Bauwelt

Nach dem Ausnahmezustand. Eine neue Stunde Null?

Die Corona-Krise greift abrupt in städtebauliche und architektonische Gewissheiten ein. Das Selbstverständnis der räumlichen und sozialen Nähe zwischen Bewohnern, eigentlicher Kit in der Konzeption der Stadt seit den 1980er Jahren, ist von Grund auf fragwürdig geworden. Stadtplaner und Architekten stehen jetzt vor der Wahl, sich für die Methoden des Einschließens oder des Ausschließens zu entscheiden.

Text: Geipel, Kaye, Berlin

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    Im Sinne einer gemeinsamen Zukunft ist es übefällig, Verantwortlichkeiten und demokratische Macht neu zu überdenken. Nötig ist eine Kultur der Beziehungen anstelle von Konkurrenz, territorialer Bezogenheit und der Grenzen. Die Einwohner müssen in die Lage versetzt werden, für das Lokale wie für das Globale Verantwortung zu übernehmen.
    Abb.: Ruedi Baur

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    Im Sinne einer gemeinsamen Zukunft ist es übefällig, Verantwortlichkeiten und demokratische Macht neu zu überdenken. Nötig ist eine Kultur der Beziehungen anstelle von Konkurrenz, territorialer Bezogenheit und der Grenzen. Die Einwohner müssen in die Lage versetzt werden, für das Lokale wie für das Globale Verantwortung zu übernehmen.

    Abb.: Ruedi Baur

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    2020 erließ die Regierung ein Verbot, sich am Strand auszubreiten. Die Leute bräunten sich deshalb im Stehen. Sie liefen hin- und her und vermieden auf die-se Weise sowohl den Virus als auch die Polizei.
    Abb.: Ruedi Baur

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    2020 erließ die Regierung ein Verbot, sich am Strand auszubreiten. Die Leute bräunten sich deshalb im Stehen. Sie liefen hin- und her und vermieden auf die-se Weise sowohl den Virus als auch die Polizei.

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    Wie unübersichtlich die Situation gerade ist, zeigt ein städtebaulicher Entwurf, der uns kurz vor Redaktionsschluss auf den Tisch flatterte: Der italienische Architekt Stefano Boeri hat in Tirana einen Masterplan für einen Stadtteil vorgelegt, der sich als „erstes europäisches Quartier versteht (…), das auf die Anforderungen der Post-Covid-19-Pan- demie-Phase antwortet“.
    Abb.: Atelier Stefano Boeri

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    Wie unübersichtlich die Situation gerade ist, zeigt ein städtebaulicher Entwurf, der uns kurz vor Redaktionsschluss auf den Tisch flatterte: Der italienische Architekt Stefano Boeri hat in Tirana einen Masterplan für einen Stadtteil vorgelegt, der sich als „erstes europäisches Quartier versteht (…), das auf die Anforderungen der Post-Covid-19-Pan- demie-Phase antwortet“.

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    Bei näherer Betrachtung wird hier nicht nur ein existierendes Quartier abgerissen und durch eine ortsfremde Typologie ersetzt. Sondern es wird auch mit dem Grünraum-Puffer eine raffinierte Abgrenzungsstrategie für die neuen Wohnbauten vorgelegt.
    Abb.: Atelier Stefano Boeri

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    Bei näherer Betrachtung wird hier nicht nur ein existierendes Quartier abgerissen und durch eine ortsfremde Typologie ersetzt. Sondern es wird auch mit dem Grünraum-Puffer eine raffinierte Abgrenzungsstrategie für die neuen Wohnbauten vorgelegt.

    Abb.: Atelier Stefano Boeri

Nach dem Ausnahmezustand. Eine neue Stunde Null?

Die Corona-Krise greift abrupt in städtebauliche und architektonische Gewissheiten ein. Das Selbstverständnis der räumlichen und sozialen Nähe zwischen Bewohnern, eigentlicher Kit in der Konzeption der Stadt seit den 1980er Jahren, ist von Grund auf fragwürdig geworden. Stadtplaner und Architekten stehen jetzt vor der Wahl, sich für die Methoden des Einschließens oder des Ausschließens zu entscheiden.

