Bauwelt

San Michele



Text: Redecke, Sebastian, Berlin


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    Foto: Christian Richters

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Zehn Jahre hat es gedauert, bis ein erster Gebäudeblock auf der Toteninsel der Fried­hofsverwaltung von Venedig übergeben werden konnte. Die Gesamtplanungen sind weit größer und erfordern Ausdauer.
„Die Anordnung der Volumen, die vollen und leeren Elemente, sowie der Rhythmus ihres Aufeinanderfolgens sind funktionsunabhängig, denn es ist die Architektur, die sich selbst zum Ausdruck bringt. Dass der Zweck dieses Bauwerks, nämlich Friedhof zu sein, völlig unwesentlich ist, erscheint mir als sein hervorstechendstes Merkmal. Problemlos könnte es von einer Ruhestätte für Tote zu einem Wohnhaus werden.“ Gianni Braghieri schrieb dies 1980 zum Friedhof San Cataldo in Modena. Aldo Rossi hat ihn gebaut. Bald dreißig Jahre später könnte dieses Zitat auch zum Neubau von David Chipperfield passen. Denn auch er plante ein Bauwerk, das von seinem Aufbau her anderen Nutzungen zugeführt werden könnte. Es ist merkwürdig, dass die von Chipperfield gewählte Konzeption und Sprache ohne weiteres in die Nähe der Architektur von Rossi und anderer Architekten seiner Zeit in Italien in Beziehung gesetzt werden können. Man scheint aus einer Schule zu kommen. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Die Bauaufgabe war bestimmt vom traditionellen Friedhofsbau und von der traditionellen Bestattungsform in Italien. Dem Betrachter drängt sich der Eindruck auf, dass Chipperfields Architektur in einem anderen Umfeld auch anders gelesen werden kann. Zudem steht sein Werk an einem ganz besonderen Ort. Wir befinden uns auf der Toteninsel Venedigs, auf halber Strecke zwischen der Fondamenta Nuove mit dem Krankenhaus und der Insel Murano. Seit dem frühen 19. Jahrhundert werden hier die Toten der Stadt bestattet. Ein Architekt jener Zeit, Annibale Forcellini, hat die zuvor kleine Insel mit dem Kloster San Michele und eine weitere Insel, San Cristoforo della Pace, die mit erheblichen Aufschüttungen für den Friedhof zusammengelegt wurden, gestaltet. Zu seinen Bauten gehört auch ein weites Halbrund mit Arkadengängen im Anschluss des Klosters, das als Gebeinhaus genutzt wird. Die Flächen davor sind in einem Raster in meist quadratische Grabfelder aufgeteilt. Die Wohlhabenden haben eigene, teilweise pompöse Häuser mit Familiengruften errichten lassen, die in bestimmten Teilen dicht an dicht stehen. Die Insel ist durch eine große Ziegelmauer eingefasst und abgeschottet. Tritt man in diese Welt der Verstorbenen ein, ist Venedig nicht präsent. Nur an ganz wenigen Stellen ist ein Ausblick möglich. Zum Beispiel am großen Gittertor zur Stadt nach Süden, wo früher am Totensonntag ein von Gondeln getragener Steg die Insel mit der Stadt verband. Franz Werfel war in den zwanziger Jahren dabei: „Die lichtertragenden Gestalten auf der Brücke wanken träge. Seltsam lautlos, mit beleidigten Augen promeniert das Volk durch die schwere Dämmerung.“ Es muss eine beeindruckende Szenerie gewesen sein. Heute ragen die Spitzen von Zypressen weit über die Mauern empor und prägen das romantische Bild der Insel des 19. Jahrhunderts mit.
Die Toteninsel ist zu klein. Obwohl zahlreiche alte Grabfelder eingeebnet und saniert wurden, reichen die Flächen längst nicht aus. Die Stadt entschied sich für eine kostspielige Lösung: die östliche Erweiterung der Insel um mehr als 60.000 Quadratmeter. Da San Michele unter Denkmalschutz steht und das Bauvorhaben die Silhouette der Lagune verändern wird, wurde ein internationaler Wettbewerb ausgelobt (Heft 30.1998). Chipperfield ging als Sieger hervor. Sein Konzept umfasste damals ein weit größeres Areal als das Bauwerk, das als Teil der bestehenden Insel seit Ende letzten Jahres zugänglich ist. Es handelt sich um einen Block, der von außen über einige Stufen betreten wird. In­nen zeigen sich weitere Öffnungen in andere Höfe von unterschiedlicher Größe. Insgesamt sind es vier, benannt nach den vier Evangelisten. In den „Corti dei quattro Evangelisti“ sind daher Bibelzitate von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes zu finden. Das introvertierte Konzept mit den schmalen Durchgängen von Hof zu Hof soll an die Gassen und Plätze Venedigs erinnern.
Man ist für sich. Schon immer war die Insel mit den Außenmauern ein abgeschlossener Raum der Toten, die man wie in ei­nem „großen Haus“ besucht. Der Raum ist das Thema, so wie es auf Italiens Großfriedhöfen üblich ist. Die Höfe sind ver­schieden gestaltet, mit etwas Grün und einem Brunnen oder als kahler steinerner Platz. Die Gedenktafeln der Nischengräber auf fünf Ebenen sind mit kleinen Bildern der Verstorbenen, roten Lichtern und Blumen geschmückt. Bei der weiteren Belegung wird dies den Innenwänden ein anderes Gesicht verleihen. Zurzeit sind die meisten Felder noch leer. Jeder Hof hat einen Umgang. Das Dach ist durch ein Lichtband abgesetzt, die Stützen aus dunklem Beton sind glatt poliert. Durch die Öffnungen im Material ähneln sie etwas der porösen Struktur von Travertin. Die Wände bestehen ansonsten aus grauem Basalt, die hellen Bänder für die Nischen sind nur provisorisch mit Platten verkleidet.
Außen sind vom Neubau nur geschlossene Wände mit eingeschnittenen Zugängen zu sehen. Im Verhältnis zu den Mauern der angrenzenden Grabfelder und Kapellen wirkt dies abweisend. Chipperfields Haus bleibt somit in der Raumfolge von Forcellini ein Fremdkörper. Angesichts der hermetischen Gestaltung und vor allem des grauen Basalts fragt man sich, warum dieser Bruch so wichtig war. Der kon­zeptionell interessante Bau strahlt (bei Regen) eine Kälte aus, die erschaudern lässt. Man muss ihn jedoch im Zusammenhang sehen mit Chipperfields weit größerer Planung. Dazu gehören mehrere Hofbauten mit den Ossarien, eine Kapelle und – falls die Insel wie geplant im Osten erweitert werden sollte – eine zweite Serie mit Blöcken.



Fakten
Architekten Chipperfield, David, London
aus Bauwelt 20.2009
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