Bauwelt

Pionier des virtuellen Raumes

Alberto Giacometti im Kunstmuseum Wolfsburg

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

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© Fondation Giacometti/VG Bild-Kunst, Bonn 2010; Fotos: Marek Kruszewski

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© Fondation Giacometti/VG Bild-Kunst, Bonn 2010; Fotos: Marek Kruszewski


Pionier des virtuellen Raumes

Alberto Giacometti im Kunstmuseum Wolfsburg

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

Die These von Markus Brüderlin, Direktor des Kunstmuseums: Gia­comettis spindeldürre, in den Proportionen überdehnte Figuren vermögen kraft ihrer geradezu existenzbedrohten Verlorenheit in der Leere ganz spezifische räumliche Sphären zu schaffen, die dem Betrachter unmittelbar erfahrbar seien.
Der englische Kunstwissenschaftler John Berger schrieb kurz nach Giacomettis Tod, die radikale Grundannahme, auf die Alberto Giacometti sein ganzes reifes Werk gegründet habe, sei, dass keine Wirklichkeit je mit einem anderen geteilt werden könne. Einerseits traditionalistisch figurativ arbeitend, sei Giacometti andererseits ein extremistischer Künstler gewesen. Der Inhalt jedes seiner Werke sei nicht die Natur der Gestalt, sondern die unvollständige Geschichte seines Blickes darauf. Darum habe Giacometti geglaubt, dass es nicht mög­lich wäre, ein Werk zu vollenden. Es sei denn, durch den Tod des Künstlers, so Berger. Nun stehen die Betrachter heute dort, wo früher Giacometti stand. Und der Blick, den die Figuren zurückwerfen, ist der eines Beobachters von Giacomettis Abwesenheit.
Einer eigenen Interpretation dieser Verschränkung vom Abwesenden im Anwesenden (und umgekehrt) widmen das Kunstmuseum Wolfsburg und das Museum der Moderne in Salzburg die gemeinsam pro­duzierte große Retrospektive zum reifen Werk Giacomettis, also dessen in den Dimensionen größer wer­denden Arbeiten nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit knüpft das Wolfsburger Haus in seiner mitunter sehr sendungsbewussten Theoriebildung an wenigstens zwei seiner vorherigen Ausstellungen an: Die eine be­schäftigte sich 2007/08 mit der „Erfüllten Leere“ der japanischen Ästhetik und ihrer Auswirkung auf Kunst und Architektur der westlichen Moderne (Bauwelt 39.07); die zweite ist die erst vor kurzem zu Ende gegangene Werkschau von James Turrell mit technisch hochgereizten immateriellen Lichträumen seiner Ganzfeld Pieces (Bauwelt 43.09). Die These von Markus Brüderlin, Direktor des Kunstmuseums: Gia­comettis spindeldürre, in den Proportionen überdehnte Figuren vermögen kraft ihrer geradezu existenzbedrohten Verlorenheit in der Leere ganz spezifische räumliche Sphären zu schaffen, die dem Betrachter unmittelbar erfahrbar seien. Giacometti sei somit nicht nur ein Pionier der Kunstgattung der dreidimensionalen Installation, sondern auch des virtuellen Raumes.
Verloren in White Lightcubes
Wie wird nun diese Deutung in der Wolfsburger Ausstellung inszeniert? Eine fragende Annäherung scheint ohnehin nicht die Methode des Hauses zu sein, und so wird auch dieses Mal wieder bekräf­tigend aus dem Vollen geschöpft. Eine atemberaubende Auswahl von 60 Skulpturen, 30 Gemälden und Zeichnungen ist auf 2000 Quadratmetern Ausstellungsfläche versammelt. Hinzu kommen, in die Ausstellung integriert, acht Werke zeitgenössischer Künstler, an denen der ungebrochene Einfluss Gia­comettis nachvollzogen werden soll, sowie eine zeit­weilige Ergänzung der Schau um 31 Arbeiten von 16 Künstlern aus der hauseigenen Sammlung, die so- genannten „Verortungen“. Und drum herum, wie in der über 14 Meter hohen Halle auch nicht so recht anders möglich: eine eigene Ausstellungsarchitektur.
Gleißend weißes Licht ergießt sich nun in den unterschiedlichsten Kompartimenten. In den teils kantenlosen Lichträumen – auf weißen Laufbahnen, in einer Rotunde, entlang nicht immer Klarheit verschaffenden Blickachsen, die dann doch häufig durch unvermeidbare technische Absperrungen behindert werden – beginnt man jedoch früher oder später ein wenig mit Giacomettis Figuren zu leiden. Denn es werden kaum sinnlich anregende Dialoge mit ihnen ermöglicht, geschweige denn intensive Selbstversuche in der leiblichen Konfrontation, um ihre Distanz schaffende, ja geradezu beseelte Präsenz zu erspüren. Es scheint, als sei ein zweiter Teil der These Brüderlins, dass Giacomettis Figuren nämlich nicht nur ihren eigenen Raum bilden, sondern auch ihre ganz eigenen Präsentationsräume benötigen, zumindest nicht durch die gebauten, aseptischen White (Light) Cubes einlösbar. Alberto Giacometti gelingt es, sich der recht anmaßenden Letztinterpretation zu verweigern. Und so bleibt sein Werk auch weiterhin unvollendet.
Fakten
Architekten Alberto Giacometti (1901–1966)
aus Bauwelt 4.2011
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