Bauwelt

St. Gotthard Hospiz


Interview mit Paola Maranta, Quintus Miller und Jean-Luc von Aarburg


Text: Kirchengast, Albert


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    Foto: Ruedi Walti

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Im Jahr 2005 gewannen Miller & Maranta den Studienauftrag zur Umgestaltung des Alten Hospiz auf dem St.-Gotthard-Pass. In diesem Sommer, wenn die Wintersperre aufgehoben ist, erlebt es seine zweite Saison. Der Umgang mit der historischen Substanz legt den Entwurfsansatz des Basler Büros offen.
Das Hospiz fügt sich wie ein Findling in die Landschaft und zeichnet sich dabei durch gestisch-verständliche Form aus.
Paola Maranta | Für uns wirkt die nach Süden gerichtete Giebelfassade des Bauwerks so wie ein Gesicht, das Identität herstellt. Das Dach ist wie eine Mütze, die nach Norden gegen die Kälte tief herunter gezogen wurde und nach Süden, zur Wärme hin, das Antlitz frei lässt.
Es ist verblüffend, das die baulichen Eingriffe nicht sofort augenscheinlich werden.
PM | Die Gestalt des alten Hospizes hat uns fasziniert. Leider hatte das Gebäude über die Jahre und die dazugekommenen weiteren Bauten auf dem Pass an Präsenz verloren. Dass wir für das Hotel mehr Fläche brauchten, kam uns entgegen. Durch eine Aufstockung um eineinhalb Geschosse ist es uns gelungen, dem Gebäude seine Wichtigkeit innerhalb des Ensembles zurückzugeben, ohne es in seiner wesentlichen Erscheinung zu verändern.
Zwei Typologien werden dabei unter ein Dach gebracht und sollen doch lesbar bleiben. Seitlich hat man den Eindruck, vor einer kleinen Kirche zu stehen – durch Türmchen und Fallrohre, die die Fassade gliedern.
Quintus Miller | Das Alte Hospiz bestand immer schon aus diesen zwei Teilen, nur war seit dem Wiederaufbau nach dem Brand von 1905 die Lesbarkeit der Volumetrie verunklärt. Mit der Aufstockung ergab sich die Möglichkeit, mit dem großflächigen Bleidach dem Gebäude diese ambivalente Gestalt zu verleihen: Dieselbe Maßnahme fasst Sakralbau und Hotel zusammen, doch beide bleiben getrennt lesbar. Das Prinzip setzt sich in der Detaillierung fort: Der raue Putz unter der Aufstockung ist historisch, der neue darüber ist so nah an ihn herangeführt, dass der Altersunterschied nicht sichtbar wird, wenn man ihn nicht sehen will. So, wie die Fenster der Südfassade aus verschiedenen Zeiten stammen und verschiedene Gestalt haben, haben wir mit der Materialität gearbeitet – den Alterswert, die historischen Zeitschichten, kann ich mir am Gebäude erarbeiten, wenn ich will. Gleichzeitig zu die­­ser Ambivalenz versuchten wir, den Gehalt des Bauwerkes zu verdichten und mit der neuesten Schicht zu einem gültigen Ganzen zu verschmelzen.
Dem feinsinnigen Umgang mit der Südfassade scheint die Entkernung zu widersprechen.
QM | Die beim Wiederaufbau von 1905 eingebaute innere, hölzerne Struktur war über die Zeit mehrfach verändert worden und von schlechter Qualität, auch eine Ertüchtigung erschien kaum möglich. Zusammen mit der Denkmalpflege kamen wir zum Schluss, dass der Zeugenwert nicht gegeben war. Insofern hat sich ein Rückbau auf den Zustand nach dem Brand angeboten.
Jean-Luc von Aarburg | Die Bauweise, die wir für die neu eingefügten Bauteile angewendet haben, war in der Region seit dem 15. Jahrhundert verbreitet – es sind Föhntäler, die Gebäude haben immer wieder gebrannt. So wurden, um den Brandschutz zu erhöhen, Holzständerbauten mit massiven Mauern umfasst. Außerdem sind wir vor einem ganz konkre­ten Problem gestanden: Wie baut man auf über 2000 Meter Höhe, in der kurzen Zeit, die das Klima jährlich zulässt? Wir haben eine Strategie gesucht, um die Bauzeit zu verkürzen, und diese in der Typologie gefunden. Der Holzbau konnte im Tal vorfabriziert werden. Er wurde dann im entkernten Haus innerhalb von sechs Tagen als mit liegenden Bohlen ausgefachter Pfostenbau aufgerichtet, der zugleich die fertige Wandoberfläche bildet.
PM | Ein weiteres Argument für die Konstruktion war, dass wir das „Bauen in den Bergen“ thematisieren wollten: durch das Rohe, Direkte, Unverkleidete, das Fichtenholz im Innenraum mit einem Geruch, den man aus Berghütten kennt.
Solch intime, monomaterielle Innenräume findet man auch bei Peter Zumthor und Gion Caminada. Daniele Marques, der in der Jury des Wettbewerbs saß, hat schon 1994 in Bergün das Schichten alter und neuer Bauteile thematisiert.
