„Es geht um mehr als nur um Raum, es ist vor allem ein Streit um Deutungshoheit und um Normen“
Interview mit Omar Nagati und Beth Stryker
Text: Redeker, Cornelia, Kairo; Seidel, Florian, Kairo
„Es geht um mehr als nur um Raum, es ist vor allem ein Streit um Deutungshoheit und um Normen“
Interview mit Omar Nagati und Beth Stryker
Text: Redeker, Cornelia, Kairo; Seidel, Florian, Kairo
In Downtown, nur wenige Minuten vom Tahrir-Platz entfernt, betreten wir ein opulentes, aber völlig heruntergekommenes Treppenhaus des 19. Jahrhunderts und suchen zwischen schlafenden Hausmeistern, Reisebüros und Anwaltskanzleien nach CLUSTER. Omar Nagati und Beth Stryker haben das Büro 2011 kurz nach der Revolution gegründet und es sich zur Aufgabe gemacht, die unscharfen Grenzen zwischen institutionellen Regeln und der Informalität des ägyptischen Alltags neu zu verhandeln.
Ihre Projekte sind vielfältig. Sie arbeiten partizipatorisch in informellen Siedlungen und vertreten die Interessen der Straßenverkäufer in der Nachbarschaft. Sie kuratieren Ausstellungen, veranstalten Konferenzen – und bauen im Bestand, vorzugsweise in einer der vielen leerstehenden Passagen der kolonialen Innenstadt. Ihr Ziel ist es, die vernachlässigten Räume des Viertels für die Kunst- und Kulturszene nutzbar zu machen.
Cluster steht für „Cairo Lab for Urban Studies, Training and Environmental Research“. Was macht ihr?
Omar Nagati | Nach der Revolution waren wir im Wesentlichen damit beschäftigt, Werkzeuge und Verfahrensweisen zu entwickeln, um den flüchtigen Moment festzuhalten. Das haben wir in der Publikation „Archiving the City in Flux“ dokumentiert. Dabei haben wir Aktivitäten wie die von den Anwohnern selbst angelegten Ausfahrten von der Ringautobahn oder das exponentielle Wachstum der fliegenden Straßenhändler kartiert. In dieser Phase war der Staat sehr schwach und angreifbar, unfähig oder unwillig zu agieren und „die Ordnung in der Stadt“ wiederherzustellen. Die Menschen fühlten sich durch die Revolution ermächtigt und selbst in der Lage, ihr Recht auf die Stadt und den öffentlichen Raum geltend zu machen. Unser Standort in Downtown Cairo ist kein Zufall, er zwingt uns jeden Tag aufs Neue, scheinbar gesicherte Tatsachen zu überdenken.
Der Ard Al-Liwa Community Park in Kairo ist ein partizipatorisches Projekt mit dem Ziel, einen verbindenden grünen Korridor zwischen einem formellen und einem informellen Stadtviertel zu schaffen. Was war eure Rolle in diesem Prozess?
ON | Die Bewohner lehnten sich gegen das an dieser Stelle geplante städtische Wohnungsbauprojekt auf und stellten es infrage. Sie organisierten sich in Komitees, stoppten die Bulldozer und wandten sich an uns, um mit uns zusammen einen Entwurf für einen Park mit Gemeinschaftseinrichtungen zu entwickeln. Unser Auftraggeber ist also nicht der Gouverneur von Giza; Mandat und Legitimation lassen sich aus der Community ableiten, mit der wir seit zweieinhalb Jahren ehrenamtlich zusammenarbeiten. Die Initiative und die Vision für diesen Park wurde von den Bewohnern selbst entwickelt, dann kamen wir als Planer mit unserer technischen Expertise dazu und verhandelten mit den Behörden. Ein alternativer Entwurfsprozess wie dieser wäre vor der Revolution nicht möglich gewesen. Seit dem Beginn des Projekts hatten wir vier verschiedene Bauminister. An dem Projekt sind fünf Ministerialverwaltungen beteiligt, und inzwischen auch noch das Militär. Von jeder Behörde mussten wir uns Genehmigungen beschaffen, ohne überhaupt von offizieller Seite beauftragt worden zu sein. Bis wir das erreicht hatten, waren unsere Ressourcen restlos erschöpft. In den vergangenen beiden Jahren hat sich das Machtverhältnis zwischen Bevölkerung und Staat bereits entscheidend verschoben: Früher hätte die Regierung einfach gebaut, ohne sich groß um die Anwohner zu scheren. Heute bewegen wir uns in dieser sonderbaren Situation, von der wir wissen, dass sie zu Ende gehen wird. Wir müssen diesen historischen Moment nutzen, bevor wir zum Business-as-usual zurückkehren – was wir im Prinzip fast schon getan haben.
In Downtown arbeitet ihr an ganz unterschiedlichen Projekten. Ihr habt die Passagen des Stadtviertels kartiert, die Interessen der Straßenhändler vertreten und arbeitet jetzt auch an Umbauten im Bestand, eine Galerie ist fertig, ein Kino im Bau. Was ist eure Vision für das Viertel?
