachdem man sich gerade bis in die 70er Jahre vorgearbeitet hat, wieder in den 20er Jahren neu ansetzt. Entsprechend dünn bleibt der historische Erzählfaden. So gewinnt man den Eindruck, als hätte es in den 30er Jahren nur Speer gegeben, was den Tatsachen nicht entspricht. Ähnlich die ausführlichen Betrachtungen zur Wende der 70er Jahre: Wer sie miterlebt hat, weiß, wie viele Quellen und wie viele Autoren dieser Umbruch in Baupolitik und öffentlichem Bewusstsein hatte. Nicht zuletzt gehörte das umfangreiche Kapitel des Widerstands gegen den innerstädtischen Autobahnbau dazu. Bei Gutschow/Düwel verengt sich der Blick allzu sehr auf die Architektur, und als entscheidender Schritt erscheint dann der Kleihues-Block am Vinetaplatz, der hier hoffnungslos überschätzt ist – als wäre die Moderne gebrochen, wenn man die Siedlungszeile wieder zu einem Rechteck zusammenfügt. Wie sich bis heute an den sozialen Folgen zeigt, hatte sich strukturell an der Siedlungstypologie nichts geändert.
Diese Verengung ist zum Teil auch Folge der unglücklich gewählten Schnittpunktsetzung. Der Trennstrich 1975 – das „Europäische Jahr des Denkmalschutzes“ – mag unter dem Gesichtspunkt Städtebau und Zentrumsentwicklung logisch sein, auf die ganze Breite der Entwicklung gesehen aber ist er nicht überzeugend. Das macht sich nicht zuletzt da unangenehm bemerkbar, wo er die Darstellung so einschneidender Handlungsbereiche wie die Großsiedlungen einerseits, der funktional zugehörigen innerstädtische Sanierung andererseits, willkürlich zerschneidet und auf verschiedene Autoren aufteilt. Bei Gutschow/Düwel bleibt man mitten im Spannungsbogen hängen, und wenn Stimmann schließlich in seinem Teil an der von der Systematik des Werks vorgesehenen Stelle darauf eingeht, hat der Leser jeden Kontakt mit dem Vorangegangenen verloren, da er sich gerade durch fast 50 Seiten Zentrumsbebauung (1975–2008) durchgearbeitet hat. In dieser Lücke verschwindet einiges zur Sache Zugehöriges, sowohl was die recht lustlos und summarisch verhandelten Ostberliner Großsiedlungen betrifft, als auch den – letztlich allein entscheidenden – Westberliner wie Ostberliner Widerstand „von unten“ gegen die Kahlschlagsanierung. Der große Bogen geht in der Verteilung auf verschiedene Abschnitte in jedem Fall verloren.
Selbstverständlich haben es die Bearbeiter desto schwerer, je näher sie der Gegenwart kommen. Das gilt schon für Gutschow und Düwel gegenüber Bodenschatz, es gilt in höchstem Maße für Stimmanns Teil. So wundert es nicht, dass dieser letzte Abschnitt, soweit er die Zeit nach 1990 betrifft, den Leser mit einem Paradox konfrontiert: Einerseits ist Stimmann der Autor, der am genauesten weiß, wie die tatsächlichen institutionellen und politischen Rahmenbedingungen aussahen, und er vermag sie gewohnt kritisch bis sarkastisch zu kommentieren; andererseits, da er 15 Jahre lang der Hauptverantwortliche für genau das war, was er beschreibt, verbot sich gerade deshalb ein „ich“, vielmehr mag ein möglichstes Maß an Distanz angezeigt geschienen haben. Und so gewinnt, was in der Wirklichkeit Gegenstand uferloser, oft genug hasserfüllter Kontroversen war, eine Art normativer Anonymität: Der Senat macht... – und das ist eben nur Scheinobjektivität.
Wie ist nun das Gesamtbild, das der Band von der Berliner Stadtentwicklung im 20. Jahrhundert hinterlässt? Gerechterweise muss man hier am Maßstab Handbuch und an dem durch die vorangegangenen Bände des historischen Gesamtwerks „Berlin und seine Bauten“ gegebenen Rahmen messen und nicht an einem emphatischen Bewusstsein von der unvergleichlichen Gewaltorgie, die dieses Berliner Jahrhundert darstellt. Hat man im Blick, wie umstritten eine solche Sicht in Fachkreisen nach wie vor wäre; wie gering entwickelt das Problembewusstsein der Architekten von den Aderlässen ist, welche jene Geschichte ihnen als Preis ihrer Demiurgenrolle abverlangte; wie kaum überwunden noch heute die Rede von der angeblichen Mietskasernenstadt ist; wie ungebrochen die Stadtzerstörung durch Verkehrsplanung bzw. unterlassene Selbstkritik des einseitig automobilen Verkehrssystems weitergeht – hat man all dies im Kopf, dann ist das vorsichtig von den Selbstverständlichkeiten des 20. Jahrhunderts Abstand nehmende Bild, das die Autoren dieses Ban-des entwerfen, ein Glücksfall. Dass damit ein Standardwerk entstanden ist, das in seiner Materialfülle und Quellengenauigkeit für lange Zeit unentbehrlich sein wird, liegt dabei zu offen auf der Hand, als dass es noch ausdrücklich betont werden müsste.
Fakten
Autor / Herausgeber Harald Bodenschatz, Jörn Düwel, Niels Gutschow und Hans Stimmann
Verlag DOM publishers, Berlin
Zum Verlag
aus Bauwelt 01-02.2010

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