Bauwelt

Epidemiologie, urbane Proxemik und Städtebau

Der öffentliche Raum ist von der Pandemie unmittelbar betroffen, die Abstände zwischen den Nutzern werden zum Problem. Die Schwierigkeiten, die wir etwa mit halb leeren, nur noch mit umständlichen Regeln benutzbaren Hallen und Stadienbauten haben, verweisen umgekehrt auf eine knapp hundertjährige Errungenschaft. Diese ist eng mit der Herausbildung eines neuen hygienischen Selbstverständnisses der modernen Stadt verknüpft1.

Text: Roesler, Sascha, Mendrisio

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    1928 entwarf Hans Poelzig den »Thermenpalast«, eine (unrelisiert gebliebene) Sport und Badeanlage für die Arbeiterklasse.
    Foto: Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin

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    1928 entwarf Hans Poelzig den »Thermenpalast«, eine (unrelisiert gebliebene) Sport und Badeanlage für die Arbeiterklasse.

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    Beginn des 20. Jahrhunderts: Die Großmarkthalle in Frankfurt strukturiert und verdichtet den öffentlichen Raum.
    Foto: Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin

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    Beginn des 20. Jahrhunderts: Die Großmarkthalle in Frankfurt strukturiert und verdichtet den öffentlichen Raum.

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    Die filigrane, wandlungsfähige Bauweise von Frei Otto leistet auch heute eine allegorische Erschließung der Gegenwart.
    Foto: Bernd Seeland. ZKM/ Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Inge­nieurbau (saai), Karlsruher Institut für Technologie, Werkarchiv Frei Otto

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    Die filigrane, wandlungsfähige Bauweise von Frei Otto leistet auch heute eine allegorische Erschließung der Gegenwart.

    Foto: Bernd Seeland. ZKM/ Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Inge­nieurbau (saai), Karlsruher Institut für Technologie, Werkarchiv Frei Otto

Epidemiologie, urbane Proxemik und Städtebau

Der öffentliche Raum ist von der Pandemie unmittelbar betroffen, die Abstände zwischen den Nutzern werden zum Problem. Die Schwierigkeiten, die wir etwa mit halb leeren, nur noch mit umständlichen Regeln benutzbaren Hallen und Stadienbauten haben, verweisen umgekehrt auf eine knapp hundertjährige Errungenschaft. Diese ist eng mit der Herausbildung eines neuen hygienischen Selbstverständnisses der modernen Stadt verknüpft1.

Text: Roesler, Sascha, Mendrisio

Mit der Ausbreitung des Coronavirus in Europa ist es zu einer machtvollen Rückkehr der Hygiene ins gesellschaftliche Bewusstsein gekommen. Kaum jemand hätte noch vor einem Jahr für möglich gehalten, dass dieses Wissensgebiet erneut einer so umfassenden Debatte unterliegen wird. Seit Jahrzehnten ist die Hygiene ein selbstverständlicher, quasi unsichtbarer Bestandteil der materiellen Kultur und des alltäglichen Verhaltens.
Bekanntermaßen hat die moderne Architektur und Stadtplanung entscheidend zur Herausbildung eines hygienischen Selbstverständnisses in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beigetragen. Die Reduktion der Belegungsdichten von Wohnräumen, die Festlegung der Distanzen zwischen Gebäuden, die Verankerung alltäglicher Hygienemaßnahmen in Küche und Bad – all dies hat unser Verständnis von modernem Wohnen und Leben maßgebend geprägt und die Herausbildung des Neuen Bauens befeuert. Der moderne Städtebau beruhte zuallererst darauf, den Abstand zwischen Menschen, Objekten und Gebäuden neu zu regeln. Insofern lieferte er auch eine eigenständige Theorie des Social Distancing, welche “Innen” und “Außen” als strikt voneinander getrennte Bereiche begreift. Festgelegt wurde in den neuen städtebaulichen Richtlinien der Moderne, wer und was drinnen beziehungsweise draußen zu bleiben hat. Dazu gehörten ebenso Menschen wie auch Viren oder Hitze. Vielleicht einschneidender noch als die neuen Hygienetechnologien hat die Untersuchung der performativen Praktiken die moderne Hygiene geprägt, die mit dem Kulturanthropologen Edward T. Hall als urbane “Proxemik” bezeichnet werden kann.2 Die Proxemik erforscht die sozialen und kulturellen Bedeutungen, die Menschen mit ihrer privaten und beruflichen Umgebung verbinden. Dabei geht es auch um die Frage der jeweiligen Distanz.