Text: Geipel, Kaye, Berlin

Diese Stadtbauwelt ist eine Art provisorischer Werkzeugkasten. Die Krise hat uns, wie alle, überrascht. Das ursprüngliche Konzept für diese Ausgabe zur Funktion von Architekturmuseen als Akteur der Stadtentwicklung war im März schon weit fortgeschritten. Auch der Blick auf das grandios fehlgeschlagene Besetzungsverfahren an der Berliner Bauakademie hätte dazu gehört. Als aber am 16. März die Schlagbäume an den europäischen Grenzen fielen und wir von heute auf morgen vor den Home-Office-Bildschirmen saßen, war schnell klar: Wir werden auf die Museumsdebatte fürs Erste verzichten und Corona und seine städtebaulichen Folgen zum Thema machen.
Im Fluss
Eine Situation, wie wir sie dann bei der Bearbeitung des Heftes erlebten, in der sich der inhaltliche Fokus von Woche zu Woche verschob und neue Aspekte auf den Tisch gelegt wurden, hatte es bisher nicht gegeben. Die großen stadträumlichen Maßstäbe und die individuellen Lebensverhältnisse klappten ineinander, als ob Dominosteine eine Kettenreaktion auslösen. Territoriale Grenzen wurden jetzt für alle konkret, jenseits von Bevölkerungsgruppe, Alter und Einkommen; Straßen, Restaurants, Spielplätze, Stadt- und Landesgrenzen waren zu legalen Hindernissen geworden. Auf der anderen Seite mutierten die Beschreibungen der eigenen vier Wände in ihren Zwängen und Annehmlichkeiten zum vordringlichen Gesprächsthema. Zwei Quadratmeter Balkon wurden zum entscheidenden Plus-Faktor der Alltagsgestaltung, der Anblick der Fensterpflanzen zum morgendlichen Muntermacher. In den Zoom-Konferenzen zu diesem Heft gab es grundlegende, manchmal surreale Spekulationen über die Folgen des Lockdown und wie weit dieser die hergebrachte Entwicklungs- und Gestaltungslogik des Stadtraums beeinflussen würde. Erleben wir auf lokaler wie auf globaler Ebene eine Stunde Null? Urbaner Alptraum und städtebauliche Reform liegen oft dicht beieinander. Gleichzeitig landeten Dutzende freiwillig eingereichter Text- und Projektvorschläge im Bauwelt-Account, die die bekannten Konzepte zur digitalen, ökologischen oder mobilen Zukunft der Stadt unter dem Label „Corona-Resilience“ neu verpackten und entsprechend anpriesen. Jetzt oder nie!
Neben den Gesprächen, die wir bei der Vorbereitung des Heftes führten, folgten wir den Stimmen, die städtebauliche und architektonische Gewissheiten samt ihren Darstellungskonventionen in Frage stellten. Die Zeichnungen fiktiver Stadtmodelle, die die Wiener Architektin und Stadtplanerin Sabine Pollak während des Ausnahmezustandes jeden zweiten Tag auf Social Media veröffentlichte, waren solch ein stimulierender Einblick: Sie zeigen lange nicht mehr diskutierte Visionen städtebaulicher Räume, die etwas von Einsamkeit und Dichte, urbaner Serialität und städtebaulichem Tiefensog, aber auch von Spielfreude erzählen. Auf der anderen Seite kommentierte der französisch-schweizerische Medientheoretiker und Designer Ruedi Baur die letzten Wochen mit aktionistischen und manchmal düsteren „Cartoons“, die politische Konsequenzen staatlicher Regulierung für das Zusammenleben auf den Punkt brachten.
Dieses Heft ist vor allem Zeitschnitt und Kommentar zum Bruch der zurückliegenden Wochen. Der Berliner Soziologe Heinz Bude, sonst eher nüchtern, nennt es eine „weltgeschichtliche Zäsur“, die wir erleben. Wenn Sie das Heft in Händen halten, liegt der Ausnahmezustand im Sinne einer rigiden Ausgangssperre zumindest in Deutschland bereits hinter uns. Uns interessierten zwei Fragen, die wir zum jetzigen Zeitpunkt aufwerfen, aber nicht beantworten können: Wie verändern die sanitären Sicherungsmaßnahmen die Leitbilder von Stadt, die der Stadtplanung und der Architektur seit Dekaden unhinterfragt unterliegen? Wie verändern sie das Verhältnis und die Definition von Stadt und Land, die in den letzten Jahren immer stärker in den Fokus gerückt sind?
Prophetischer Blick
