Bauwelt

Grundschule Helsinkistraße


Ein Übergang für den Überhang


Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin


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    Foto: Michael Heinrich

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Für 15 schülerstarke Jahrgänge wurden in der Münchener Messestadt zusätzliche Räume benötigt. Fink + Jocher haben eine Schule geplant, die sich dereinst mühelos wird umnutzen lassen: eine weit spannende Dachplatte, die auf einer massiven Betonfertigteilfassade ruht.
Die Messestadt München-Riem wächst – und mit ihr die Zahl der schulpflichtigen Kinder. Vor einem Jahr wurde in den Grundschulen des Stadterweiterungsgebiets auf dem ehemaligen Flughafengelände die Zahl von 40 Klassen überschritten, nächstes Jahr sollen es schon über 50 sein, bis 2015 an die 60, um dann bis zum Schuljahr 2023/24 wieder auf 40 zu fallen. Soweit die Prognose. Mehr als 40 Klassen aber lassen sich in den vorhandenen Räumlichkeiten nicht einrichten. Also galt es, ein Ausweichquartier zu schaffen, eine „Entlastungsschu le“, die aber, so die explizite Forderung der Stadt, mühelosumzunutzen sein sollte, sobald der Bedarf dafür fehlt. Im letzten Jahr wurde die zweizügige Grundschule an der Helsinkistraße fertig gestellt, geplant hat sie das Münchener Architekturbüro Fink + Jocher.

Unwichtige Prominente, einflussreiche Anonyme

Die Helsinkistraße liegt im „1. Bauabschnitt Wohnen“ der Messestadt, den man mit der U-Bahn am Haltepunkt „Messestadt-West“ erreicht. Die Straße beginnt im Norden auf Höhe der U-Bahnlinie und endet im Süden an der neuen Schule. Kurz zuvor hat sie einen Geschosswohnungsbau der Architekten Hild + K passiert, der Bauwelt-Lesern nicht unbekanntist (Bauwelt 43/2005). Auf der anderen Straßenseite findet sich im sogenannten Aktivitätenband, das die Messestadt als langes Band öffentlicher Einrichtungen im Süden, zum Landschaftspark hin abschließt, weitere prominente Architektur: eine Kinder- und Jugendfreizeitstätte von Schneider + Schumacher. Der bunte Bau ist der Nachbar der Entlastungsschule auf der Westseite. Auf der Ostseite, aber schon jenseits des Freiraums, der den Wohnkomplex bis hoch zum Platz der Menschenrechte durchschneidet, schließt sich einer der dauerhaften Schulbauten des Wohngebiets an, die 1998 eröffnete und jüngst fassadensanierte Grund- und Hauptschule der Architekten Mahler Günster Fuchs. Der neuen Schule auf der Nordseite gegenüber stehen Einfamilienhäuser, zwei Geschosse hoch und architektonisch nicht weiter erwähnenswert. Doch gerade diese übten einen nicht unerheblichen Einfluss auf die bauliche Konzeption der temporären Schule aus. Denn die Stadt wollte die Eigentümer mit dem Neubau möglichst nicht zu einem Rechtsstreit herausfordern, hatten diese doch vielleicht auch deshalb hier ihr Zuhause gefunden, weil sie der
offiziellen Auskunft Glauben geschenkt hatten, dass vor ihrer Haustür ein Biergarten und eine Grünwerkstatt entstehen sollten, der freie Blick über den Park auf dem einstigen Flugfeld also unverbaut bliebe. Deshalb wurden Fink+ Jocher beauftragt, zunächst eine Baumassenstudie zu erstellen, um herauszufinden, auf welche Weise sich das erforderliche Volumen möglichst unbemerkt auf dem Areal platzieren ließe. Die Architekten entwickelten eine Turmvariante ebenso wie eine Tunnelschule; als am wenigsten störend erschien schließlich eine eingeschossige Pavillonschule; ein Bautyp, der seit den fünfziger Jahren in Deutschland nicht mehr oft gebaut worden ist, trotz aller pädagogischen Vorteile, die eine solche Bauweise bietet.

