Bauwelt

Efeu, Spinnennetz und Fliegenei – die Natur als Entwickler

Text: Wilke, Claudia, Berlin

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Solar Ivy (production)

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Solar Ivy (production)


Efeu, Spinnennetz und Fliegenei – die Natur als Entwickler

Text: Wilke, Claudia, Berlin

Bei der Optimierung von technischen Produkten und Materialien orientieren sich Forscher wieder zunehmend an Bauprinzipien und Strategien aus der Tier- und Pflanzenwelt. So auch in der Architektur. Doch wer dabei an biomorphe Formen denkt, liegt falsch: Dem bionischen Hightech sieht man seinen biologischen Urspung oft nicht an.
Eine der bekanntesten bionischen Anwendungen ist der Lotuseffekt, der Mitte der siebziger Jahre entdeckt wurde. Mittlerweile gibt es auch in der Bauindustrie viele Produkte, die mit selbstreinigenden „Lotus“-Beschichtungen aufwarten. Aber auch andere Produkte auf dem Markt profitieren vom Erfindungsreichtum der Natur. Weltweit wird in Universitäten und Firmen daran gearbeitet, die Nachteile gängiger Materialien und Konstruktionen zu verringern, die oft schwerer und verschleißanfälliger sind als manch evolutionär optimiertes Produkt der Natur.  

Künstliches Blattwerk erzeugt Strom

Herkömmliche Solarzellen auf Silizium-Basis haben einen entscheidenden Nachteil: Ihre Herstellung verbraucht viel Energie, deren Einsatz sich, je nach Bauart, erst nach eineinhalb bis fünf Jahren amortisiert. Wesentlich umweltschonender lässt sich die Dünnschicht-Farbstoff-Solarzelle herstellen, die durch Imitation der Photosynthese Strom erzeugt. Anstelle von Chlorophyll wird der künstliche Farbstoff Ruthenium eingesetzt. Die Zelle erzeugt Strom durch einen von der Sonne angeregten chemischen Prozess, bei dem Elektronen freigesetzt werden. Während bei der ersten Generation noch mit herkömmlichem Glas als Trägermaterial gearbeitet wur­de, bieten flexible Kunststoffe wie  Power Plastic inzwi­schen ganz neue Gestaltungsmöglichkeiten. Dies macht sich eine Firma aus New York mit ihrem Produkt  Solar Ivy  – Solar­­­­efeu – zu Nutze. Die blattgroßen Solarmodule hängen wie eine Pflanze an einem an der Hauswand montierten Netz und erzeugen Strom sowohl durch Umwandlung des Sonnenlichts als auch durch Wind, der die „Blätter“ bewegt.

Glasfassaden werden intelligent
Während die Solarmodule die Energie der Sonne optimal ausnutzen sollen, möchten die Hersteller von selbstverschattenden Fenstern das genaue Gegenteil erreichen. Die Fenster sollen im Sommer Gebäude mit Glasfassaden vor Überhitzung schützen. Auch dieses Produkt macht Anleihen bei der Natur: Tiere ohne Fell- oder Federkleid sind in der Lage, bei starker Sonneneinstrahlung kurzfristig hohe Mengen von Melaninpigmenten in die oberen Hautschichten einzulagern. So werden die Zellen vor den gesundheitsschädlichen UV-Strahlen geschützt. Nimmt die UV-Belastung ab, wandern die Pigmente innerhalb weniger Stunden zurück in die Depots in den tieferen Hautschichten. Dieses Prinzip machen sich elek­tro­chro­matische Fenster zu Nutze. Ausgelöst von elektrischen Im­pulsen wandern Ionen durch ein Materialsandwich aus stromleitenden und fotosensiblen Schichten und bewirken, je nach Richtung der elektrischen Spannung, eine Verdunkelung oder Aufhellung der Glasscheibe. Auf diese Weise können, nach Angaben der Hersteller, die Kosten für die Kühlung des Ge­bäudes um bis zu 40 Prozent gesenkt werden. Mittlerweile sind auch thermotrope Fenster auf dem Markt, die ohne Strom funktionieren.
Neben der Gefahr der Überhitzung haben Glasfassaden eine weitere unangenehme Folge, die in der Fachsprache lapidar als „Vogelschlag“ bezeichnet wird. Täglich sterben in Europa 250.000 Vögel beim Aufprall auf Fensterscheiben. Mittlerweile scheint es jedoch eine wirksame bionische Lösung für das Problem zu geben. Die Firma Arnold Glas vertreibt seit einigen Jahren die Vogelschutzglasscheibe  Ornilux.  Die Hersteller nutzen dabei die Tatsache, dass Vögel ein im UV-Bereich liegendes Sehspektrum haben und bedrucken Glasscheiben mit einem UV-Licht reflektierenden Muster. Ähnlich wie bei biometrischen Ausweisen können Menschen dieses nur unter einem bestimmten Lichteinfallswinkel erkennen. Vögel hingegen nehmen das Muster als Hindernis wahr und weichen der Glasscheibe aus. Die Inspiration holten sich die Entwickler von Radnetzspinnen, deren Seide UV-Licht reflektiert.

