Bauwelt

Geschosswohnungsbau


Gegenüber der Gleisbrache


Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin


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    Foto: Andrew Alberts

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Eine Bahnbrache im Zentrum Berlins wird zum Park, und unversehens erleben auch ihre Ränder eine neue Blüte. Der Geschosswohnungsbau, den Tim Heide und Verena von Beckerath für eine Baugruppe geplant haben, bildet den Auftakt für die Bebauung eines ganzen Straßenzugs und liefert Anregungen, wie dieser sein Potenzial entfalten könnte.
Für die Vorbereitung des Foto-Shooting eines Liftestyle-Magazins im Wohnhaus Flottwellstraße 2 habe sie unlängst ei­nen Raumausstatter aufgesucht, erzählt Architektin Verena von Beckerath, doch sei sie mit leeren Händen zurückgekehrt. Die dort angebotenen Utensilien verkörperten mit ih­-ren übersteigerten Dimensionen schließlich genau das Ge­genteil von dem, was den Entwurf des Gebäudes am Berliner Gleisdreieck bestimmt habe: Um Verknappung und Verdichtung sei es Partner Tim Heide und ihr bei der Auseinander­setzung mit dem Thema „urbanes Wohnen“ gegangen; um die Frage, wie sich auch mit eher kleinen Räumen und Objek­ten Großzügigkeit erzielen lässt – und Variantenreichtum. Das Ziel: Wohnungen, die jene funktionale Toleranz aufweisen, für die die Berliner Altbauten geschätzt werden, die sich aber auch in späteren Beispielen finden lässt, etwa im „Schwe­denhaus“ der Berliner Interbau 1957; Wohnungen also, die Menschen unterschiedlichen Alters und Familienstandes, mit verschiedenen Vorlieben und Gewohnheiten, passend erscheinen.
Einige Besonderheiten des Projekts lassen sich auf diese Ambition zurückführen. Zunächst: Der ungefähr Ost-West-orientierte Grundriss des von außen wie zwei schmale Häuser wirkenden Gebäudes – dazu später mehr – bildet bei einer Gebäudetiefe von 15 Metern eine Art Mittelzone aus, in der Küche und Bad mit (separatem) WC untergebracht werden. Über große Schiebeelemente kann dieser Bereich mit den Räumen an der Fassade vereinigt werden. Straßen- und Hofseite sind als grundsätzlich gleichwertig behandelt worden, doch wurden sie um ein halbes Geschoss versetzt zueinander an­geordnet, sodass das Tageslicht über die Diagonale die ganze Tiefe der Wohnungen ausleuchten kann – ein Effekt, der sich sogar zwei Mal am Tag einstellt, wenn eine Wohnung über mehr als zwei Halbgeschosse reicht.
Als „Normalvariante“ gilt die rund 90 Quadratmeter große Einheit über zwei Ebenen, die sich als die am stärksten nachgefragte erwiesen hat. Unten und ganz oben gibt es auch 140 Quadratmeter große Wohnungen, die auf drei Ebenen liegen, sowie ein 30 Quadratmeter großes Apartment auf nur einem „Deckenabsatz“. Da das Innere frei ist von tragenden Wänden, blieb die Aufteilung den Eigentümern überlassen. Möglich ist ein loftartiges „Durchwohnen“ ebenso wie die Abtrennung von je zwei Zimmern an den Außenseiten „für den Belastungsfall WG“, wie Verena von Beckerath formuliert. Die Wohnungen unten (mit eigenem Gartenzugang) und ganz oben (mit privater Dachterrasse) beinhalten lagebedingt „Sonderausstattung“. So wurde ein breites Spektrum potentieller Interessenten für die Beteiligung an diesem von den Architekten initiierten Baugruppenprojekt angesprochen – die Lage selbst war schließlich noch nicht als Wohnstandort etabliert.
Urbanität am Gleisdreieck?
Wer die Flottwellstraße kennt, in den letzten ein, zwei Jahren aber nicht besucht hat, könnte über das Stichwort „urbanes Wohnen“ gestolpert sein. Das Gleisdreieck, jene aus den Tagen der großen Berliner Kopfbahnhöfe herrührende Bahnbrache, taugte nach der Wiedervereinigung Berlins jahrelang als Gegenbild zum nördlich gelegenen Investitionsgebiet Potsdamer Platz. Mag über dessen urbane Qualitäten auch Uneinigkeit herrschen – dem weitläufigen Ruderalpflanzenparadies zwischen Kreuzberg, Schöneberg und Tiergarten-Süd ließen sich solche Eigenschaften erst recht nicht zusprechen.
Doch das Gebiet steht im Umbruch, nicht zuletzt, weil die Umgestaltung der Brache zum Park (Bauwelt 35.06) allmählich voranschreitet: Im September letzten Jahres wurde der erste Teil, der sogenannte Ostpark, eröffnet, der Westpark soll 2013 folgen. Sichtbar ist der Umbruch auch anhand der Entwicklung des Wohn- und Geschäftsviertels im Westen der Gleisbrache, das lange Zeit nicht von der mit dem Mauerfall wiedergewonnenen zentralen Lage in der Stadt profitieren konnte. Seit kurzem als neuer Sammelpunkt der Berliner Kunstszene im Gespräch (Bauwelt 25.11), ist das Quartier beidseits der Potsdamer Straße inzwischen auch als Wohnort für eine neue Klientel interessant geworden.