Von den staatlichen Regulierungen des Lockdown sind auf den ersten Blick alle betroffen. Das Bild, dass die Krise alle gleichermaßen erfasst, ist aber nicht nur im Hinblick auf die wirklich Erkrankten falsch. Die letzten Wochen haben sowohl die Notwendigkeit als auch die Verletzbarkeit gut funktionierender städtischer Infrastrukturen vor Augen geführt. Jüngste Untersuchungen, wie etwa das „Krisenmonitoring“, das die Stadt Hannover Anfang Juni zur städtischen Armutsentwicklung unter der Covid-19 Pandemie veröffentlicht hat, zeigen, dass die Auffangsysteme bei der ärmeren Bevölkerung deutlich schlechter ankommen: Nicht nur funk­tioniert das Home-office meist nur in höheren beruflichen Positionen, auch das Home-Schooling ist in Haushalten, die weniger Geld haben, weniger wirksam; dazu kommen die erschwerte Kinderbetreuung und die Auswirkung der Kontaktsperre, die Armutshaushalte wegen der Enge der Wohnungen ganz besonders betroffen haben. Räumliche Ressourcen sind entscheidend für einen erfolgreichen Umgang mit der Krise, aber sie sind sehr ungleich verteilt.
Geradezu prophetisch nimmt sich heute das Thema einer Ausstellung aus, die das Architekturzentrum Wien vor einem Jahr präsentierte: Critical Care. Darunter verstanden die Ausstellungsmacherinnen den kritischen Zustand des Planeten und die Aufgabe der Planung, wobei heute die wörtliche Bedeutung von Critical Care, „Intensivstation“, also der prekäre Zustand der Erdbewohner, dazu gerechnet werden muss. Kritik bedeutet Suche nach alternativen Lösungen. Auf der Basis einer weltweiten Recherche hat die Ausstellung u. a. akupunkturähnliche Vorbildprojekte versammelt, die den öffentlichen Raum für alle entwickeln, neue Nutzungen und mehr Grün in die Straße bringen, die zeigen, wie der soziale Zusammenhalt und die lokale Gesundheitsfürsorge gestärkt wird und wer solche Veränderungen voranbringen kann. Die Beispiele, wie es zu machen ist, liegen längst vor. Aber ihre Umsetzung ist nur dann wirkungsvoll, wenn sie als Teil einer gesellschaftspolitischen Verantwortung verstanden wird, solche Strukturen in den städtischen Peripherien und auf dem Land auch koordiniert und in der Breite umzusetzen.
Toilettenrollen und die Materialisierung der Routinen
Stadtleben ist verführerisch. Man kann die Dinge des täglichen Lebens konsumieren, ohne sich über Herkunft, Produktionsart und Energieverbrauch Gedanken zu machen. Die Klopapierrollen, die plötzlich aus den Supermarktregalen verschwanden und beinahe wie Gold gehandelt wurden, markierten den blinden Fleck der urbanen Logistik. Die Corona-Krise hat über Nacht deutlich gemacht, wie abhängig die Stadt von der arbeitsteiligen Organisation städtischer Planungsvorgänge, Versorgungskreisläufe, Produktionswege und vieler einfacher Dienstleistungen ist – und wie wenig es braucht, diese außer Kraft zu setzen. Die Idee einer rein konsumtiven Stadt gründet auf einem mehrfachen Irrtum: Man bezahlt etwas, dann ist es da; man benutzt es und schmeißt es in den Müll, dann ist es wieder weg. Die Corona-Krise könnte für einen deutlichen Schub bei der Umsetzung einer Circular City sorgen, in der Produktionswege und Versorgungskreisläufe als Ganzes betrachtet werden und ein New Green Deal nicht länger als nationalistischer Alleingang verstanden wird.
Wohnungsfrage neu stellen
Erleben wir zur Zeit eine Stunde Null, was die qualitative Wohnungsfrage betrifft? Die Frage nach den tatsächlichen Wohnbedürfnissen war in den letzten Jahren jedenfalls kaum noch ein Thema. Der globale Immobilienmarkt hat sich in den großen Städten auf breiter Front durchgesetzt und zu Spitzenpreisen die marktfähigen Typologien diktiert: mit repräsentativem Flair, aber ohne gemeinschaftliches Angebot, das durch buchbare Serviceleistungen ersetzt wurde. Zwar gibt es Alternativen: die herausragenden Beispiele von Münchner oder Zürcher Genossenschaften etwa, die Wiener Experimente im Sonnwendviertel und einige nach wie vor vorbildliche spanische Sozialwohnungsbauten. Sie wirken angesichts der Masse des Gebauten kaum mehr als Feigenblatt.