Technische Pflanzenhalme für den Hochhausbau
Auch die Weiterentwicklung klassischer Baumaterialien schreitet voran. Insbesondere beim Hochhausbau ist das hohe Eigengewicht der Bauteile ein Problem. Bei dem zurzeit höchsten Wolkenkratzer, dem Burdsch Chalifa in Dubai, kam in den unteren Etagen eine Stahlbetonmischung zum Einsatz, die ei­ner Kraft von 100 Newton pro Quadratmillimeter standhält. Damit sind die technischen Grenzen so gut wie ausgereizt. Will man noch höher bauen, braucht man ein Material, das belastbar wie Stahlbeton, zugleich aber leichter als Aluminium ist. Zurzeit arbeiten Forscher am Institut für Textilentwicklung und Materialverarbeitung in Denkendorf gemein­­sam mit der Plant Biomechanics Group der Universität Freiburg an einem solchen Werkstoff. Botanisches Vorbild ist der materialsparende Aufbau von Pfahlrohr und Schachtelhalm. Für den  Technischen Pflanzenhalm  werden in einer Flechtmaschine Kunststofffasern ringförmig miteinander verflochten. Anschließend wird das Gewebe durch Hitze ausgehärtet. Das Material ist extrem leicht, zugleich hart und flexibel sowie „gutmütig“ im Bruchverhalten und kann so angeordnet werden, dass es von der Form her klassischen Stahlprofilen entspricht. Zudem können die Hohlräume der Struktur zum Transport verschiedener Medien, wie Wasser oder Strom, dienen.

Selbstheilende Materialien

Eine Revolution in der Betontechnik könnte der Einsatz von selbstheilendem Beton werden. Angeregt von den Selbstheilungsmechanismen der Natur, die beispielsweise bei Baumrinde oder Haut zu beobachten sind, haben Forscher an der University of Michigan einen flexiblen Beton entwickelt, der kleine Risse von bis zu 150 Mikrometern verschließt. Dabei reagieren im Beton eingelagerte Kalziumionen bei feuchtem Wetter mit dem Kohlenstoffdioxid der Luft zu Kalziumkarbonat (das unter anderem Muschelschalen ihre Härte verleiht). Es bleibt als weißer Streifen im Beton sichtbar, etwa so wie Narbengewebe in der Haut, das ebenfalls fester ist als seine Umgebung. Ein Patent haben die Forscher bereits angemeldet.
Bereits kurz vor der Markteinführung steht ein bionischer Schaum. Er soll pneumatischen Strukturen ihren großen Nachteil nehmen: die hohe Anfälligkeit für Beschädigungen der Außenhaut, die zu Druckverlust führen und so die Tragfähigkeit erheblich reduzieren. Unter Leitung des Freiburger Kompetenznetzes Biomimetik wurde eine  selbstreparierende Membran  entwickelt, deren Aufbau sich an Prozessen in Schlingpflanzen orientiert. Bei diesen kommt es im Verlauf des Wachstums zu Gewebespannungen, die schließlich zu Rissen im verholzten Teil der Pflanze führen. Um eine weitere Ausdehnung des Risses zu vermeiden, versiegelt die Pflanze die Bruchstelle sofort mit frischen Zellen aus dem belebten Gewebe. Diesen Prozess haben die Forscher auf künstliche Membranstrukturen übertragen. Dabei wird die Innenseite eines Membrankissens mit einem geschlossenporigen Schaum aus kurzen Polymermolekülen beschichtet. Wenn die Mem­bran verletzt wird, etwa durch einen Nagel, quillt der Schaum aus dem Kissen in die beschädigte Stelle und versiegelt sie dauerhaft. Auf diese Weise lassen sich Löcher bis zu fünf Millimeter Größe reparieren.

