Bauwelt

Das FRAC Centre


Im Land der Weinbergschnecken


Text: Kabisch, Wolfgang, Paris


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    Foto: Roland Halbe

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Wie gelingt es, für eine Sammlung experimenteller Architekturmodelle und -zeichnungen mehr Aufmerksamkeit zu erheischen? In Orléans engagiert man dafür die Architekten Jakob+MacFarlane, die routiniert ihr Designprogramm zum Einsatz bringen, den Neubau „Turbulances“ nennen – aber wohl eher eine Schnecke vor Augen hatten –, und freut sich über den Rummel.
„Weg vom Zentralismus! Auch in den französischen Regionen muss es Kultur geben. Vor allem zeitgenössische Kunst“, formulierten die Politiker. Also schmiedete man Allianzen zwischen dem Staat und den einzelnen Regionalverwaltungen. Man nannte sie Fonds Régional d’Art Contaimporain (FRAC) und ließ dieser neuen Politik der Dezentralisierung ihren Lauf. Das war vor dreißig Jahren.
In Orléans (FRAC Centre) hat das funktioniert. Dort setzte man früh auf eine Spezialisierung. Frédéric Migayrou, heute im Centre Pompidou für die Architektur zuständig, machte die Beziehung zwischen der zeitgenössischen Kunst und der Architektur zum Thema, genau genommen der experimentellen Architektur seit dem Beginn der fünfziger Jahre, und legte eine Sammlung an. 300 Kunstwerke, 800 Modelle und 15.000 Entwurfszeichnungen zählt sie inzwischen. Außerdem erfand man 1999 „ArchiLab“, eine Ausstellungsreihe, die sich über die Jahre zu einem international beachteten Labor experimenteller Architektur entwickelt hat, aber unter permanenten Raum- und Finanzierungsproblemen leidet.
Inzwischen sind alle FRACs in die Jahre gekommen. Man beginnt mit Erneuerungen. Was lag näher, als bei dieser Gelegenheit in Orléans auch architektonisch ein Zeichen zu setzen? 2006 wurde ein Wettbewerb ausgelobt. Die leerstehenden Gebäude einer militärischen Versorgungseinheit sollten für eine museale Nutzung umgebaut werden und 3300 Quadratmeter Ausstellungsfläche erhalten. Gleich daneben wurde das „signal urbain“ gefordert.
Das Pariser Büro Jakob+MacFarlane gewann den dafür ausgelobten Wettbewerb. Nach den „Docks von Paris“ mit der „Cité de la Mode et du Design“ (Bauwelt 17–18.2009) und dem „Cube orange“ von Lyon von 2010 hatte man ja in letzter Zeit ausreichend Erfahrung mit „Zeichensetzungen“ gesammelt. Die Architekten überzeugten die Jury mit einer Stahl-Aluminium Konstruktion, die, vom neugestalteten Innenhof aus, den Empfang und die Erschließung der renovierten Altbauten übernimmt. Der Entwurf stammt aus dem Computer. Ausgehend von den rechtwinkligen Vorgaben der Militärarchitektur wur-de das Raster mit einem entsprechenden Programm rechnerisch verformt, dann als teils massive, teils perforierte Aluminiumscheiben auf ein dekonstruktivistisch anmutendes Stahlgerüst montiert und von Innen mit Holzplatten verkleidet. Despektierlich könnte man das Ergebnis als drei angetrunkene Kühltürme bezeichnen, die sich, aneinander gelehnt, an der alten Fassade abstützen.
„Turbulances“ haben die Architekten ihren Neubau genannt. Doch die „Ausgelassenheit“ – eine auch mögliche Übersetzung von „Turbulance“ – beschränkt sich auf die äußere Form. Ein- und Ausgang werden von groben Rohrkonstruktionen dominiert, die sich im Inneren fortsetzen und multiplizieren. Dadurch wirkt der Raum eng und überladen. Das Licht fällt durch die Öffnungen der „Kühltürme“ von oben ein. Man fühlt sich wie in einer Höhle. Die Verbindung von Alt und Neu erweist sich als ungelenke Konfrontation. Der Neubau scheint an die ehemalige Außenfassade geklebt zu sein. Schade! Die Absicht ist erkennbar, doch die große Geste verkümmert im Inneren. Erholsam ist dann die Weitläufigkeit der renovierten Substanz. Die Ausstellungsräume sind hell und funktional, für die ständige Sammlung und die Wechselausstellungen gleichermaßen geeignet.
Zur Eröffnung gibt es eine neue Ausgabe von „ArchiLab“; inzwischen der neunten. „Naturaliser l’Architecture“ nennt sie sich dieses Mal, was man als Aufforderung interpretieren kann, die Natur mit neuen Computerprogrammen stärker in die Architektur einzubeziehen. Die Forschungsergebnisse von 40 Architekten, Designern und Künstlern werden vorgestellt. Dabei geht es um die Schnittstellen zwischen digitaler Entwurfsarbeit und wissenschaftlichen Fakten aus dem Bereich der Bio- und Nanotechnologie, die in einer Simulation verdeutlicht werden. Man bekommt Einblick in die „Laborarbeit“ und die unendliche Vielfalt des Ausstellungsthemas. Zum Beispiel wird eine technische Konstruktion vorgestellt, die Salzwasser durch spezielle Filter laufen lässt. Das Salz setzt sich ab und verändert so permanent die Außenhaut des Gebäudes. Was es auch gibt: Algen, die Fassaden „bewohnen“ und deren Farben verändern, automatische Lichtfilter, Klimafilter aus Holz. Selbst Modedesign ist vertreten, Iris van Herpen greift bei ihren Entwürfen auf Erkenntnisse der Biotechnologie zurück. Die Ausstellung mündet in Gebäude- und Städtebaumodellen, deren Parameter aus der Natur stammen. Antoni Gaudi lebt! Natürlich dürfen auch Roboter nicht fehlen. Sie regeln politisch korrekt die Haustechnik oder bauen ganze Ökohäuser. Auf die „organische Kunst“ als eigenständige Sparte muss man nicht weiter eingehen. Die ausgestellten Beispiele kommen über ihren dekorativen Charakter kaum hinaus.
Vergleicht man die Exponate von „ArchiLab9“ mit den historischen Vorläufern experimenteller Architektur der siebziger Jahre, die in der Dauerausstellung gezeigt werden (z.B. Archizoom, Superstudio, Peter Cook (Archigram), Coop Himmelb(l)au), fallen zwei Aspekte auf: Es herrscht heute offenbar wieder der ungebrochene Glaube an (bio-)technische Lösungen für zivilisatorische Probleme. Und, dank neuer Materialien und komplexer Computerprogramme scheint alles machbar. Als Denkmodell und Forschungsthema hat radikale experimentelle Architektur unbestritten eine wichtige Funktion. Genauso wie die Veranstaltung „ArchiLab“, die den neuesten Entwicklungen ein einzigartiges Forum bietet. Was aber in Orléans völlig fehlt, ist eine kritische Einordnung, historisch wie aktuell. Soziale Prozesse beispielsweise werden nur am Rande erwähnt. Dem unvorbereiteten Besucher, der bereits mit offenem Mund durch den Neubau getaumelt ist, müssen deshalb große Teile der Ausstellung wie ein Kuriositätenkabinett vorkommen.



Fakten
Architekten Jakob+MacFarlane, Paris
Adresse 88 rue du Colombier 45000 Orléans


aus Bauwelt 37.2013
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