Hygienetechnologien

Infektionskrankheiten wie die Pest, Cholera, Typhus, Tuberkulose oder Malaria waren in vorindustriellen Städten grundlegende Probleme, welche erst im 20. Jahrhundert einer substanziellen Lösung zugeführt werden konnten. Wie zum Beispiel dem »Report on the Mortality of Cholera in England« von 1852 zu entnehmen ist, waren die Ursachen für deren Ausbreitung noch keinesfalls ausgemacht. »Die Form der Cholera-Kurve für ganz England ist sehr bemerkenswert«, heißt es darin. »Die aufeinanderfolgenden Terrassen und Spitzen der Platte ähneln Abschnitten primitiver Bergformationen […] oder sie erinnern an die Linien einer seltsamen gotischen Architektur.« Der metaphorische Vergleich zwischen Kurvenform und Architekturstil ist ein Hinweis darauf, wie sehr damals um die richtige Interpretation der epidemiologischen Daten gerungen wurde und wie umstritten ihre Auslegung war.
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich ein Verständnis für den Zusammenhang zwischen Städtebau, Hygiene und Epidemiologie in einer wissenschaftlichen Lesart herauskristallisiert. So wurden etwa hohe Außentemperaturen in Kombination mit mangelhaften hygienischen Verhältnissen in Städten mehr und mehr als Treiber von Krankheiten unterschiedlicher Art erkannt. Untersuchungen zum Zusammenhang von
Kanalisation und Trinkwasserqualität oder von Sümpfen und Quartierstrukturen waren gleichermaßen Treiber für medizinische und städtebauliche Innovationen.
Der zentrale Untersuchungsgegenstand drehte sich um die Stadt als Slum und um die Hygiene, eine Verbindung, die der Architekturhistoriker Julius Posener als “Slummologie” bezeichnet hatte.3 Auf der für den modernen Städtebaudiskurs bahnbrechenden Hygiene-Ausstellung von 1911 in Dresden wurden die damaligen Problemlagen und Lösungsansätze aus interdisziplinärer und lebensreformerischer Perspektive dargelegt. Diese Ausstellung umfasste unter anderem Abteilungen zu Infektions- und Tropenkrankheiten, Krankenfürsorge und Rettung, Siedlungs- und Wohnungswesen, Beruf und Arbeit, Nahrungs- und Genussmitteln, Spiel und Sport sowie zu Kleidung und Körperpflege. Dabei sollte einer breiten Öffentlichkeit die alle Lebensbereiche durchdringende Relevanz des Wissensgebietes “Hygiene” vor Augen geführt werden. Die hygienische Durchdringung der urbanen Lebenswelt wies den Weg in eine neue Phase des Städtebaus, die aus der verslumten “Fabrikstadt des 19. Jahrhunderts”4führen sollte. Horkheimer und Adorno sprechen in der Dialektik der Aufklärung gar vom “hygienischen Fabrikraum” als zentraler Reformstrategie des Kapitalismus. Die gesundheitsschädigenden hygienischen Bedingungen in den Fabriken sollten keineswegs auf Kosten der Effizienz der Produktivkräfte reformiert werden. Vielmehr musste die Verbesserung der Arbeitsplatzhygiene mit wirtschaftlichem Wachstum einhergehen.

