Bauwelt

„Wissen Sie eigentlich, wie eine informelle Siedlung wächst?“

Interview mit Dina K. Shehayeb

Text: Redeker, Cornelia, Kairo; Seidel, Florian, Kairo

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Dina K. Shehayeb
Foto: Steve Double

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Das informelle Viertel Mansheyet Nasser mit 450.000 Einwohnern.
Foto: Agathon Mories/Urban Collective Cairo

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Das informelle Viertel Mansheyet Nasser mit 450.000 Einwohnern.

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"Cairo 2050"
Rendering: GOPP

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„Wissen Sie eigentlich, wie eine informelle Siedlung wächst?“

Interview mit Dina K. Shehayeb

Text: Redeker, Cornelia, Kairo; Seidel, Florian, Kairo

Das Büro von Dina K. Shehayeb befindet sich in einem der oberen Geschosse eines stilvollen Wohnhauses, in einer ruhigen Seitenstraße des dicht bebauten Stadtteils Mohandeseen westlich des Nils. Ihre Arbeitsräume gleichen einer Wohnung, mit Salon, Sofaecke und Balkon.
Die Großfamilie wohnt im selben Gebäude. Die Architektin hat eine Professur am Nationalen Wohnungs- und Bauforschungszentrum (HBRC). Mit ihrem eigenen Büro forscht sie zu den Themen Partizipation und Wohnungsbau und berät NGOs und Regierungsstellen. Sie kritisiert, dass die Stadtplanung Ägyptens in den fünfziger Jahren stecken geblieben ist und fordert ein grundsätzliches Umdenken: weg von der staatlichen Politik der Stadtneugründungen in der Wüste, hin zu einer Weiterentwicklung der informell gewachsenen Siedlungen.
Wie hat sich der öffentliche Raum in Kairo seit der Revolution 2011 verändert?
Viele der heutigen Entwicklungen, wie die Aneignung des öffentlichen Raums, gab es schon vor der Revolution. Aber bestimmte Phänomene treten jetzt verstärkt auf, fast werden sie zu Karikaturen ihrer selbst. Zum Beispiel gab es das Aufstellen von Stühlen auf den Brücken schon vor zehn Jahren, auf der Abbas-Brücke im Stadtzentrum Kairos. Es hat sich jetzt aber viel schneller ausgebreitet, weil die Stadtverwaltung die Augen davor verschließt. Heute sind in den Abendstun­-den fast alle Gehwege auf den Nilbrücken zu einer Art Straßencafé geworden. Die Aufsicht durch die Behörden ist im­mer verhandelbar, da kommt es auf den Preis an. Viele der informellen Entwicklungen verdanken sich dem korrupten Rechts­system. Auf legalem Wege kann man in Ägypten nicht viel erreichen, es ist schlicht unmöglich. Will man zum Beispiel den Wasseranschluss verlegen, so sind schon die Formulare der beiden daran beteiligten Behörden inkompatibel. Das Formelle und das Informelle sind miteinander verwoben. Informalität ist dabei zu einer Art Regierungsführung ge­worden, Reformunfähigkeit ist Teil des Systems. Alle sind unterbezahlt, alle müssen sich Nebenerwerbe suchen.
 
Geht es hier um die mangelnde Durchsetzung von Gesetzen?

