Bauwelt

Brasília: Koloniale Hauptstadt

Der „Goldene Löwe“ für den besten Länderpavillon der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig ging an den brasilianischen Pavillon.

Text: Tavares, Paulo, Brasília

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    Das Kreuz als Zeichen der Eroberung: 1861 erinnerte Victor Mereilles mit einem Gemälde an die erste Messe an den Gestaden des Landes.
    Abb.: Museu Nacional de Belas Artes, Rio de Janeiro

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    Das Kreuz als Zeichen der Eroberung: 1861 erinnerte Victor Mereilles mit einem Gemälde an die erste Messe an den Gestaden des Landes.

    Abb.: Museu Nacional de Belas Artes, Rio de Janeiro

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    Beim Bau der neuen Hauptstadt wurde 1957 auf ein Reenactment dieses Moments nicht verzichtet.
    Abb.: Arquivo Público DF

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    Beim Bau der neuen Hauptstadt wurde 1957 auf ein Reenactment dieses Moments nicht verzichtet.

    Abb.: Arquivo Público DF

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    Noch bis Ende Novemberist die prämierte Ausstellung ...
    Foto: Rafa Jacinto/Funda­ção Bienal de São Paulo

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    Noch bis Ende Novemberist die prämierte Ausstellung ...

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    ... „Terra“ im brasilianischen Pavillon auf der 18. Architek­turbiennale Venedig zu sehen.
    Foto: Rafa Jacinto/Funda­ção Bienal de São Paulo

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    ... „Terra“ im brasilianischen Pavillon auf der 18. Architek­turbiennale Venedig zu sehen.

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    Die Nachbildung des Kreuzes der Gründungsmesse am Stadteingang – ...
    Abbildung: Instagram/post von @minhacapital, April 9, 2020

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    Die Nachbildung des Kreuzes der Gründungsmesse am Stadteingang – ...

    Abbildung: Instagram/post von @minhacapital, April 9, 2020

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    ... das Original wird in der Kathe­drale verwahrt.
    Foto: Nick Hannes

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    ... das Original wird in der Kathe­drale verwahrt.

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    Das Kreuz, als Highway-Kreuzung in die Savanne graviert und fortentwickelt zum Bild des Flugzeugs, das der Zukunft entgegenfliegt – ...
    Foto: Mario Fontenelle/Public Archive of the Federeal District

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    Das Kreuz, als Highway-Kreuzung in die Savanne graviert und fortentwickelt zum Bild des Flugzeugs, das der Zukunft entgegenfliegt – ...

    Foto: Mario Fontenelle/Public Archive of the Federeal District

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    ... die kolonialen Einschreibungen begleiteten die Gründung und Planung Brasílias.
    Foto: Nick Hannes

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    ... die kolonialen Einschreibungen begleiteten die Gründung und Planung Brasílias.

    Foto: Nick Hannes

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    Der Planalto-Palast am Platz der drei Mächte ist der offizielle Arbeitsplatz des brasilianischen Prä­sidenten.
    Foto: Nick Hannes

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    Der Planalto-Palast am Platz der drei Mächte ist der offizielle Arbeitsplatz des brasilianischen Prä­sidenten.

    Foto: Nick Hannes

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    Schulkinder mit der brasilianischen Flagge vor dem von Oscar Niemeyer entworfenen Nationalkongress.
    Foto: Nick Hannes

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    Schulkinder mit der brasilianischen Flagge vor dem von Oscar Niemeyer entworfenen Nationalkongress.

    Foto: Nick Hannes

Brasília: Koloniale Hauptstadt

Der „Goldene Löwe“ für den besten Länderpavillon der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig ging an den brasilianischen Pavillon.