ON | Als Hinterhof von Tahrir stellt Downtown Cairo etwas Einzigartiges dar. Seine heterogene Bewohnerschaft macht es zu einem guten Versuchsfeld für Verhandlungsprozesse mit allen Beteiligten. Die Passagen und Durchgänge als alternative Struktur für die Entwicklung des Zentrums sind nicht nur eine bauliche Gegebenheit, sondern verkörpern eine eigene Welt zwischen öffentlich und privat, formell und informell. Sie sind Räume des Übergangs und der Veränderung, weg von der Straße, geschützt vor Verkehr, vor Lärm und Schmutz. Sie bieten dadurch die seltene Gelegenheit einer etwas anderen Lage für Bars, Cafés und Nachtclubs – und das direkt neben Moscheen, Buchläden und Kunstgalerien, wobei diese friedliche Koexistenz erst durch die scheinbare Unsichtbarkeit ermöglicht wird. Unsere Untersuchungen sollen in einer Karte von Downtown münden, die sowohl zu Baudenkmälern als auch zu Räumen der Kunst führt. Die Interventionen, die wir gerade machen, sind eine Art Prototyp für diese Idee.
Beth Stryker | Wir testen mit der Revitalisierung ungenutzter Flächen die Rolle von Kunst und Kultur als urbane Katalysatoren. Wir wollen herausfinden, wie diese innerstädtischen Passagen zu diversifizierten, erreichbaren und lebendigen öffentlichen Räume umgestaltet werden können und was Kunst und Kultur dazu beitragen. Jüngst haben wir vier Räume an der Kodak Passage renoviert, die wir für die erste größere Ausstellung in Kairo über das Werk von Hassan Khan, den international bekannten ägyptischen Künstler, genutzt haben. Kairo unterscheidet sich in dieser Hinsicht erheblich von New York oder Berlin. Bei uns sind die Voraussetzungen für eine Ausstellung dieser Art eben nicht so ohne Weiteres gegeben. Die besagten Grundstücke sind im Besitz von Al Ismaelia, von Immobilienentwicklern, die in den letzten zehn
Jahren Gebäude in der Innenstadt aufgekauft haben, um dort letztendlich Gewerbe unterzubringen. Unsere Vereinbarung über die Nutzung dieser Flächen ist zeitlich begrenzt. Die Ausstellung lief einen Monat lang. Wir möchten dort gerne auf Dauer ein Kunstzentrum etablieren, aber das wird schwierig, denn da sind konkurrierende kommerzielle Kräfte im Spiel.
Jahren Gebäude in der Innenstadt aufgekauft haben, um dort letztendlich Gewerbe unterzubringen. Unsere Vereinbarung über die Nutzung dieser Flächen ist zeitlich begrenzt. Die Ausstellung lief einen Monat lang. Wir möchten dort gerne auf Dauer ein Kunstzentrum etablieren, aber das wird schwierig, denn da sind konkurrierende kommerzielle Kräfte im Spiel.
„Learning From Cairo“ war der Titel des internationalen Symposiums, das ihr im Frühjahr 2013 organisiert habt. Was kann man lernen, und wie geht eure Arbeit weiter?
ON | Wir versuchen, einen „common ground“ herzustellen: Zwischen dem staatlichen Sektor, den Ämtern und Behörden wie der „General Organization for Urban Harmony“ (der Denkmalschutzbehörde, Anm.d.Red.) auf der einen Seite und dem privaten Sektor auf der anderen, den Investoren von Al Ismaelia, den Ladenbesitzern, Straßenhändlern und anderen Beteiligten. Und zwar nicht in einem abstrakten Habermas’schen Sinn, sondern durch konkrete Projekte. Es wäre viel besser, wenn jeder 60 Prozent seiner ursprünglichen Ziele erreichen würde, als wenn am Ende ein Nullsummenspiel mit einem totalen Ausschluss und der Beibehaltung des Status quo herauskäme. Derselbe Kampf, der sich auf nationaler Ebene um die Verfassung abspielt, spielt sich auf den Bürgersteigen der Städte im Kleinen ab. Es geht um mehr als nur um Raum, es ist vor allem ein Streit um Deutungshoheit und um Normen.
BS | Wir arbeiten an der Entwicklung eines Downtown Arts Council, um den unterschiedlichen Stimmen in der Kulturszene Gehör zu verschaffen und eine gemeinsame Vorstellung von der Zukunft zu formulieren, aber da stecken wir noch in der Anfangsphase. Die Idee entstand im Tandem mit der Cairo Urban Initiatives Platform (CUIP), die wir initiiert haben. Das ist eine Reihe von Netzwerktreffen mit künstlerischen und städtischen Initiativen, die sich auf den öffentlichen Raum in Kairo beziehen. Diese Veranstaltungen führten zu unserer Karte im Web und dem interaktiven gemeinsamen Kalender (www.cuipcairo.org) zur Förderung der Kommunikation und Zusammenarbeit der Gruppen untereinander.