QM | Der Ursprung des Bauwerks war aber kein Bild, sondern eine Konstruktionsmethode. Es handelt sich hier um keinen Strickbau, wie ihn Zumthor oder Caminada gemacht haben, sondern eben um einen Ständerbohlenbau, denn der Strickbau schwindet in der Höhe stark ab, die Verbindung mit dem Massivbau wäre schwierig. Bei der gewählten Bauweise tritt dieses Problem viel weniger auf. Wir haben diese angewendet, weil sie heute noch Sinn macht, nicht aus Nostalgie.
In einem Ihrer ersten Projekte spielt die Konstruktion ebenfalls eine wesentliche Rolle: Bei der Fußgängerpasserelle Werdenberg wecken Sie Erinnerungen an alte Holzbrücken.
QM | Wir haben das Hospiz zusammen mit dem Ingenieur Jürg Conzett entwickelt. Es handelt sich schließlich um einen Holzbau über fünf Geschosse, bei dem das Dach über die Stützen abgetragen wird. Er erinnert eigentlich an einen Skelettbau, denn die Stützen haben tragende Funktion, die Wände verlaufen nicht alle übereinander. Dennoch spürt man die Massivität der Holzkonstruktion und das besondere Klima im Innenraum, wenn man dort übernachtet.
PM | Die Zimmer sind nicht sehr groß. Was allerdings wich­tig war: Wenn man in ein Zimmer in den Bergen tritt, soll man aus dem Fenster sehen können – schließlich befindet man sich nicht irgendwo. Das Bett wurde in einem Alkoven untergebracht und eine Dusche angefügt. Das Zimmer selbst wirkt sehr karg und auch die wenigen Möbel, das Nachttischchen, das Bett und die Kommode, sind in Fichte gehalten. Dazu kommen schwarze Bugholzstühle und Stehleuchten von Andreas Christen aus dem Jahr 1958. Wir suchten Möbel aus, die zur Grundstimmung passen, die wir für das Bauwerk angemessen finden. Besonders an diesem Ort war uns das Nebeneinander aus Patiniertem und Neuem wichtig – mit dem Effekt, dass der Raum eine ganz besondere Stimmung bekommt; ihr Alterswert fügt eine zusätzliche Qualität hinzu.
Es erinnert ans klösterliche Leben im alten Kapuzinerhospiz.
QM | Es ist ein einfaches Zimmer in den Bergen, wo ich übernachten kann, es warm habe, etwas essen kann. Ich kann zwei Tage oder drei bleiben – es ist aber kein Ferienhotel, und es gibt auch nicht den typischen Hotelkleiderschrank, sondern nur eine Schreibkommode mit Schubladen für Wäsche und Haken an der Wand.
PM | Die Landschaft ist schon so stark und überwältigend, denn es ist so ruhig wie nirgendwo sonst, man hört keine Geräusche, sieht kein Licht, nur den Sternenhimmel. Darum sollte es sehr zurückhaltend sein und nicht in Konkurrenz zur Landschaft treten. Die Gestaltung konzentriert sich auf das Wesentliche, und daher hegen wir auch Hoffnung auf ihre Langlebigkeit.
Zurück zur Zeichenhaftigkeit des Daches: ein beliebtes Thema der „Moderne in den Bergen“, wenn Sie an Leuzinger, Baumann, Welzenbacher oder auch Tessenow denken.
QM | Wir haben lange geübt, wie hoch der First wirklich werden soll. Das Dach wirkt mächtig, und damit hat es tatsächlich mit einer gewissen Zeichenhaftigkeit zu tun. Aber dies ist nicht das Entscheidende, was uns viel mehr interessiert ist der zweite Blick. Man schaut sich etwas an, und einen Moment lang hat man das Gefühl, es war immer schon so, es ist uns vertraut. Gleichzeitig befängt uns eine Irritation, die dazu zwingt, noch mal hin zu sehen. 
Sie zählen zur ersten Generation der „Analogen“ an der ETH Zürich – „Verfremdung“ war damals ein zentraler Begriff.
PM | Wir haben vier Semester dort studiert, unser Diplom gemacht und stehen unseren Lehrern immer noch mit Respekt gegenüber. Diese Leute haben damals, vor dem Hintergrund von Aldo Rossis Engagement an der selben Schule, den Blick über die Moderne hinaus auf die ganze Architekturgeschichte geweitet, was uns ein enormes Potential geboten hat. Dennoch wäre diese Zuordnung eine Verkürzung: Wir nehmen seit zwanzig Jahren an der Schweizer Architekturdebatte Anteil und stellen eine eigenständige Position dar. 
Die Themen Erinnerung, Ortsbezug und Atmosphäre scheinen doch präsent am Gotthard.
PM | Wir sprechen aber nicht von Atmosphäre, sondern von Stimmung. Das ist ein wichtiger Unterschied. Atmosphäre ist ein schwammiger Begriff, der mit etwas Filmisch-Weichen zu tun hat. Die Stimmung eines Raumes, das ist ein aktiver Prozess – so wie man eine Violine stimmt. Man muss an den Wirbeln so lange drehen, bis die Saiten zueinander richtig klingen. Schon Loos sagte: Wenn ich eine gewisse Stimmung erreichen will, muss ich bei den Räumen anfangen, die diese Stimmung schon erreicht haben.



Fakten
Architekten Miller & Maranta, Basel
Adresse San Gottardo, CH-6780 Airolo


aus Bauwelt 9.2011
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