Paradigmenwechsel am Nil?
Kairo nach der Revolution
Text: Redeker, Cornelia, Kairo; Seidel, Florian, Kairo
Paradigmenwechsel am Nil?
Kairo nach der Revolution
Text: Redeker, Cornelia, Kairo; Seidel, Florian, Kairo
Seit dem Sturz des Mubarak-Regimes im Januar 2011 in Ägypten hat sich auch das Umfeld für Architekten und Stadtplaner verändert. Sie versuchen, die historische Situation zu nutzen und fordern mehr Öffentlichkeit und Beteiligung
Dreieinhalb Jahre nach dem Beginn des Arabischen Frühlings hat der öffentliche Raum in Kairo die Rolle des Politischen verloren. Der Wunsch einer ermüdeten Gesellschaft nach Normalität birgt die Gefahr einer Rückkehr zu Selbstzensur und zu politischen Strukturen, die Auslöser der Demonstrationen im Januar 2011 waren. Und dennoch hat die Revolution gerade auch in den dringlichen Fragen des Wohnungsbaus und der Stadtentwicklung ihre Spuren hinterlassen: Architekten, Stadtplaner und Denkmalschützer fordern, unterstützt von internationalen NGOs und Hilfsorganisationen, einen Paradigmenwechsel in der Planungskultur. Sie versuchen, aus den informellen Siedlungen und den Strategien ihrer Bewohner zu lernen, und das Vakuum der formellen Planung zu füllen, das dreißig Jahre Mubarak-Regime und die rasch wechselnden Regierungen hinterlassen haben. Einige dieser Akteure wollen wir in diesem Heft vorstellen.
Leerstand und Fehlplanung
Mit 20 Millionen Einwohnern erscheint die Megastadt Kairo beispielhaft für die so oft prognostizierte, aber nie eintretende urbane Apokalypse. Trotz städtischer Armut, Umweltverschmutzung jenseits aller Grenzwerte (laut WHO liegt Kairo auf Platz 2 gleich hinter Beijing), Dauerstau bis zum Stillstand, unterlegt mit der typischen Soundcollage aus Hupgeräuschen und den Rufen der Muezzine, funktioniert diese Stadt „außer Kontrolle“ auf magische Art und Weise weiter. Kairo oder „Oum al Dunja“ (Mutter der Welt) ist ein Teppich dicht gewobener städtebaulicher Muster islamischer, kolonialer, sozialistischer und nicht zuletzt eklektischer Prägung. Hinzu kommen die informellen Siedlungen aus Stahlbetonstrukturen mit einschaliger Ziegelfüllung, in denen 60–80 Prozent der Bevölkerung wohnt. Als sich ausbreitende urbane Baumasse stellen sie insbesondere im Niltal eine Bedrohung dar: Bewirtschaftbare Flächen sind eine knappe Ressource in Ägypten, nur vier Prozent des Landes (das Niltal und das Nildelta) sind agrarisch nutzbar, der Rest ist Wüste und nur unter enormem Aufwand zu kultivieren. Durch das Ausbleiben formeller Planungen und Investitionen hat die informelle Stadtentwicklung seit der Revolution eine bisher ungekannte Dynamik erreicht. Das Wachstum dieser Siedlungen hat sich nach Erhebungen des Stadtökonomen David Sims seit 2011 um den Faktor 4,5 beschleunigt. Mit geschätzten 20.000 Personen pro Quadratkilometer hat „Greater Cairo“ eine der höchsten urbanen Dichten weltweit und mit eineinhalb Quadratmetern pro Einwohner einen der niedrigsten Grünflächenanteile. Wer es sich leisten kann, wählt das Modell Suburbia.