In den letzten Wochen aber konnte man selbst auf den Immobilienseiten der großen Tageszeitungen lesen, welche nachteiligen Konsequenzen es hat, wenn der Wohnungsmarkt nur noch aufs „individuelle Wohnen“ fokussiert und die Konzeption einer funktionierenden Nachbarschaft aus den Augen verliert. Auch der – wegen Flächenverbrauchs geforderte und wegen Marktpreisen eher erduldete – Rückgang der Wohnungsgrößen in den boomenden Großstädten wird zum Problem. Untersuchungen aus Deutschland und aus den Nachbarländern machen deutlich, dass die Wohnungen nicht nur immer kleiner werden, sondern auch die Überbelegung deutlich zunimmt. Spitzenreiter ist Paris, wo in den Randbereichen der Stadt 30 Prozent der Wohnungen statistisch überbelegt sind, Tendenz weiter steigend.
Die Misere betrifft vor allem die Grundrisse selbst: Mit Lockdown und Home-Office wurde sozusagen im Selbstexperiment spürbar, dass es den heute verfügbaren Wohnungen nicht nur an Stauraum und an individuellen Rückzugsmöglichkeiten fehlt. Der offene Grundriss und der Verzicht auf den Flur, vermeintliche Insignien einer „modernen Kleinwohnung“, haben sich nicht bewährt. Vor allem aber fehlt es an Qualitäten im Übergangsbereich der Wohnung: Gemeinschaftsräume, Balkone und Dachterrassen, die nicht wie selbstverständlich dem am teuersten verkauften Penthouse zugeschlagen werden, sondern als Erweiterungsraum der eigenen vier Wände zur Verfügung stehen. Auf der Ebene des einzelnen Wohngebäudes wird sich ein grundlegendes Umsteuern allerdings nicht realisieren lassen. Die Quartiere müssen auch auf der Ebene der individuellen Wohnqualität als der entscheidende Ort der strategischen Umsetzung wahrgenommen werden – und das heißt mit neuen rechtlichen Möglichkeiten und entsprechenden Förderungen ausgestattet werden.
Angst vor der Dichten Stadt
Das Leitbild der Dichten Stadt ist während der Pandemie weltweit unter Beschuss gekommen. Wir stehen vor einer scheinbar unlösbaren Zwickmühle. Richard Sennett formuliert es zu Anfang der Pandemie so: „Im Augenblick reduzieren wir die Dichte aus guten Gründen, wo wir nur können. Aber Dichte ist schon aus Energiegründen richtig. Längerfristig haben wir den Konflikt zwischen den konkurrierenden Ansprüchen der öffentlichen Gesundheit und des Klimas.“ Damit verknüpft ist die Raumfrage: Mit Corona gerät im selben Moment sowohl der Schutzraum individueller Unversehrtheit, den die Stadt den Bewohnern garantiert, als auch der große öffentliche Raum, in dem zusammen promeniert, demonstriert und gefeiert werden kann, in Bedrängnis. Es sind zwei Seiten einer Medaille, die erst mit den Hygiene-Errungenschaften der modernen Stadt selbstverständlich wurden. Grundsätzlich gibt es zwei Antworten auf die Frage nach der Zukunft dieser Räume: Entweder man betrachtet die anderen Stadtbewohner als Konkurrenten um das knappe Gut des „Sicheren Raumes“, setzt auf exklusive Räume und entwickelt die Idee der Gated communities weiter. Oder man sieht den Anderen als Partner, mit dem die Produktion geschützter Räume jeweils ausgehandelt werden muss. Die provisorischen Regelungen, die gerade bei der Nutzung öffentlicher Freibäder ausprobiert werden, sind ein kleines Beispiel dafür. Das ist weit aufwendiger und komplizierter als die Exklusion. Aber es dürfte die einzige Möglichkeit sein, die Grundqualität der europäischen Stadt aufrechtzuerhalten: ihren „Contrat Social“ für die Teilhabe aller an öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen. Die entscheidende Bewährungsprobe für die Corona-angepasste Stadt werden deshalb neue Formen von öffentlichen Räumen sein, die an die Stelle der Flexibilität eine Robustheit setzen, in der beides garantiert sein muss: Nähe und Abstand. Eine vertrackte Konstellation. Aber auch eine unglaubliche Herausforderung.

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