Bauwelt

Grundschule


Gold für Saint-Denis


Text: Redecke, Sebastian, Berlin


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    Foto: Luc Boegly

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Die neue Grundschule der benachbarten Gemeinden Saint-Denis und Aubervilliers wird von einer Gebäudehülle aus per­fo­riertem Aluminiumblech und verzierten Holzflächen umfangen. In dem Entwurf von Vincent Parreira  lassen sich zahl­reiche Einflüsse der Kultur der Bevölkerungsgruppen in der Pariser Vorstadt wiederfinden, genauso wie einfache formale Fassaden­details aus der näheren Umgebung. Für den Architekten stecken darin auch Erinnerungen an seine Zeit in Brasilien.
Ungerechtigkeit, mangelnde Beachtung, große Hoffnungslosigkeit – damit ist die Situation der armen Bevölkerung in der Pariser Banlieue umrissen. Man will heraus aus der Misere, findet aber kaum Arbeit. Ein Vorwurf ist immer zu hören und wiegt schwer: Niemand in der Politik befasse sich ernsthaft mit den jungen Menschen ohne Perspektiven in den Vorstädten, es würden stetig neue Programme lediglich versprochen, mit denen für eine bestimmte Zeit Tatkraft und eine Verbesserung der Lage propagiert werde. Zudem stellt man sich die Frage, ob die Fördermittel, die es zweifelsohne gibt, an falscher Stelle in Bau- und Verschönerungsmaßnahmen eingesetzt werden. Die trostlose Situation in den Vorstädten, die auch in Gewaltausbrüche mündet, ist eines der zentralen Streitthemen bei den in Frankreich anstehenden Präsidentschaftswahlen.
Ein konkretes Bild umgesetzter Maßnahmen in der Banlieue wird uns mit Bauprojekten vor Augen geführt, die man zum Teil gar nicht glauben mag. Sind die Fassaden dieser Neubauten nicht nur Effekthascherei? Eines der letzten schillernden Beispiele: die Grundschule und Kindertagesstätte „Maria Casarés – Robert Doisneau“ an der Rue Cristino Garcia, genau auf der Grenze zwischen den Gemeinden Saint-Denis und Aubervilliers im Norden von Paris. Die Gegend befindet sich noch nahe an der Hauptstadt und ist zur Zeit von einer massiven Umstrukturierung und Umnutzung ganzer Quartiere geprägt. Viele Werkstätten, kleine Industriebetriebe, dazu unzählige Garagen – in denen früher auch Familien, von der Metropole angezogen, hausten – stehen heute leer. Nicht wenige sind bereits abgerissen worden. Die bescheidenen Vorstadthäuser werden, teilweise sogar blockweise, verkauft, abgerissen und so Platz für neue Quartiere mit Reihenhäusern und vor allem mehrgeschossige Wohn- und Bürobauten geschaffen, die das gesamte städtebauliche und soziale Gefüge grundlegend verändern. Den Auftakt der großen Umwälzungen machte in diesem Teil von Saint-Denis das weithin sichtbare Stade de France für die Fußballweltmeisterschaft 1998 mit dem dazugehörigen städtebaulichen Gesamtkonzept. In der Folge haben sich zahlreiche Stadtplaner – auch im Rahmen von „Grand Paris“ (Stadtbauwelt 24.09) – mit der Region befasst. Dabei wurde die Verzahnung der Vorstadt mit der Hauptstadt verstärkt ausgebaut, doch es bleibt eine deutliche Diskrepanz. Die Transformation führt, so meine ich, auch zu Anonymität, denn viele der neuen Wohnquartiere schotten sich zum Straßenraum ab.
Die Perforierung
Zur Vorgeschichte der neuen Schule: die Bürgermeister der beiden Gemeinden Saint-Denis und Aubervilliers, deren Einwohnerzahlen in den letzten Jahren rasant gewachsen sind, schlossen sich zusammen, um eine große, weite Teile der Region abdeckende Schule mit guter Ausstattung zu planen. Staatliche Mittel wurden großzügig gewährt. Den eingeladenen Wettbewerb mit vier Teilnehmern, die unter 170 Bewerbern ausgewählt worden waren, gewann der bislang kaum bekannte Architekt Vincent Parreira, Jahrgang 1969, aus Paris. Er wollte das Schulhaus so bauen und präsentieren, dass die Bewohner in der Vorstadt es besonders achten und wertschätzen. Hierhin schicken sie ihre Kinder, denen sie eine bessere Zukunft wünschen. Um dies nach außen deutlich zu machen, erwachte in ihm die Idee, dem Gebäude eine „kostbare“ Haut überzuziehen. Sie besteht entweder aus goldfarbenen perforierten Aluminiumblechen oder einer Struktur aus Lärchenholzlatten, die, dicht an dicht gesetzt, die Außenwände bilden.
