Bauwelt

Transluzenter Mehrzeller


Glaskunst-Sammlung des Toledo Museum of Art


Text: Ouroussoff, Nicolai, New York


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„Ohne einen Glaspalast/Ist das Leben eine Last“, schrieb der Dichter Paul Scheerbart vor etwa hundert Jahren. Angesichts des neuen Glas-Pavillons des Toledo Museum of Art erscheint diese Magie von Glas wieder glaubwürdig.
Der kleine Bau für die Glaskunst-Sammlung des Museums ist das Vermächtnis einer vergangenen Epoche, einer Zeit, als in den USA industrielle Produktion und kultureller Aufschwung einander bedingten. Toledo im Bundesstaat Ohio war einst ein wichtiges Zentrum der Glasverarbeitung, heute sind fast alle Fabriken geschlossen und die Glasarbeiter abgewandert. Die riesigen Glaspaneele für den Pavillon sind in Deutschland hergestellt und in China geformt worden.Gleichzeitig rührt dieses ganz und gar moderne Gebäude an starke Erinnerungen aus der Geschichte der Stadt. Mit der exquisiten Zartheit seiner elegant geschwungenen Glaswände reiht sich der Pavillon als jüngster Vertreter seiner Gattung in eine Linie ein, deren Ursprung im Spiegelsaal von Versailles liegt. Sein diskretes Understatement erinnert an Zeiten, als öffentlicheInvestitionen dem Ausdruck bürgerlichen Selbstbewusstseins galten und nicht nur Touristendollars einbringen mussten. Der Glas-Pavillon fügt sich in einen lose miteinanderverbundenen Komplex, bestehend aus Frank Gehrys Center for Visual Arts der Universität Toledo und dem Kunstmuseum in Beaux-Arts-Manier. Mit seiner zu einer Reihe ionischer Säulen ansteigenden Freitreppe ist dieser Museumsbau zugleich Tempel für die Muse und in Stein gehauene Überzeugung, dass das Leben des Arbeiters durch Kunst und Kultur überhöht würde.
Die flache, an der Horizontalen ausgerichtete Form des Neubaus fügt sich mit bemerkenswertem Feingefühl in diesen Kontext ein, als seien die Architekten darum besorgt gewesen, die bestehende Situation nicht zu stören. Von der Haupttreppe des Museums aus ist die reflektierende, in einen weichen Glasteppich eingehüllte Fassade des Pavillons im tiefen Schatten mächtiger alter Eichen kaum zu erkennen, eine Reihe stoischer viktorianischer Fassaden bildet den Hintergrund.
Je näher man kommt, desto mehr gibt das Gebäude von sich preis. Der Haupteingang ist aus der Mittelachse verschoben und liegt damit in einer Linie mit der großen Freitreppe des Museums auf der anderen Straßenseite. Von hier aus gelangt man in das Café und eine vom intensiv glühenden Orange der Schmelzöfen ausgeleuchtete Glaswerkstatt.
Das viele Glas erinnert unwillkürlich an Philip Johnsons berühmtes Glass House in New Canaan, Connecticut (1949). Hier wie dort verschwimmen die Fassaden zu einer Collage aus gespiegelten, transparenten Bildern. Beide stehen sie auf einem flachen Plateaufundament, das sie fest mit dem Boden verankert.
In beiden Fällen ist das Dach kaum mehr als eine dünne Deckelplatte, die scheinbar nur als Rahmen für das Gebäudeinnere zu dienen scheint. Doch Johnsons Meisterstück ist das Werk eines Exhibitionisten.
Die Fassade fungiert als Rahmen, die dem Besucher den etwas anrüchigen Part des Voyeurs zuweist. Als ich vor beinahe zwanzig Jahren das Haus zum ersten Mal zu Gesicht bekam, ertappte ich mich dabei, dass ich kurz vor dem Eintreten zögerte. Sachte legte mir Johnson die Hand auf den Rücken und schob mich hinein – ich fühlte mich wie Alice, die durch den Spiegel fällt.
Ganz anders der Glas-Pavillon in Toledo: ein Verwirrspiel aus Semitransparenzen. Das Innere besteht aus einer Abfolge abgerundeter gläserner Räume, die ihrerseits in einer zweiten Glashülle stecken. Der Effekt ist eine ganz eigentümlich „geschichtete“ Wahrnehmung – so erblickt man etwa im Foyer quer durch eine Flucht von Räumen die Fragmente der auf der Gebäuderückseite liegenden Rasenfläche. Drei schlichte Innenhöfe (der größte ist mit einem zarten weißen Vorhang verhängt) sind zwischen die Ausstellungsräume eingestreut, sie bilden den Rahmen für ein Stück Himmel und lassen das Licht in Kaskaden ins Innere fallen.