Text: Tavares, Paulo, Brasília

Gabriela de Matos und Paulo Taveres werfen mit der von ihnen kuratierten Ausstellung „Earth“ einen Blick auf die Vorgeschichte der Hauptstadt Brasília und die Einschreibungen des Kolonialismus in Stadtraum und Architektur.
„Ich habe das Datum des 3. Mai gewählt, weil es mir am aussagekräftigsten erschien, da es an die von Pedro Álvarez Cabral zelebrierte Messe erinnerte“, schrieb Präsident Juscelino Kubitschek über die katholische Messe, die 1957 anlässlich der Gründung von Brasília, der neuen Hauptstadt Brasiliens, gefeiert wurde. „Die beiden Zeremonien waren in ihrer Sym­bolik gleichwertig.“ Aus dem Vatikan schickte Papst Pius XII. eine eigene Botschaft zu diesem Anlass: „Am Jahrestag der Entdeckung und der ersten Messe im Gebiet von Santa Cruz freuen wir uns sehr, dass diesem wichtigen Datum mit der Feier der ersten Messe in Brasília gedacht wird.“
Die „Erste Messe in Brasília“, ein historischer Meilenstein bei der Errichtung der neuen Hauptstadt, wurde sorgfältig geplant, um an die Messe zu erinnern, die im Jahr 1500 von der Cabral-Flotte am Strand von Coroa Vermelha im Süden von Bahia gefeiert wurde und die symbolisch die Inbesitznahme der Territorien der indigenen Völker durch das portugiesische Reich markierte. Kubitschek wollte nicht so sehr das Ereignis selbst reins­zenieren, sondern ein Bild des Ereignisses nachempfinden, das in Victor Meirelles‘ Gemälde „Erste Messe in Brasilien“ von 1861 verewigt ist. Auf dem Bild ist ein großes Kreuz aus Baumstämmen zu sehen, das von betenden Kolonisatoren umringt ist. Eine Gruppe von Indigenen beobachtet die Zeremonie mit einer Mischung aus Erstaunen, Ehrfurcht und Ehrerbietung. Dabei bildet die tropische Natur die Kulisse.
Um einen ähnlichen Bildeffekt zu erzielen, wurde auf der Baustelle von Brasília eine komplette Nachinszenierung geschaffen. Der von Oscar Niemeyer entworfene Altar war rustikal und minimalistisch. Mit seiner Holzkonstruktion und einer riesigen gespannten Plane wurde die „primitive“ Umgebung der kolonialen Eroberung wie ein Pionierlager in die Sprache der Moderne übersetzt. Ein großes hölzernes Kruzifix erhob sich über dem Zelt und setzte ein vertikales Zeichen in die flache Savanne Zentralbra­si­liens, das die Inbesitznahme eines Territoriums markierte, wie es einst die europäischen Eroberer taten. Politische, religiöse und militärische Würdenträger und Inhaberinnen eines hohen Amtes aus allen Regionen Brasiliens waren anwesend. Zur Abrundung der Veranstaltung befahl Präsident Juscelino Kubitschek der brasilianischen Luftwaffe, eine Delegation der Karajá von der Insel Bananal einzufliegen, die an der Messe teilnehmen sollte. „Mit ihren typischen Eigenheiten und ihrem Schmuck bildeten sie die malerische Note der Zeremonie“, berichtete die Zeitschrift Brasília, das offizielle staatliche Propagandamedium über die neue Hauptstadt, im Mai 1957.
Koloniale Tradition
Die „Erste Messe in Brasília“ war in erster Linie ein fotografisches Ereignis, das von Zeitungen, Zeitschriften und Kinos aufgenommen werden sollte. Sie sollte ein Bild nationaler Modernität propagieren, das in Kontinuität zur europäischen Invasion der indigenen Territorien stand. Wie die indigenen Völker auf dem Gemälde von Victor Meirelles wurden auch die Karajá als Nebendarsteller und Nebendarstellerinnen in einem Drehbuch eingesetzt, das den Raub ihres Territoriums und die Beherrschung ihres Volkes in heroischer Weise darstellte. Dieses modernistische Theater war von symbolischer Gewalt erfüllt.
Genauso wie es unmöglich ist, den europäischen Imperialismus vom Völkermord an den indigenen Völkern zu trennen, ist es schwierig, der Hauptstadt die patrimoniale Interpretation der Moderne und der national-ethnischen Integration zuzugestehen, die sie zu repräsentieren vorgibt. Brasília setzt in seiner materiellen und immateriellen Landschaft dem Kolonialismus weiterhin ein Denkmal, indem es die Geschichte der Eroberung Amerikas mit nationalistischen Gefühlen in Einklang bringt, während es die Gewalt, die dies darstellt, unerwähnt lässt.