Fassaden als atmungsaktive Wärmetauscher

Membrane haben bereits viele positive Eigenschaften: Sie haben ein geringes Eigengewicht, sind wasserabweisend und atmungsaktiv. Doch eines können sie bisher nicht: Wärme speichern. Daher tüfteln Forscher seit geraumer Zeit an einem solchen Fassadenhüllsystem. Einen möglichen Lösungsansatz liefert die Dissertation über bionisch inspirierte Gebäudehüllen des Stuttgarter Architekten Dirk Henning Braun. Für eine atmungsaktive, wärmespeichernde Gebäudehülle suchte er in der Natur nach passenden Vorbildern und wurde im Reich der Insekten fündig. Unter dem Mikroskop entpuppen sich die Schalen von  Fliegeneiern  als komplexe Wärmetauscher. Zwischen einer grobporigen Außenmembran und einer feinporigen Innenmembran befinden sich kugelförmige Kammern, die über kleine Kanäle mit den Membranen verbunden sind. Über die Poren der Außenhaut gelangt sauerstoffreiche, aber kalte Luft in die Kammern. Dort verlangsamt sich der Luftstrom: genug Zeit, um Wärmeenergie von den Chitinwänden aufzunehmen. Anschließend wandert die angewärmte Luft über die zahlreichen Kanälchen in das Innere des Fliegeneis. Derweil nimmt die warme, verbrauchte Luft den entgegengesetzten Weg: Sie strömt über die feinen Poren der Innenmembran ins Schaleninnere und umströmt auf ihrem Weg nach draußen die Frischluftkammern und gibt ihre Wärme an diese ab. Dank dieses Wärmepuffers sinkt die Temperatur im Fliegenei auch bei Außentemperaturen unter dem Gefrierpunkt nicht unter 20 Grad Celsius. Dirk Henning Braun hat mehrere Modelle entwickelt, die das Fliegenei-Prinzip nachahmen. Unklar ist jedoch noch, welches Material als Wärmespeicher genutzt werden kann. Denkbar wären PCM, Phasenwechselmaterialien, die in die konstruktiven Bauteile eingelagert werden und die Wärmeleitung und -abgabe verzögern.

Wetterfühliges Tragwerk
Während das Prinzip der Fliegeneischale nur unter dem Mikroskop verständlich wird, lässt sich der physikalische Vor­gang wesentlich leichter nachvollziehen, der hinter der  Responsive Surface Structure,  dem reaktionsfähigen Oberflächen­tragwerk, steht. Bei dieser Erfindung handelt es sich um eine komplexe Schuppenstruktur aus einem Holzwerkstoff, die sich, je nach Wetterverhältnissen, öffnet oder schließt. Jede Schuppe reagiert autark, wobei sie ohne elektronische oder mechanische Steuerung auskommt. Abgeschaut haben sich die Entwickler von der Universität Stuttgart das Prinzip von Fichtenzapfen. Fällt der Zapfen vom Baum, verliert er an trockenen, sonnigen Tagen Feuchtigkeit an seine Umgebung. Wie auch bei Holz kommt es in Folge dessen zu Materialschwund, der zum Öffnen der Deckschuppen und zur Abgabe der Samen führt. Steigt die Luftfeuchtigkeit an regnerischen Tagen wieder an, kehrt sich dieser Effekt um, und die Schuppen schließen sich. Dieses Prinzip ahmt das reaktionsfähige Oberflächentragwerk nach. Die Struktur setzt sich aus aneinanderreihbaren Schuppen zusammen, die in verschiedene Formen gebracht werden können. Momentan arbeiten die Erfinder an einem Pavillon, der am nördlichen Mainufer in Frankfurt stehen soll.