Damit nicht genug, die goldfarbene Haut des Gebäudes ergänzte er noch mit einem Dekorkonzept, das sich stetig wiederholende Motive aus der Umgebung und aus den Kulturkreisen der Anwohner aufnimmt. Die allegorischen Muster der Perforierung sind in einem strengen Raster über die gesamten Haut verteilt. Um diese Idee unmittelbar begreifbar zu machen, zeigte mir Vincent Parreira beim Besuch des Gebäudes auf einem der gegenüberliegenden Häuser ein Muster, das ihm als Referenz diente. Das einfache Eckhaus ist ein typisches Vorstadtgebäude aus dem späten 19. Jahrhundert, dessen kleine aber plastisch deutlich hervortretenden Dekorationselemente aus Ziegeln (Fotos rechts) Parreira als Muster auf die Fassade der Schule übertragen hat. Auf der goldfarbenen Haut tauchen aber auch Motive zum Beispiel arabischen Ursprungs auf. Das Viertel wurde zunächst von spanischen Einwanderern geprägt und deswegen lange Zeit „La petite Espagne“ genannt. So erklärt sich bei der Holzfassade die Struktur mit zum Teil kunstvoll gedrechselten Holzstäben und markant verzierten Fensterrahmungen und -laden, die man mit Häusern Spaniens in Verbindung bringen kann – vielleicht sogar mit einem maurischern Hintergrund. Erst später folgten die arabisch geprägten Bewohner aus dem Maghreb, die heute einen Großteil der Bevölkerung im Quartier ausmachen. Auch Dekormotive aus ihrer Kultur sind in den Fassaden zu finden. Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt bei der Auswahl der Muster, so der Architekt, seien die alten Industriehallen der Vorstadt gewesen. Als Großstruktur taucht auch das Andreaskreuz auf, ein typisches Element der Aussteifung bei den frühen Eisenkonstruktionen.
Die Ernüchterung
Die Gebäudehaut der Schule weckt viele Assoziationen und lässt auch im Inneren Kostbares vermuten. Passiert man jedoch den Haupteingang, den ein flacher Giebel auf der langen Nordseite markiert, ist der Eindruck ein ganz anderer. Die eindeutige und geschickt kombinierte Fassadensprache weicht einem heterogen gestalteten Raumgefüge, in dem sich keine  wahre Struktur erkennen lässt. Hinter der Eingangshalle mit der in Frankreich üblichen Einlasskontrolle folgt rechts der Flur zu den Klassen der Grundschüler und links der Flur zu den Gruppenräumen der Kindertagesstätte. Aus der Mitte der Eingangshalle führt eine breite Wendeltreppe zu einer offenen Galerie. Die Kinder können von dort den gesamten Eingang einsehen und diejenigen entdecken, die sie am Nachmittag abholen kommen.
Die Flure führen um mehrere Ecken, die verschiedenen Zonen mit den Garderobennischen vor der Klassen sind farblich voneinander abgesetzt. Der östliche Gebäudeflügel mit der Kindestagesstätte ist länger, hat einen Knick mehr und setzt sich nach Süden bis zur Sporthalle und der Schulmensa fort. Teile des Gebäudes sind aufgeständert und bieten den Kindern während der Pausen einen geschützten Außenraum. Und auch der Innenhof ist enttäuschend. Es fehlt die Raffinesse der äußeren Erscheinung. Man taucht ein in eine aus Holz gefertigte, teilweise spielerisch gestaltete „Landschaft“. Die Holzstäbe verkleiden dabei die Brüstungen der offenen Umgänge vor den Klassenräumen. Im Detail ist hier alles wesentlich robuster gestaltet. Die goldfarbene Außenhaut dient in einigen Bereichen als Sichtschutz für den internen Pausenhof. Die Kinder sind von der Straße aus wohl zu hören aber nur in ihren Umrissen zu erkennen. Auf der Westseite fehlt heute noch das kleine Gebäude des Hausmeisters, das den Block komplettieren wird. Streitigkeiten mit dem Nachbarn hatten den Bau bisher verhindert. Sie sollen inzwischen beigelegt sein. Künftig wird eine Gasse die Schule vom Nachbargrundstück trennen. 