Das Problem sind nicht zu wenige gesetzlichen Regelungen oder deren Durchsetzung. Es ist ein Segen, dass wir bestimmte Masterpläne nicht umgesetzt haben, dass nicht alle dieser großen Verkehrsplanungen in Kairo realisiert wurden. Das hätte weite Teile unserer historischen Bezirke zerstört. Ein Großteil der Probleme liegt im Rechtssystem selbst, das die Bürger nicht zum Handeln ermächtigt, sondern einzig und
allein kontrolliert. Ein Ergebnis davon sind zum Beispiel die ägyptischen Geisterstädte in der Wüste. Jede größere Stadt im Niltal von Damietta und Rosetta bis hinunter nach Assuan hat diese Art von Stadterweiterung wie New Minya, New Qena, New Damietta. Diese New Towns sind Geisterstädte geblieben. Sie stehen faktisch leer.
Ist das gegenwärtige Leitbild der Planung also überholt?
Das Planungsparadigma basiert in weiten Teilen auf den Stadtplanungstheorien der 1950er Jahre, der Funktionstrennung, dem Vorrang des Verkehrs, dem vorgefertigten Bauen. Europa hat inzwischen aus den Fehlern gelernt, wir nicht. Die New Towns haben zu keiner Zeit mehr als 25 Prozent der ange­peilten Bevölkerungszahl erreicht, und bis heute räumt die Regierung nicht einmal ein teilweises Scheitern ein. Die­jenigen New Towns, die erfolgreich waren, wie die „6th of October City“ westlich von Kairo, sind tatsächlich Stadter­wei­terungen, die eher auf natürlichem Wachstum beruhen.
Warum weigern sich die Ägypter denn, die New Towns als Wohnorte anzunehmen?
Die Leute würden schon in die Wüste gehen, wenn sie dort ihren Lebensunterhalt verdienen und eine gewisse Lebens­qualität erwarten könnten. Es ist nicht richtig, den Ägyptern vorzuhalten, dass sie das Niltal nicht verlassen wollen. In den achtziger Jahren war das flache Land quasi eine Welt ohne Männer. Sie waren in den Irak gegangen, nach Libyen oder sonst wohin. Über eine lange Zeit haben wir ein Negativwachstum in den New Towns verzeichnet. Auch wenn jemand dort Arbeit hatte, nahm er seine Familie nicht mit, denn es gab keine Auswahl an Schulen, keine Freizeitangebote, keine Fa­mi­liennetzwerke. Aber wie viele Stadtneugründungen gibt es denn in Europa? Weltweit sind es nur ganz wenige New Towns, die wirklich erfolgreich waren. Wir haben einfach kein Rezept parat, mit dem man neue Städte zum Funktionieren bringt.
Warum aber wird dann immer noch das Leitbild der modernen Stadtplanung verfolgt?
Weil es so einfach ist. Es ist wie mit den Gated Communities. Es gibt einen Prototyp, dieser wird dann verhundertfacht, manchmal schon vertausendfacht. Die Politik will es, die Planer wollen es. Aber es löst kein einziges Problem. Dort kann nur wohnen, wer es sich leisten kann, abgeschottet zu leben. Aber selbst denen, die es sich leisten können, fehlt es an Dienstleistungsangeboten. Ein Beispiel: Der Sohn eines früheren Ministerpräsidenten, ein 19-jähriger Student, starb im Auto neben seiner Mutter als sie versuchte, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Das Auto blieb im Verkehr auf der Ring­autobahn stecken. Sie wohnten in New Cairo, in einer der teuren Gated Communities ohne soziale Infrastruktur und ohne eine ordentliche Verkehrsanbindung.
Also ein dramatisches Beispiel für Orte, an denen es keine Funktionsmischung gibt?
Ja, genau. Informelle Wohngebiete dagegen sind durchmischte Quartiere. Auf sie wird oft herabgesehen wegen ihrer schlechten Bauqualität. Aber bei dem großen Erdbeben 1992 sind die Gebäude im bürgerlichen Heliopolis eingestürzt, in den informellen Bezirken aber kaum eines. Damals waren die meisten Häuser in diesen informellen Gebieten von den Eigen­tümern selbst bewohnt, die Wert auf eine gute Bausub­stanz legten. Auch im historischen Kairo sind viele Gebäude bei dem Erdbeben zerstört worden, da sie aufgrund der gesetzlichen Mietbeschränkungen nur unzureichend instand ge­halten wurden.