Lamellen, beweglich wie Pflanzen

Ebenfalls von Pflanzen inspiriert ist das Verschattungssystem Flectofin,  eine Lamelle, die ohne verschleißanfällige Gelenke auskommt. Pate für diese Entwicklung stand die Paradiesvogelblume aus Südafrika. Diese Strelitzienart ist bei der Bestäubung auf Vögel angewiesen. Im Laufe der Evolution hat sich in ihr ein interessanter Klappmechanismus entwickelt. Zwei Blütenblätter sind in eine Art Sitzstange umgewandelt. Lässt sich ein Vogel darauf nieder, biegen sich diese Blütenblätter unter seinem Gewicht nach unten. Gleichzeitig falten sie sich auf und geben den Zugang zum Nektar frei. Verlässt der Vogel die Blüte, klappt der Mechanismus wieder zusammen. Der Vorgang lässt sich über 3000 Mal wiederholen, ohne dass dabei eine kritische Materialermüdung auftritt. Dieses Funktionsprinzip machten sich Wissenschaftler vom ITKE der Universität Stuttgart und der Plant Biomechanics Group der Universität Freiburg zu Nutze. Sie entwickelten eine biegsame Lamelle aus einem Glasfaserverbundmatrial, die sich ohne künstliche Gelenke bewegen lässt. In einem Vakuuminfusionsverfahren werden mehre Materialschichten so übereinander laminiert, dass auf einer Kante ein steifes Rückgrat und ihm gegenüber ein elastisch verformbares Segel entsteht. Bei Verformung des Rückgrates klappt die Zugspannung im Material das Segel um, je nach Verformungsgrad verschattet das Segel die Fassade ganz oder nur teilweise.

Testfeld Pavillons

Ein wichtiger Schritt bei der Entwicklung von neuen Bauprodukten ist der Einsatz unter Realbedingungen, der gerne auch dazu genutzt wird, den Neuheiten ein Forum in der Öffentlichkeit zu verschaffen. Daher kommen die Materialien üblicherweise in Pavillons auf Messen und Ausstellungen das erste Mal zu Einsatz. Im kommenden Jahr sollte die Flecto­­fin-Lamelle im größeren Maßstab als Verschattungssystem im Themenpavillon der Expo in Yeosu/Südkorea verbaut werden. Da die freibewegliche Lamelle wegen der starken Winde in der Küstenstadt nicht eingesetzt werden kann, wird dort nun ein anderes Prinzip zu betrachten sein: Die Fassade wird aus leicht gekrümmten Lamellen bestehen, die oben und unten an je einer Seite drehbar gelagert werden. An den beiden ande­ren Ecken werden Druckelemente angebracht, welche die Lamelle einseitig aufbiegen. In den Animationen sieht das Ergebnis gänzlich unfloral aus. Es wird die Besucher eher an die Kiemen eines riesigen Fisches erinnern.
In einem kleineren Maßstab baut die Forschungsgruppe Architektur, Leichtbaukonstruktion und Prototypenbau des virtuellen Instituts  PlanktonTech  am Alfred-Wegener-Ins­titut derzeit im Jenaer Straßenbahndepot einen von Kiesel­algen und Strahlentierchen inspirierten Pavillon. Der zehn Qua­dratmeter große Bau setzt sich aus drei bis vier Millimeter dicken, glasfaserverstärkten Kunststoff-Modulen zusammen, die wie beim Plankton gleichzeitig Tragstruktur und Hülle bilden. Die Form der sich selbst aussteifenden Module spiegelt die wirkenden Kräfte wider. Die Forscher möchten anhand des Prototyps neue Verbundsysteme und -bauweisen testen, die, wie das biologische Vorbild, bei geringer Materialstärke eine hohe Tragfähigkeit erzielen. Zukünftig sollen in die tragende Hülle Zusatzelemente wie Poren zur natürlichen Belüftung integriert werden. Der bionische Pavillon kann ab dem 13. Oktober in Jena besichtigt werden, wo er als Info-Zentrum für die Frank-Stella-Ausstellung genutzt wird.

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