Platz für diese war und ist am Straßenzug Flottwell-/Dennewitzstraße reichlich vorhanden. Als die beiden Architekten auf das brachliegende, knapp 420 Quadratmeter große Grundstück stießen, war von der heute auf der Westseite der Straße fast komplett geschlossenen Bebauung noch nichts zu sehen. Der Bebauungsplan sah eine Blockrandbebauung von maximal 15 Meter Tiefe mit einem Seitenflügel an der südlichen Grundstücksgrenze vor, Rücken an Rücken gebaut mit jenem auf dem Nachbargrundstück Flottwellstraße 3, dazu eine GFZ von 2,4. Angewendet auf die Grundfläche hätte dies eine lediglich 12 Meter hohe Bebauung ergeben. Um eine städtebaulich wünschenswerte Höhe einerseits, bestimmte räumlich-architektonische Qualitäten andererseits zu erreichen, wurde diese Planung angepasst; die Seitenflügel der beiden gemeinsam ausgeschriebenen Grundstücke etwa entfielen zugunsten eines größeren Gartens. Heide und von Beckerath wollten mit ihrem Haus aber auch ein Plädoyer abgeben für die Entwicklung der Flottwellstraße als öffentlicher Raum, wofür die formale wie funktionale Behandlung des Erdgeschosses entscheidend ist. Da keine Tiefgaragenabfahrt untergebracht werden musste, war hier Platz für ein Ladenlokal, das ebenso gut als Galerie oder Büro genutzt werden kann.
Wie berechtigt diese Überlegung gewesen ist, zeigen die im Anschluss entstandenen Baugruppenprojekte in der Straße, wo derartige Nutzungen im Erdgeschoss außen vor geblieben sind. Das ist umso bedauerlicher, als auch die auf der Ostseite, zwischen Fahrbahn und Park, zu erwartende Bebauung allein schon aufgrund der gegenüber dem Straßenniveau angehobenen Lage des Parks keine abwechslungsreiche Abwicklung des dem Passanten zugewandten Bereichs erwarten lässt – stattdessen einen Stadtraum, an den Müllräume, Abstellflächen und Garagentore grenzen. Es braucht keine town houses, um Vorstadt im Stadtzentrum zu generieren.
Doch zurück zum Wohnhaus mit der Hausnummer 2. Neben der Gewerbeeinheit bietet dessen Erdgeschoss nämlich noch eine Besonderheit: eine großzügige Licht- und Sichtverbindung zwischen Gehweg und Garten. Was zur Zeit wie eine überbreite Durchfahrt wirkt, wird sich im hinteren Bereich noch in eine seichte Wasserfläche verwandeln. Davor liegt auch die Hauseingangstür, und aus dem Apartment, das im ersten Obergeschoss die Gartenseite der südlichen Haushälfte einnimmt, kann man durch ein Fenster auf Bodenhöhe bis hinaus auf die Straße blicken.
Teilung, Versatz, Spiegelung
Das Konzept des zwei Millionen Euro teuren Gebäudes vermittelt sich auf Anhieb, wenn man von Norden, vom Landwehrkanal her, in die Flottwellstraße tritt. Dann zeigt sich nicht nur an der kontrastierenden Farbigkeit der filigranen Fassade und der unterschiedlichen Ausbildung der Balkone die Teilung des Grundrisses in Querrichtung, sondern an der Brandwand auch die in Längsrichtung. An den beiden Farbfeldern lässt sich der Niveauversprung des Split-Level ablesen. Die Farbtöne signalisieren aber auch die Spiegelung, die die Architekten „eingebaut“ haben, etwa bei der schon angesprochenen Ausbildung der Balkone. Die den Wohnungen auf ganzer Breite vorgelagerten Austritte bilden eine Sitzstufe aus, welche mal nach außen, mal nach innen weist und die dahinter liegenden Räume mit ihren großen Fenstern entweder noch extrovertierter oder aber ein bisschen in-sich-gekehrter wirken lässt.
Deren Stimmung ist nicht zuletzt abhängig von der Aufteilung, die jeder Bewohner vorgenommen hat, sowie von den jeweils anzutreffenden Materialien und Möbeln. Die Architekten favorisierten ein minimalistisches, flächiges Material- und Farbkonzept, kombiniert mit von ihnen selbst entworfenen Einbauschränken und kompakten Küchenzeilen. Unabhängig davon, wie weitgehend dieser Ansatz in den insgesamt zwölf Wohnungen umgesetzt worden ist, bauen sich räumliche Zusammenhänge weniger in axialen Folgen als in diagonalen Verschränkungen auf. Das ermuntert dazu, die Wohnungen in der Bewegung, treppauf, treppab, zu erleben – und dabei größer wahrzunehmen, als sie eigentlich sind.



Fakten
Architekten Heide & von Beckerath, Berlin
Adresse Flottwellstraße 2 10785 Berlin


aus Bauwelt 11.2012
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