Fallen dir Beispiele in Ägypten ein, wie Planer versuchen, von den informellen Quartieren zu lernen?
Es gibt ein Projekt, Hai El-Salam in Ismailia, einer Stadt am Suezkanal. Das war ein wirklicher Erfolg, aber die Behörden sehen es nicht als einen solchen an, denn es gibt nicht das von ihnen gewünschte Bild ab. Kleine Parzellen baureifen Landes wurden zu einem subventionierten Preis verkauft und die Leute bauten sich darauf ihre eigenen Wohnhäuser. Für gewöhnlich ist es so, dass sich die Leute auf diese günstigen,
geförderten Wohnprojekte stürzen, um die Wohnungen später zu Marktpreisen weiterzuverkaufen. Dort aber sind die Leute nicht ausgezogen, sie sind geblieben, weil dieses Viertel ihnen mehr bietet als alles, was auf dem freien Markt zu finden ist. Derzeit haben diese informellen Siedlungen mit ihrer Marktorientierung, ihrer Nutzungsmischung und ihrer hohen Dichte in der Tat mehr Wohnqualität als jedes Projekt des Sozialen Wohnungsbaus aus der Hand professio­neller Planer.
Sind informelle Siedlungen also tatsächlich ein Modell für eine partizipatorische Planung?
Es gibt dort eine horizontale Partizipation der Bewohner untereinander, nicht eine vertikale mit den Autoritäten von oben. Wissen Sie eigentlich, wie eine informelle Siedlung wächst? Wie bildet sich eine informelle Straße? Normalerweise kauft ein Immobilienentwickler von den Bauern Land auf. Er teilt es komplett auf, ohne Straßen einzuplanen. Dann verkauft er alle Teilstücke. Und jeder Grundstückseigentümer lässt dann vor seinem Haus ein 1,50 Meter breites Stück frei, als Beitrag zum Bau der späteren Straße. Das funktioniert ohne Zutun der Verwaltung oder einer Nichtregierungsorganisation. Jeder hält sich an diese Regel. In der Grundstücksgröße spiegeln sich die Kaufkraft der Eigentümer und der Bedarf an einer bestimmten Wohnungsgröße wider. Auf diese Weise wird das gesamte Land verkauft, nur die künf­tigen Hauptstraßen nicht. Dann kommt die Infrastruktur. Je- der, der eine Parzelle erworben hat, ist auf die ein oder an­-dere Weise mit den Nachbarn bekannt. Sie tun sich zusammen und suchen sich einen Bauunternehmer, der die Leitungen für Ver- und Entsorgung verlegt. Die Kosten werden geteilt, ganz ohne Vertrag – und das Prinzip funktioniert überall. Auf diese Weise arbeitet das System partizipatorisch, dort, wo der Staat seiner Rolle nicht gerecht wird oder dies erst nachträglich tut.
Es gibt also viel zu lernen von solchen Mechanismen?
Man muss verstehen, dass partizipatorische Planung ein Prozess gegenseitigen Lernens ist, das ist wichtig. Es darf nicht auf eine patronisierende Art und Weise ablaufen. Ich habe viel über partizipatorische Planung von den Leuten in einkommensschwachen Vierteln gelernt, in informellen wie formellen. Informelle Siedlungen sind nachhaltig. Sie sind kompakt, mehr als 60 Prozent der Bewohner gehen zur Fuß zur Arbeit, weil ihr Arbeitsplatz in der Nachbarschaft liegt. Es gibt dort eine Funktionsmischung, auch eine soziale Mischung. Diese Viertel haben natürlich auch ihre Schwächen, denn einige Dinge wurden nicht bedacht. Vom Grundsatz her fehlt diesem Strickmuster jegliches öffentliche Element: der öffentliche Raum, der öffentliche Verkehr, öffentliche Krankenhäuser, öffentliche Schulen. Stattdessen gibt es Dutzende private oder von der Wohlfahrt getragener Schulen. Und die Bewohner müssen sehr viel mehr bezahlen für Verkehr und Müllabfuhr als die in den „besseren“ Vierteln. Aber, alles was sie zu hören bekommen ist, dass sie Strom stehlen und keine Steuern bezahlen würden. 
Fakten
Architekten Shehayeb, Dina K., Kairo
aus Bauwelt 26.2014
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