Heute steht an dem Ort, an dem die „Erste Messe“ gefeiert wurde, an der Spitze der so genannten „Monumentalachse“, dem Hauptzugang zur Landeshauptstadt, eine Nachbildung des 1957 verwendeten Kruzifixes. Das Original ist in der Metropolitan-Kathedrale zu sehen. Neben dem „Kruzifixplatz“ befindet sich das „Memorial JK“, ein von Niemeyer entworfenes monumentales Mausoleum, das die sterblichen Überreste von Juscelino Kubitschek beherbergt. Die Grabkammer ist von einem Fliesenrelief umgeben, das von Athos Bulcão entworfen und von Marianne Peretti mit Glasmalerei gestaltet wurde. Im Granit des Grabmals ist die Inschrift „Der Gründer“ eingemeißelt.
Da die „Erste Messe“ ein Gründungsereignis in der Geschichtsschreibung von Brasília ist und es sich um die Gedenkstätte handelt, die die architektonische Erzählung der Monumentalachse eröffnet, funktioniert die Nachbildung des Kruzifixes als verschlüsselte symbolische Botschaft für das gesamte urbane Umfeld der Landeshauptstadt. Es stellt die moderne Landschaft, die sich bis zur Praça dos Três Poderes entfaltet – dem „Platz der drei Gewalten“, wo sich die Sitze der Legislative, der Judikative und der Exekutive des Landes befinden –, in einen historischen Zusammenhang, dessen Ursprünge im Kolonialismus liegen. Die Öffentlichkeit ist aufgefordert, die Botschaft zu begreifen und mehr noch, sie zu teilen und zu billigen, dass die nationale Moderne, die Brasília repräsentiert, nur dann ihre volle Bedeutung erlangt, wenn sie in Kontinuität mit der territorialen Kolonisierung betrachtet wird, dem offensichtlichen Schicksal einer Nation, die „nach Westen marschiert“.1
An dieser Stelle ist es wichtig, die Bedeutung des Begriffs Bandeirante zu erläutern, der dem im Memorial JK gezeigten Film von Jean Manzon den Titel gibt und dessen mögliche sinngemäße Bedeutung im Deutschen „Pionier“ ist. Die für ihre Gewalttätigkeit berüchtigten Bandeiras waren paramilitärische Erkundungstrupps im kolonialen Brasilien, deren Ziel es war, Indigene gefangen zu nehmen, um sie als Sklaven und Sklavinnen
zu verkaufen, und nach Mineralien zu suchen. Unter dem Kommando europäischer Nachkommen führten sie Krieg gegen Gruppen von Ureinwohnern sowie gegen freie Gemeinschaften von geflohenen schwarzen Sklaven, die so genannten Quilombos. Sie waren auch für die Erschließung der reichen Goldvorkommen in Zentralbrasilien verantwortlich und dehnten damit die territoriale Souveränität des portugiesischen Reiches über den Kontinent aus.
In der offiziellen Version der brasilianischen Nationalgeschichte haben die Bandeiras und ihre Anführer, die Bandeirantes, einen heroischen, mythischen Status erlangt. Dieses Erbe ist zu einem großen Teil auf die strategischen Investitionen zurückzuführen, die der brasilianische Staat in das Narrativ der Expansion der Grenzen als Bild der nationalen Identität und des Fortschritts leistete, und zwar mit verschiedenen Mitteln der politischen Propaganda und der kulturellen Produktion, wie Kunst, Fotografie, Kino und Architektur. Der neben Kubitscheks Grabkammer gezeigte Film „O Bandeirante“ von Manzon präsentiert eine andere Version dieses kolonialen Mythos der Nationenbildung und stellt Brasília als modernistische Manifestation dieser Pionierideologie dar.
Unter dem Eindruck dieser Landschaft sieht man sich mit einer Frage konfrontiert, der man nicht mehr ausweichen kann: Welche historischen Wahrzeichen in der Hauptstadt, die ja selbst ein Stadtmonument ist, gedenken der kolonialen und rassistische Gewalt, als handele es sich um he­roische Geschichten der national-rassischen Einheit und der Demokratie? Sollten die monumentalisierten Bilder von Bandeirantes, die die Grenzen des Hinterlandes erforschten und besetzten, als symbolische Wahrzeichen der Moderne oder als Dokumente der kolonialen Barbarei interpretiert werden? Wie Walter Benjamin uns gelehrt hat, sind sie beides zugleich.2