Das Ganze wirkt hypnotisch. Diese Wirkung wird noch verstärkt durch das rätselhafte Muster, das sich aus der Linie entlang des Stoßes von Wänden und Decke ergibt und den Besucher immer weiter in die Untiefen des Raums lockt. Hat man die Museumsräume einmal betreten, irrt das Auge an den geschwungenen Oberflächen entlang, bis es bei einem konkreten Anblick Ruhe findet: ein Kunstwerk, ein Baum draußen im Park. Letztlich aber ist es das anmutige Spiel von menschlichen Gestalten, die dem Pavillon seinen rätselhaften, ephemeren Charakter verleiht. Die doppelte Schicht Glas erzeugt einen reizenden Kontrast zwischen der deutlichen Stille in den runden Ausstellungskabinetten und den eher fluktuierenden Übergangsarealen dazwischen. Besucher, die durch diese Zwischen-Räume driften, scheinen einander flüchtig zu liebkosen, bevor sie sich an der Stelle, wo die Wände sich erneut um einen der Schauräume herum biegen, wieder voneinander lösen.
Manchmal wirken ihre Bewegungen feierlich. Dem Beobachter erschließen sich überdeutlich die unterschiedlichen Grade von Intimität und Isolation.
Auch die Kunst ist gut präsentiert. Die meisten Objekte – komplizierte Kronleuchter, römische Trinkgläser, ein mit Gold unterlegter Louis XIV.-Spiegel – sind in schlichten Vitrinen ausgestellt; sie schweben eher in den transparenten Räumen und überlassen dem Besucher die Wahl, ob er sich auf einzelne Stücke konzentriert oder unerwartete Bezüge zwischen in zwei verschiedenen Räumen ausgestellten Objekten entdeckt. Zwei weitere undurchsichtige Kabinette sind für lichtempfindliche Stücke vorgesehen. Ihr solider weißer Korpus ist eine visuelle Verankerung des Baus, der sonst vielleicht in den Äther zu entschwinden drohte.
Dass all dies so mühelos aussieht, ist ein Zeichen für die Meisterschaft der Architekten – und natürlich eine Illusion. Für das hauchdünne Dach wurde das Gros der technischen Ausstattung – Wärme, Wasser, Frischluft – in den Keller verbannt bzw. in ein Nebengebäude ausgelagert. Wasserrohre, Stromversorgung und Belüftungskanäle sind derart präzise in die Tragkonstruktion des Gebäudes gefädelt, als handele es sich um einen Silikonchip. Der Liefereingang wurde, um die Fassade nicht zu stören, unter die Erde verlegt.
Geschickt verbirgt das Gebäude seinen Charakter als komplexes Ökosystem, das in drei klimatische Zonen unterteilt ist. In den Übergangszonen wird ein Wärme-/Kühlsystem eingesetzt, um die Besucherräume vorzutemperieren und das Beschlagen der Glaswände zu verhindern. Die Glasbläser-Werkstatt, wo Künstler Kurse für Glasverarbeitung abhalten, liefert die Wärme für das Wassersystem der Heizkörper. Die Raumtemperatur in den Ausstellungsräumen selbst, die präziser reguliert werden muss, wird über einen weiteren Kreislauf gesteuert.
Die eigentliche Bedeutung des SANAA-Baus erschloss sich mir in einem leeren Raum, der auf den rückwärtigen Garten hinaus weist. Es stehen dort nur ein paar schlichte Bänke, der Raum ist als kontemplativer Ort konzipiert, ein Ort der mentalen Ruhe und Sammlung, bevor man sich erneut der Ausstellung zuwendet. Was für ein Triumph muss es für die Architekten gewesen sein, in einer Zeit, in der Museen mit Buchläden, Cafés und Museumsshops vollgestopft werden, die Kuratoren davon überzeugt zu haben, diesen Raum leer zu lassen. Zugleich zeigt sich hier, dass sich die Architekten über die Exklusivität ihrer eigenen Erfindung sehr wohl bewusst sind. Dieser Entwurf wurde nicht für den gewaltigen Touristenansturm konzipiert. Einem solchen Raum liegt die Erkenntnis zugrunde, dass in unserer heutigen Welt Leere zunehmend zu einem Luxusgut geworden ist.
Der Glaspavillon präsentiert keine Architektur der Big Message. Hier geht es um Empathie für das Menschliche. Wieder draußen angekommen, scheinen sich die Äste der Bäume sanfter zu wiegen, das Licht wirkt weicher, die Welt weniger hart. Das Entscheidende aber ist, dass man sich der Distanzen zwischen Individuen deutlicher bewusst geworden ist. Kann man einem Gebäude ein größeres Kompliment machen?
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Agnes Kloocke
Der Text erschien zuerst in der Ausgabe der New York Times vom 28.8.2006.



Fakten
Architekten Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa/SANAA, Tokio
aus Bauwelt 44.2006
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