Dokumentationszentrum
Text: Sowa, Axel, Aachen
Auf sehr schweizerische Art haben Diener & Diener Architekten unweit von Paris ein Behältnis aus Sichtbeton formuliert, in dem die Erinnerung an die Shoah einen Platz finden kann
Drancy ist eine kleine Vorortgemeinde im Nordosten von Paris, deren heterogener Baubestand zur wirren Gemengelage der Banlieue gehört. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, als die Gemeindegrenzen von Drancy noch an weite Felder stießen, war hier die spektakulärste Wohnanlage der französischen Vorkriegsmoderne im Entstehen begriffen. Die Architekten Lods und Beaudoin fügten im großen Maßstab vorgefertigte Betonelemente zu Zeilen und Türmen. Die Wirtschaftkrise durchkreuzte ihre ehrgeizigen Pläne. Das Projekt geriet ins Stocken. Der „U“-förmige Teil der leerstehenden Anlage wurde 1940 von der deutschen Besatzungsmacht zum „Frontstalag 111“ erklärt. Als Sammellager geriet die halbfertige Siedlung zwischen März 1942 und August 1944 zum Schauplatz eines katastrophalen Verbrechens. Im Rohbau von Drancy wurden im Verlauf von zweieinhalb Jahren 63.000 Menschen jüdischer Abstammung interniert und von dort in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Mit der Dokumentation der von der deutschen Besatzungsmacht und der französischen Vichy-Regierung begangenen Verbrechen wurde bereits im April 1943 in Grenoble begonnen, wo Isaac Schneersohn Zeugnisse der antisemitischen Aktionen in Frankreich sicherte und zusammentrug. 1956 entstand im Pariser Stadtviertel Le Marais ein Ort des Gedenkens an die Vernichtung der französischen Juden. 2005 wurde die Gedenkstätte durch das Centre de documentation juive contemporaine erweitert. Getragen wird das Mémorial de la Shoah von einer Stiftung sowie von öffentlichen und privaten Förderern.
Vom Bürgerengagement zur Staatsaufgabe
Zum Mémorial gehört seit 2012 auch der vom Schweizer Büro Diener und Diener entworfene Neubau in Drancy. In unmittelbarer Nähe des ehemaligen Sammellagers sollen zeitgeschichtliche Dokumente am Ort der Deportation zugänglich gemacht werden. Le travail de mémoire, die Arbeit des Erinnerns an die dunkle Vergangenheit setzte in Drancy erst spät ein. Der Komplex des ehemaligen Lagers wurde unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg der ursprünglich für ihn vorgesehenen Wohnnutzung zugeführt. 1976 wurde am Südrand der Anlage ein Mahnmal errichtet, das wenig später durch die Aufstellung eines Güterwaggons ergänzt wurde. 1989 formierte sich ein Verein couragierter Bürger, der mit spärlichen Mitteln im Erdgeschoss des Wohnungsbaus ein Informationszentrum unterhielt. Der Verein ermöglichte vor allem eine Vielzahl von Begegnungen von Schüler- und Besuchergruppen mit Personen, die der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie entkommen konnten und bereit waren, von ihrem Schicksal zu berichten. Der Verein hat mittlerweile seine Arbeit eingestellt; sie wird nun, neben anderen Aktivitäten, in dem Neubau von Diener und Diener fortgesetzt. Die wichtigste Aufgabe, die der Neubau zu erfüllen hat, ist die der Vermittlung. Vermittlung zwischen den Erinnerungswelten der älteren und jüngeren Generation. Vermittlung zwischen der grausamen Logistik der Deportation und dem Alltag eines Pariser Vororts.
Der Neubau an der Avénue de la Libération reiht sich ein in die bestehende Straßenflucht und steht doch abseits. Der Erdgeschossbereich des Gebäudes liegt etwas hinter der Bauflucht und ist vollständig verspiegelt. Bewegt man sich, auf Suche nach dem Eingang, auf das Gebäude zu, so erblickt man sich selbst wie auch das Spiegelbild des ehemaligen Lagers auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Mit der Betätigung der Klingel beginnt das Zugangsprotokoll. Die Sicherheitsschleuse hat die Dimensionen eines hausinternen Grenzpostens. An ihrem Ende gelangt man in einen sehr geräumigen und lichten Empfangsraum, der über ein Fensterband mit dem Außenraum in Verbindung steht. Hier kündigt sich bereits die Palette von dezenten Grautönen an, die je nach Lichteinwirkung changieren, doch über alle Geschosse gleich bleiben. Über ein allseitig geschlossenes Treppenhaus, das an der Grenze zur Nachbarparzelle im Süden positioniert ist, führt der Weg hinauf in die Obergeschosse. Dort findet man ein Dokumentationszentrum sowie Vortrags- und Seminarräume und auf der letzten Ebene die permanente Ausstellung, in der Akten, Briefe, Bilder und Filme die „Lebensbedingungen“ im Lager Drancy auf eindrückliche Weise schildern.
In seiner sublimen Selbstbezüglichkeit wird der Bau zur Parabel über die Möglichkeiten der Architektur als Bedeutungsträger. Die Mittel der Architektur werden von Diener und Diener nicht als Zeichen eingesetzt. Vergeblich sucht man sprechende Verweise auf den Ort der Katastrophe auf der anderen Straßenseite. Wirkmächtigkeit erlangt die Sprache der Architektur hier auf dem Weg rhetorischer Abstinenz. Bedeutsam wird die Gebäudeecke, weil sie nicht die eines herkömmlichen Eckgebäudes ist. Bedeutsam sind die beiden Hauptfassaden zunächst in baukonstruktivem Sinn. Großflächig verglast, mit geschossweise leicht auskragenden Deckenplatten oder als tragende Wandscheibe mit horizontalen Fensterbändern, verweisen sie auf die Art ihrer Herstellung. Bemerkenswert ist dabei vor allem die Perfektion, mit der die Betonarbeiten ausgeführt wurden. Bedeutsam ist auch der Innenraum des zweiten Obergeschosses, der wie ein erhöhtes Aussichtsplateau den Blick auf den ehemaligen Lagerkomplex freigibt und rahmt. In kluger Einschätzung der Möglichkeiten haben die Architekten ihre Aufgabe in erster Linie als Konstruktionsaufgabe eines Behältnisses verstanden und auf jedwede Metapher verzichtet. Zu einem Haus der Erinnerung wird das nüchterne Behältnis erst durch die Nutzer und Besucher, die es mit Leben füllen. Auf bescheidene und zugleich großzügige Weise bietet die Architektur von Diener und Diener den Eintretenden Schutz vor der Gefahr des Vergessens.
Fakten
Architekten
Diener & Diener Architekten, Basel/Berlin
Adresse
Cité de la Muette 60340 Saint-Leu-d'Esserent, Frankreich
aus
Bauwelt 39.2013
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