So zieht die wachsende Mittelklasse aus den zentralen Stadtteilen in die Entlastungsstädte in der Wüste. Die „New Urban Communities“ werden seit den siebziger Jahren auf ehemals militärischen Flächen geplant, um den Druck auf die Flächen des Niltals zu mindern. Dies hat einen spekulativen Immobilienmarkt generiert, der weder räumlich noch sozial auf die bestehenden Bedürfnisse der meisten Wohnungssuchenden eingeht. Werbetafeln der Projektentwickler entlang der erst 2005 fertiggestellten „Ringroad“, der Stadtautobahn von Kairo, preisen in englischer Sprache lauschig-grüne Gated Communities an. Oft kaufen Familien mehrere Wohnungen in einem Gebäude, um für die nächste Generation vorzusorgen. Das typische Modell des Mehrgenerationenwohnens entspricht der vorherrschenden Gesellschaftsform Großfamilie. Immobilien werden als einzig sichere Anlage gesehen. Der exorbitant steigende Bodenpreis gibt den Käufern bisher recht.
Gleichzeitig gelingt es dem Staat nicht, mit seinen Wohnungsbauprojekten, die schon in den fünfziger Jahren eingeführt wurden und seit den Neunzigern auch in den neuen Wüstenerweiterungen realisiert werden, die eigentlich Bedürftigen zu erreichen. Es fehlen ein nachvollziehbares Vergabesystem, öffentliche Verkehrsanbindungen, Arbeitsmöglichkeiten und Grundrisse, die multifunktional nutzbar sind. Ägyptens staatliche Wohnungsbauprogramme, von Sims als „endlos anhaltende Liebesaffäre“ bezeichnet, werden in großem Umfang geplant, ihr Erfolg leider nur in gebauten Wohneinheiten gemessen. Tatsächlich fehlt ein Konzept für die wirklich Bedürftigen, die auf lokale Mikroökonomien und damit auf eine höhere städtebauliche Dichte angewiesen sind. Die Einwohnerzahlen der neuen Wüstenstädte bleiben daher weit hinter den Erwartungen zurück. Trotz des enormen Bedarfs an bezahlbarem Wohnraum gibt es geschätzt eine Million unbezogene Wohnungen sowohl in den zentralen Stadtteilen als auch im Großraum Kairo. In den älteren Vierteln steht der Wohnungsbaubestand aufgrund von fehlenden Mieteinnahmen leer, eine Folge des Fixmietensystems, das unter Gamal Abdel Nasser in den fünfziger Jahren eingeführt wurde und teilweise einstellige Mieten auch in priviligierten Lagen hervorgebracht hat. In den informellen Siedlungen, wo die Mieten deutlich höher liegen, fehlt oftmals die Infrastruktur, während in den Satellitenstädten in der Wüste Rohbauten neben nur teilweise bewohnten Prunkvillen stehen und vorübergehend von Wanderarbeitern und ihren Familien bewohnt werden. Dem Verfall von Downtown, dem kolonialen Teil der Innenstadt, versucht seit 2006 die Immobilienwirtschaft durch den strategischen Ankauf einzelner Gebäuden Einhalt zu gewähren.
Clanstrukturen versus Bildungselite
Sechzig Prozent der etwa 85 Millionen Einwohner Ägyptens sind jünger als 29 Jahre, fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung sind Analphabeten. Alle zehn Monate steigt die Einwohnerzahl um eine Million an – alleine seit 2011 ist sie um vier Millionen Menschen gewachsen, während das Land in eine tiefe Krise stürzte. Es fehlt nicht nur ein funktionierender Arbeitsmarkt, auch das Ausbildungssystem bleibt hinter den Notwendigkeiten zurück. Gleichzeitig gibt es eine westlich orientierte Geld- und Bildungselite, die sich eine repräsentative Stadt wünscht, eine Stadt, die ihrer Historie und Internationalität gerecht wird. Der vorerst letzte Versuch des Wohnungsbauministeriums, dieser Klientel zu entsprechen, war die Planung „Cairo 2050“ aus dem Jahr 2008, ein neoliberalistisches Modell, das den informellen Bestand der Stadt leichtfüßig überschreibt (siehe Seite 29). Es steht für eine Entwicklung, die sich eher an den Golfstaaten als an den tatsächlichen Gegebenheiten orientiert. In diesen Parallelwelten, die zum Teil mittelalterlich wirken (wie die selbstregierten Clanstrukturen auf den innerstädtischen, vorwiegend landwirtschaftlich genutzten Nilinseln), zum Teil an die segregierten Gesellschaftsstrukturen des 19. Jahrhunderts in Europa erinnern, agiert eine Armada von NGOs, internationalen Hilfsorganisationen, und anderen urbanen Akteuren.
