Die Abrissfrage
Text: Strothmann, Hannah, Berlin
Die Abrissfrage
Text: Strothmann, Hannah, Berlin
Vor rund 150 Jahren diagnostizierte Friedrich Engels in seiner Artikelreihe „Zur Wohnungsfrage“, dass die Wohnungsnot untrennbar mit den Besitzverhältnissen des Kapitalismus verknüpft sei. Mehr Wohnungen zu bauen oder Mieten zu regulieren, reiche nicht aus, solange Grund und Boden sowie Produktionsmittel in privater Hand bleiben, konstatierte Engels. Luise Rellensmann und Alexander Stumm greifen mit ihrem Buch „Die Abrissfrage“ nicht nur im Titel Engels Analyse auf: Verschiedene Beiträge untersuchen den systemischen Zusammenhang von Abriss, Neubau, Verdrängung und Spekulation und hinterfragen die ideologischen Hintergründe.
Der Band eröffnet die neue Reihe „Fundamente Ökologisches Bauen“ im Jovis Verlag und versammelt auf 176 Seiten Essays sowie von Studierenden erarbeitete Steckbriefe verschiedener Abrissprojekte in Berlin, Brandenburg, Kassel und München. Im Zentrum steht eine unbequeme These: Abriss ist keine Ausnahme, sondern Normalfall. In Deutschland werden jedes Jahr schätzungsweise rund 50.000 Gebäude abgerissen. Abriss bildet das „konstituierende Element der Moderne“, so die Herausgeber. Was im 19. Jahrhundert mit dem von Haussmann initiierten Stadtabriss und -neubau in Paris begann, zieht sich als roter Faden bis in die Gegenwart: In ihrem gemeinsamen Essay skizzieren Rellensmann und Stumm einen historischen Streifzug durch zweihundert Jahre Abrissgeschichte, mit Fokus auf Europa und die USA. Abrissprojekte der DDR im Kontext der Nachkriegsplanung werden zumindest gestreift. Dieser historisch und geographisch eingegrenzte Fokus ist insofern nachvollziehbar, als hier die industrialisierte Stadt ihren Ursprung nahm – und mit ihr eine bis heute wirkmächtige Logik: Abriss als Voraussetzung für Modernisierung und Investition, wobei die sozialen und ökologischen Folgekosten ausgeklammert werden. Neben Haussmann treten in der schlaglichtartigen Geschichte auch Le Corbusier und Rem Koolhaas als Protagonisten auf.
Das Buch zeichnet nach, wie sich aus der Abrisspraxis eine eigene Ökonomie entwickelte, in der Bauunternehmen und Investoren profitieren, während sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen aus den Städten verdrängt werden. Eindrücklich zeigt dies der Essay von Laura Calbet Elias über die Gentrifizierungsdynamiken beim Abriss von Mehrfamilienhäusern in Berlin. Rund die Hälfte dieser Gebäude weicht dort hochpreisigen Wohnungsneubauten – Abriss wird zur effizienten Verdrängungsstrategie, die das Mietrecht umgeht. Zwar gilt in Berlin seit 2014 das Zweckentfremdungsverbotsgesetz, wonach der Abriss von Wohnraum genehmigungspflichtig ist und nur in Ausnahmefällen gewährt wird. Dochlegale Schlupflöcher und eine fragwürdige Genehmigungspraxis schwächen das Gesetz, wie ihr Beitrag zeigt.
Experimenteller fällt die Recherche von Martha Seeger und Lukas Strasser über „penetrierende Werkzeuge und phallische Bagger“ aus, in dem sie eine Sexualisierung von Abrisswerkzeugen in der medialen Darstellung untersuchen. Anhand sprachlicher Muster und Medialisierungsstrategien zeigen Seeger und Strasser, wie patriarchale Machtstrukturen die Branche durchdringen. Das anschließende Glossar zu „Abrisswerkzeugen und Genderkompetenz“ lässt auf den „Hydraulikhammer“ „Intersektionalität“ folgen und versucht, als sprachliche Einladung zum Umdenken zu wirken.
Auch zeitgenössische Anti-Abriss-Initiativen kommen zu Wort, die teils erfolgreich intervenieren. So konnte die Initiative AbbrechenAbrechen das brutalistische Justizzentrum in München zumindest vorerst vor dem Abriss bewahren. Stumm widmet der westdeutschen Anti-Abriss-Bewegung einen eigenen Beitrag, deren Engagement zeigt, dass die Kritik der Abriss-praxis nicht neu ist. Seit den 1960er-Jahren wird ein Paradigmenwechsel in der Planung hin zum Umbau gefordert. Dass am Ende des Buches das Abrissmoratorium steht, ist ein politisches Statement.
Die Publikation versammelt ein breites Spektrum von Abrissdiskursen, -praktiken und -geschichten. Ihre Stärke liegt in der Verbindung vonArchitekturgeschichte und politischer Ökonomie. Abriss erscheint hier als Symptom eines Systems, das auf Profit, Verdrängung und Ressourcenverschwendung basiert. Damit ergänzt die Publikation die wachsende Literatur zu Umbau und Bestandstransformation. Während dort die Chancen des Weiterbauens gefeiert werden, lenken die Essays den Blick auf die Kehrseite: die Abrisspraxis und den Kampf um den Erhalt des Bestands gegen mächtige ökonomische Interessen.







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