Urbane Proxemiken

Mit den großen Hallenbauten, wie sie seit Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl für die Produktion als auch für Handel und Freizeit in den Städten errichtet wurden, kündete sich beispielhaft die architektonische Gestalt einer neuartigen urbanen Hygiene an. Nicht etwa in den immer wieder zitierten stadtfernen Sanatorien werden die Hygienemaßnahmen in der modernen Architektur unübersehbar, sondern in jenen grossmaßstäblichen “Hallenbauten”, die den öffentlichen Raum der Städte auf neuartige Weise strukturieren und verdichten. In der gleichnamigen Publikation von 1931 hat Ludwig Hilberseimer darauf hingewiesen, dass die immer stärkere Verbreitung grosser “Hallen” ein junges Phänomen darstellt, das mit der Industrialisierung des Bauens und der modernen Großstadt zusammenhängt. Eigene bauliche Ausdrucksformen entstanden. Martin Elsaessers zwischen 1926 und 28 errichtete Großmarkthalle in Frankfurt am Main (Ostend) etwa erinnerte mit ihrer Stahlbeton-Tragstruktur eher an eine Kathedrale denn an einen konventionellen Marktplatz. Das enorme umschlossene Volumen über den Köpfen der auf dem Marktplatz Versammelten bildete eine exemplarische Architektur der neuen städtischen Hygiene, die das Luftvolumen – noch vor ihrer mechanischen Klimatisierung – selbst zu einem »Ornament der Masse« werden ließ, so der Begriff von Siegfried Krakauer.5 In dem von Hans Poelzig entworfenen »Thermenpalast« von 1928, einer (unrealisiert gebliebenen) Sport- und Badeanlage für die Berliner Arbeiterklasse, sollte das große Hallenvolumen aber bereits einer klimatisierenden Behandlung unterzogen werden. Mittels einer Heizungsanlage sollte mitten im Berliner Winter die »künstliche Sonne« eines imaginierten Sommertages und das Empfinden eines mediterranen Strandes simuliert werden. “Sämtliche Liegeplätze sind erwärmt”, hieß es in der Projektbeschreibung. Das Zusammenspiel einer freigespannten Kuppel von 150 Meter Durchmesser, eines riesigen ringförmigen Wasserbeckens sowie einer künstlichen Topographie stand für den Wunsch, ein architektonisches Environment jenseits des konventionellen Gebäudemaßstabs zu schaffen.
Mit Siegfried Kracauer kann der große Luftraum der neuen Hallenbauten der Nutzer als Folge einer urbanen Proxemik begriffen werden, die über den Köpfen der Einkaufenden und zwischen den Körpern der Badegäste das Gefühl der Hygiene hervorruft. Nicht zufällig erscheinen die neuen Revuen der Zwischenkriegszeit stellvertretend für jene neue “Körperkultur”, die nun auch die Proxemiken des urbanen Alltags durchdringt und trotz grosser Dichte geregelte Abstände bewahrt. In “dichtgefüllten Stadien”, so Kracauer, werden “Darbietungen von gleicher geometrischer Genauigkeit” zur Aufführung gebracht. Ebenso wie virologische Einsichten hat dieses performative Moment im Alltag die urbane Hygiene geprägt; sie war auf architektonische Imaginationen angewiesen, welche neue Spielregeln und Rituale für zeitgemäße Proxemiken der Stadtbevölkerung entwarfen.