Die zukünftige Entwicklung Kairos wird davon abhängen, inwieweit sich die staatliche Planung öffnen wird, um die bestehenden informellen Siedlungen und deren Potenzial der Selbstorganisation in eine langfristige Planung zu integrieren – so wie es unsere Gesprächspartner bereits tun. Der Großraum Kairo unterliegt nicht einer Verwaltungseinheit, sondern gleich dreien, die Stadt Kairo gibt es in dem Sinn nicht. Die Stadt bedarf jedoch einer Gesamtstrategie, die Fragen der Ressourcenknappheit in verschiedensten Bereichen (Wasser, Elektrizität, Diesel, Bildung und Jobs) als Ausgangspunkt nimmt, um nachhaltige Lösungen entwickeln zu können. Auch die Architektenausbildung muss sich mit der wachsenden Informalität beschäftigen; die Projekte und Ansätze in diesem Heft beschreiben neue Handlungsfelder für unsere Disziplin, die in einem Großteil der sich urbanisierenden Welt relevant sind.
Die Schlacht um Referenzrahmen
Nach Revolution, Absetzung der ersten demokratisch legitimierten, aber (zum Missfallen liberaler und sekulärer Kräfte) islamischen Regierung und den Neuwahlen im Juni dieses Jahres bleibt die weitere Entwicklung der Stadt unklar. Seit dem Sturz des Mubarak-Regimes haben sich in schneller Folge drei politische Systeme abgewechselt: Einer Regierungszeit des Militärrats folgte die kurzlebige Herrschaft der Muslimbruderschaft, 2013 übernahm wiederum ein vom Militär eingesetzter Übergangspräsident die Macht. Die Straßen Kairos, die zunächst als Bühne einer friedlichen Revolution dienten, wurden zum Schauplatz oft blutig ausgetragener politischer Auseinandersetzungen. Der öffentliche Raum der Stadt wurde von Straßenverkäufern und fliegenden Straßencafés übernommen, die Kriminalität hat in der Wahrnehmung der meisten Beobachter zugenommen, und das vom Verfall bedrohte Ägyptische Pfund wurde in immer rasanterem Tempo in Betongold angelegt. Die Zeit schneller Systemwechsel hat mit dem neuen, abermals aus dem Militär stammenden Präsidenten Abdelfattah El Sisi wahrscheinlich ein Ende gefunden. Lösungen für die tiefgreifenden demographischen und sozio-ökonomischen Probleme des Landes sind damit nicht einfacher geworden.
Die Herausforderung, die sich für Kairo und für Ägypten nach wie vor stellt, benennt der Urbanist Omar Nagati als „die Schlacht um Referenzrahmen“. Sie zieht sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche und reflektiert die Identitätskrise eines durch äußere Einflüsse geprägten Landes: Scharia oder Neufert? Oder gibt es einen neuen Wertekanon jenseits von fundamentalistischem und modernistischem Entweder-Oder? Welche Wertevorstellungen treffen den Nerv der Zeit? Es bleibt zu hoffen, dass die jüngsten politischen Entwicklungen eine Diskussion zulassen anstelle einer Schlacht, beziehungsweise, wie es seit der jüngsten Wahl scheint, einer Zensur. Ein mögliches Modell dafür gibt es. Auf dem World Urban Forum in Medellín Anfang des Jahres präsentierte sich Ägypten mit drei Akteuren: Die staatlichen Planungsinstitutionen teilten sich einen Präsentationsstand mit UN Habitat und einigen Akteuren dieses Heftes. Ein Schulterschluss zwischen Think Tanks, Architekten und Stadtplanern, gemeinnützigen Plattformen und den offiziellen Institutionen nicht nur zu Repräsentationszwecken – das kann eine produktive Perspektive für Kairos Stadtentwicklung sein.
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