Das Hauptgebäude des Ensembles ist nicht die Schule selbst, sondern die Sporthalle auf der Südseite, die vollständig hinter der goldenen Hülle verborgen liegt. Ursprünglich war geplant, ein alte Industriehalle, die an dieser Stelle stand, zu bewahren und sie, als Sporthalle umgebaut, in das Ensemble zu integrieren. So sollte der Geschichte dieses Ortes Referenz erwiesen werden. Die Bausubstanz stellte sich aber als derart marode heraus, dass man sich dann doch für den Abriss entscheiden musste. Dies wirkte sich auch auf die Umsetzung der Entwurfsidee aus, die in allen ihren Teile von Beginn an auf die Konstruktion der alten Halle fokussierte. Anstelle des historischen Gebäudes wurde eine neue Halle errichtet. Allerdings ist diese nicht mehr ebenerdig gelegen, sondern über der Schulmensa und der Küche aufgeständert – eine sonderbare Abwandlung des Konzepts. Die Mensa im Erdgeschoss gliedert sich in einzelne, baulich deutlich voneinander abgetrennte Bereiche mit jeweils eigenen Dächern auf. Auch hier bemüht der Architekt die Referenz an den Ort und verweist auf die typischen Struktur der einfachen Wohnhäuser mit flach geneigten Dächern. Zwischen den Dächern und der darüber liegenden Sporthalle gibt es einen Luftraum – alles ummantelt von der goldfarbenen Fassadenhaut und dadurch kaum erfahrbar. Von der Straße und dem Vorplatz im Norden aus sieht man im Erdgeschoss ein durchgehendes Fensterband. Ursprünglich war geplant, dass man von hier aus den Sportbetrieb verfolgen kann. Doch nun sieht man nur Restflächen: einen Flur mit zwei Waschbecken, einen Vorraum und hinter internen Fenstern die Esstische der Kinder. Überzeugend ist das nicht.
Neben diesem wichtigsten Baukörper des Ensembles, an dessen östlicher Giebelseite, erhebt sich ein schmales, ebenso hohes Pendant, in dem das Treppenhaus und die Umkleiden untergebracht sind. Auch dieser Bau basiert noch auf den früheren Planungen, in denen in der alten Industriehalle kein Platz dafür zur Verfügung stand. Die Verbindung zur Sporthalle erfolgt über geschlossene Gänge. Sie sind wie das Interieur des Treppenhauses und die Umkleiden rot gestaltet. Die Erschließung mit separatem Eingang lässt zu, dass die Halle am Abend ohne Schwierigkeiten von Sportvereinen genutzt werden kann. Wichtiges Zeichen der industriellen Vergangenheit des Ortes bleibt ein alter Schornstein, den der Architekt diagonal mit goldenen Bändern versehen hat.
Polycarbonat
In der Sporthalle selbst entdeckt man eine sonderbare Mischung von Konstruktion und gestalterischem Zusatz. Auch hier hat sich der Architekt mit Dekorelementen verwirklicht, denen eine gewisse Eleganz ebenso wenig abzusprechen ist, wie den goldfarbenen Blechen. Die Innenwände der Sporthalle bestehen aus Polycarbonatplatten. Durch einige Dachfenster fällt zusätzlich Licht in die Halle. Von außen ist die weiße Schicht durch die perforierte goldene Haut hindurch zu erkennen. Bei Dunkelheit, wenn die Halle beleuchtet wird, ist dies besonders sichtbar.   
Ist der Architekt mit seinen Interpretationen bei den Fassaden zu weit gegangen? Bemächtigte er sich der Symbole nur oberflächlich? Ist die Dekorsprache überhaupt verständlich oder bleibt sie nur ein spielerisches Element für die Kinder? Bisher wird der Neubau tatsächlich wie ein kostbarer Ort betrachtet und behandelt. Nach so viel Pragmatismus im Schulbau, der keine Nähe zulässt, kann man hier in gewisser Weise von einer sinnlichen Architektur sprechen.



Fakten
Architekten Parreira, Vincent, Paris
Adresse 5 Rue du Landy 93210 Saint-Denis, Frankreich


aus Bauwelt 13.2012
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