Transformationen der Öffentlichkeit

Für global denkende Architektinnen und Stadtplaner wird es in den kommenden Jahren darum gehen, sich mit der Dialektik zweier Denkmodelle zur urbanen Hygiene auseinanderzusetzen: dem der Hygienetechnologien und dem der urbanen Proxemiken, der Nähebeziehungen zwischen den Bewohnern. Zum einen geht es um die Stadt als Slum und zum anderen um die Stadt als Labor. Während sich Epidemien in einer verslumten Stadt insbesondere auf “eine Unterversorgung mit Hygienetechnologie” zurückführen lassen, gehen pandemische Gefährdungen heutiger Städte mehr und mehr aus »einer industriellen Überproduktion« hervor. Das hat Ulrich Beck bereits 1986 in seinem Buch “Risikogesellschaft” festgestellt.7 Gefährdungen wie das Coronavirus zeichnen sich “durch die Globalität […] und ihre modernen Ursachen” aus; sie machen aus Städten ökologische Labors, wo im Raum der Stadt und unter Einbezug der Zivilgesellschaft proxemische Lösungen für die “Folgeprobleme der technisch-ökonomischen Entwicklung” gefunden werden müssen.
Mit der pandemischen Ausbreitung des Coronavirus sehen sich Architektur und Stadtplanung erneut in die Pflicht genommen, über die aktuell diskutierten Hygienetechnologien (apps) und die Regulierung der Nähebeziehungen (2 Meter) hinaus zu neuen räumlichen Imaginationen zu gelangen. Vieles spricht dafür, dass erneut der öffentliche Raum – und nicht etwa der private Küchentisch – der entscheidende Austragungsort für die räumliche Neugestaltung demokratischer Gesellschaften sein wird. Mehr als Ludwig Hilberseimers Denkbild von der großen Halle als Ort moderner Öffentlichkeit mag heute Frei Ottos Dialektik der “langsamen” und der “schnellen” Architektur zu überzeugen. Nicht die schiere Größe der Räume, sondern ihre Wandlungsfähigkeit leistet eine allegorische Erschließung der Gegenwart. “Unter den großen Gruppen der künftigen Architekturen wird es auch die (hier sogenannte) ›langsame‹ und die ›schnelle‹ Architektur geben. Die Begriffe sind bezogen auf den Wandlungsprozess und auf die Anpassungsgeschwindigkeit.”8 Frei Ottos dem Zeltbau verpflichtete ephemere Leichtbauweisen, sein Experimentieren mit unterschiedlichen Spannungsverhältnissen in Modellen sowie die generelle Aufwertung filigraner gegenüber massiven Bauweisen liefern Denkansätze, wie – etwa angesichts des sich abzeichnenden Leerstandes im Büro- und Einkaufssektor – neue öffentliche Räume erschlossen und bespielt werden können.
Die eigentliche Herausforderung besteht für die Planungsdisziplinen darin, das techno-proxemische Erbe der Hygiene des 20. Jahrhunderts anzuerkennen, ohne es zur alleinigen Blaupause für die Gestaltung der Zukunft zu machen.
1 Vorliegender Text stellt eine stark überarbeitete Fassung eines in der NZZ online erschienenen Artikels dar; vgl. https://www. nzz.ch/feuilleton/epidemiologie-und-stadtplanung- haben-eine-gemeinsame-geschichteund- auch-zukunft-ld.1549809
2 Zum Begriff der Proxemik siehe die in den 1950er und 60er Jahren entstandenen Schriften Edward T. Halls, insbesondere The Silent Language (1959), The Hidden Dimension (1966) sowie, zusammen mit Mildred Reed Hall, The Fourth Dimension In Architecture: The Impact of Building on Behavior (1975).
3 J. Posener, Vorlesungen zur Geschichte der Neuen Architektur IV. Soziale und bautechnische Entwicklungen im 19. Jahrhundert, in arch+ Sonderhefte, Nr. 63/64, Okt. 1981, S. 36.
4 Kähler, Gert (1985), Wohnung und Stadt. Hamburg Frankfurt Wien. Modelle sozialen Wohnens in den zwanziger Jahren, Braunschweig / Wiesbaden, p. 24.
5 Kracauer, Siegfried (1977 (1927)), Das Ornament der Masse, in Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt am Main.
6 Beck, Ulrich (2016, 1986), Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main, S. 29.
7 F. Otto, Anpassungsfähigkeit, in: Institut für leichte Flächentragwerke, Anpassungsfähig Bauen. Adaptable Architecture, Stuttgart 1975, S. 164.

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