Seit der Revolution 2011 gibt es eine Vervielfachung neuer Initiativen und einen Zustrom an Fördermitteln, die aber im Wesentlichen aus dem Ausland kommen. Zwangsläufig nimmt diese Art der Förderung irgendwann wieder ab. Unsere Arbeit muss also darin bestehen, dauerhafte Netzwerke aufzubauen und einen Wissenstransfer in Gang zu bringen. So haben wir anlässlich des Aufbaus der Hassan-Khan-Ausstellung einige internationale Experten dazugeholt, Leute aus Deutschland, die mit der audiovisuellen Installation geholfen haben, aus New York, um bei den Details der Kunstinstallationen zu beraten. Das sehen wir als Chance, die wir auch gleich bei der Weiterbildung der einheimischen Fachleute genutzt haben, auch bei der Ausbildung der Studenten.
Vorhandene Zwischenräume in Kairo werden von informellen Akteuren meist intensiv genutzt. Hat sich diese Situation in den letzten Monaten verändert?
ON | Es gibt dieses immerwährende Spiel oder Ritual der Vertreibung der Straßenhändler, die nach zwei Stunden alle wieder da sind. Dabei ist es nicht möglich, sie ganz und gar fernzuhalten. Aber sie gewähren zu lassen, ist auch keine Lösung, besonders nicht für die ansässigen Ladenbetreiber. Die Frauen, die hier vorbeikommen, fühlen sich belästigt, für die Denkmalpfleger ist es ein Desaster. Wir versuchen,
diesen Konflikt zu entschlüsseln, indem wir durch ganz einfache Vorschläge den Akteuren einen Verhandlungsspielraum anbieten. Wir bauen zum Beispiel Modelle, bei denen der Gehweg um 50 Zentimeter verbreitert wird, schlagen alternative Lagerräume vor und beschränken zur gleichen Zeit die Anzahl der fliegenden Händler. Wir arbeiten auch mit juristischen Beratern zusammen, die den Straßenhändlern dabei helfen, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Der Tahrir-Platz ist im Prinzip das perfekte Beispiel für das, was die Regierung heute will. Nach den zahlreichen Räumungen geht es ihnen heute um eine neue Pflasterung, eine Bepflanzung und die Wiedererrichtung von Denkmälern, also ganz allgemein um eine Verschönerung des Platzes. Zugleich kontrolliert die Regierung den Zugang zum Platz und damit mögliche politische Aktionen.
diesen Konflikt zu entschlüsseln, indem wir durch ganz einfache Vorschläge den Akteuren einen Verhandlungsspielraum anbieten. Wir bauen zum Beispiel Modelle, bei denen der Gehweg um 50 Zentimeter verbreitert wird, schlagen alternative Lagerräume vor und beschränken zur gleichen Zeit die Anzahl der fliegenden Händler. Wir arbeiten auch mit juristischen Beratern zusammen, die den Straßenhändlern dabei helfen, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Der Tahrir-Platz ist im Prinzip das perfekte Beispiel für das, was die Regierung heute will. Nach den zahlreichen Räumungen geht es ihnen heute um eine neue Pflasterung, eine Bepflanzung und die Wiedererrichtung von Denkmälern, also ganz allgemein um eine Verschönerung des Platzes. Zugleich kontrolliert die Regierung den Zugang zum Platz und damit mögliche politische Aktionen.
Glaubt ihr, dass die neue Regierung die Zusammenarbeit mit Büros wie dem euren suchen wird?
ON | Im Unterschied zu der Situation vor einem Jahr ist die Regierung heute in einer viel stärken Position. Straßenproteste, gar Volksaufstände sind nicht mehr möglich. Warum sollten sie also auf die Leute von der Basis hören? Sie können einfach „Cairo 2050“ neu verpacken und als „Cairo 2051“ präsentieren, mit derselben neoliberalen Ausrichtung – eine Vision, die allerdings schon rein technisch nicht möglich ist. Ob man das als zweite Revolution oder als Konterrevolution ansieht – die Wirkung auf die Basis ist dieselbe.
Wie könnte die nächste Phase aussehen?
ON | Als Optimist würde ich gerne glauben, dass eine Revolution ein langer Prozess und deshalb noch nicht zu Ende ist, besonders weil sich die Grundbedingungen nicht geändert haben: wirtschaftliche Polarisierung, soziale Ungleichheit und räumliche Segregation sind die Gründe für die Unzufriedenheit und Anlässe für mögliche Unruhen. Bestimmte politische Ideologien sind jetzt verboten, aber die Leute sind bereits politisiert und könnten sich in anderen Zusammenhängen wieder radikalisieren, als Studentenbewegung oder als anarchistische Bewegung neu konstituieren. Jeder der in Kairo lebt, kann die Armut sehen, an Elend und Verzweiflung hat sich nichts geändert. Solange die Kluft zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen und vor allem die Wahrnehmung dieses Zustands nicht thematisiert wird, kann man die Zukunft von Kairo nicht voraussehen.
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