Fünf Höfe für die Messestadt


Alle Räume ebenerdig anzuordnen, bedeutet eine große Grundfläche und entsprechend lange Wege im Inneren – immerhin einhundert Meter erstreckt sich die Schule in Ost-West-Richtung. Auch fällt eine größere Hüllfläche als bei einer kompakteren Bauweise an. Die Vorteile liegen aber auf
der Hand: Alle Räume der Schule haben potentiell unmittelbaren Kontakt zum Außenraum, so dass der Unterricht mühelos auch draußen stattfinden kann, und alle Räume können auch von oben belichtet werden, so dass sich tageslichtlose Innenzonen einfach umgehen lassen. Fink + Jocher haben die Klassen- und Tagesheimräume auf der Südseite angeordnet, Verwaltungs- und Nebenräume auf der Nordseite. Fünf Höfe gliedern den Grundriss, zwei breitere zum Park, drei schmalere zur Messestadt. Diese sorgen dafür, dass der das Gebäude auf ganzer Länge erschließende Mittelgang mit Aussicht und Tageslicht reichlich gesegnet ist. Überraschend großzügig sind die Vorräume der Klassenzimmer bemessen, die mit unterschiedlichen Farben – braunrot, grün, blau – einen jeweils eigenen Charakter erhalten haben.
Klassenzimmer und Tagesheimräume wechseln sich im Grundriss ab; dabei finden sich die Letztgenannten meist in den Außenecken des Mäanders angeordnet. Die umlaufende Traufe bindet das Volumen zusammen. Die massive, 35 cm dicke Dachplatte kragt auf allen Seiten deutlich aus – auf der Südseite immerhin drei Meter – und sorgt so für die Verschattung der Fassade, so dass auf weitergehende Sonnenschutzmaßnahmen verzichtet werden konnte. Außen angebrachte Jalousien etwa wären aufgrund der häufig starken Winde auf dem ehemaligen Flugfeld nur bedingt in Frage gekommen. Außerdem sind genügend überdachte Außenräume entstanden, wo die Schüler auch bei Regenwetter die Pause verbringen können.

Tragende Fertigteile, freier Plan

Die verlangte Flexibilität des Gebäudes und die anberaumte Bauzeit von nur einem Jahr seien die größten Herausforderungen bei der Planung gewesen, erinnert sich Architekt Thomas Jocher. Betrachtet man den Grundriss der Schule, fällt auf, dass die Fassade das dickste Element des Gebäudes ist. Tatsächlich sind sämtliche Innenwände flexibel als leichte Trennwandkonstruktion ausgeführt, die Konstruktion besteht lediglich aus der weitspannenden Dachplatte, der Fassade und jeweils vier Stützen pro Innenfeld. Betonkerne oder tragende Wandscheiben im Inneren gibt es nicht. Damit die Schule den Windlasten standhält, sind die Betonfertigteile der Fassade im Boden eingespannt worden. Die winkelförmige Gestalt der farblich in verschiedenen Rottönen changierenden und durch Versatz und Profilierung plastisch wirkenden Elemente soll das Mäandrieren des Innenraums um die Höfe herum wiederspiegeln, lässt aber auch an ein abstrahiertes Alphabet denken. Dass diese hochwertig und dauerhaft anmutende Konstruktion gewählt wurde, ist als Glücksfall zu werten – ausgeschrieben war der Bau nämlich „systemoffen“. Die Fertigteilbauweise erwies sich dabei aber nicht nur preislich, sondern auch optisch und haptisch als das beste Angebot. Dass der „Entlastungsbau“ in Sichtweite der „Mutterschule“ zweitklassig wirken könnte, ist damit vermieden worden. Knapp sechs Millionen Euro hat das Gebäude gekostet, bezogen auf die Kostengruppen 300 und 400; auf den Quadratmeter Bruttogeschossfläche umgerechnet waren es 1800 Euro. Das Geld scheint gut angelegt: Schon heute erhalte die Stadt München Anfragen von potentiellen Nachnutzern, berichten die Architekten erfreut.



Fakten
Architekten Fink + Jocher, München
aus Bauwelt 35.2010
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