Die gesamte Gedenksymbolik dieser „Landschafts-Brasiliana“ beruht auf den Grenzen zwischen Moderne und Kolonialität, die durch diese und andere Denkmäler in Brasília gesetzt werden. Der Architekt Lúcio Costa, der Urheber des Masterplans von Brasília, begründete den Entwurf als „einen bewussten Akt der Inbesitznahme ... eine Geste noch im Sinne der Pioniere, in Anlehnung an die koloniale Tradition ... zwei Achsen, die sich im rechten Winkel kreuzen, das heißt, das Zeichen des Kreuzes selbst.“ Dies ist die symbolisch-urbanistische Grundlage des so genannten „Pilotplans“ von Brasília, dessen Raumaufteilung der Form eines Kreuzes folgt. Die Verwandlung des Kreuzes in ein Flugzeug, das dem Fortschritt entgegenfliegt, wie es vielerseits interpretiert wird, ist eine von vielen symbolischen Konstruktionen der Beziehung zwischen Kolonialismus und Moderne in der Staatsbildung Brasiliens, die durch Brasília so gut repräsentiert wird.3
Darüber hinaus ist es interessant festzustellen, dass die monumentale Dimension des Kolonialismus, die in der kreuzförmigen Stadtanlage von Brasília verkörpert wird – eine Art Land-Art im territorialen Maßstab –, nur aus einer externen und entfernten Perspektive erkennbar ist, die durch moderne Mittel der Landschaftsdarstellung wie an Flugzeuge gekoppelte Fotokameras oder Satellitenbilder hergestellt wird.
Verbreitet durch die visuelle Kraft der öffentlichen Architektur und perpetuiert durch Fotografie, Zeitschriften, Zeitungen und Kino, wurde Brasílias koloniale Erzählung zu einem Gründungsmythos der nationalen Moderne in Brasilien, der über das gesamte politisch-ideologische Spektrum hinweg, von links bis rechts, von demokratischen wie diktatorischen Regierungen reproduziert wurde. Sogar ein Kritiker und Kurator wie Mario Pedrosa, der für seine eher links orientierte Arbeit über Kunst und Politik bekannt ist, stützte diese Erzählung, indem er im Kolonialismus die radikale ästhetische Geste erkannte, die Brasília seine universelle Einzigartigkeit verleiht. Die Originalität der Stadtplanung von Lúcio Costas, so Pedrosa, sei zurückzuführen auf die „Erkenntnis, dass die einzig mögliche Lösung immer noch auf der Grundlage der kolonialen Erfahrung beruht, d. h. auf der Inbesitznahme, wie sie Cabral vorgenommen hat, indem er das Zeichen des Kreuzes in das Land eingravierte.“4
Koloniales jenseits des Symbolischen
Brasílias modernistische Verbundenheit mit dem Kolonialismus geht über die rein symbolische Dimension hinaus. Für viele indigene Völker, insbesondere für die Karajá, die einige hundert Kilometer nördlich von Brasília leben, bedeutete die Errichtung der neuen Hauptstadt die Fortsetzung eines säkularen Prozesses der Kolonisierung und der territorialen Enteignung, der durch Diskurse, Bilder und Vorstellungen von nationaler Modernität und rassischer Integration legitimiert wurde.
Die Delegation der Karajá, die von der Insel Bananal zur Teilnahme an der „Ersten Messe in Brasília“ gebracht wurde, lebte in der Nähe einer Indigenen-Station des sogenannten Indianerschutzdienstes (SPI), einer staatlichen Behörde, die 1910 mit dem Auftrag gegründet wurde, die indigene Bevölkerung Brasiliens zu „befrieden“ und zu „integrieren“.5 Im Rahmen des Regierungsprogramms „Marsch nach Westen“, einer staatlichen Kampagne zur Ausweitung der Grenzen, die vom diktatorischen Regime von Getúlio Vargas (1937–1945) durchgeführt wurde, richtete die brasilianische Luftwaffe einen Stützpunkt neben der SPI-Station ein, die dann „Indigene Station Getúlio Vargas“ genannt wurde. Kubitschek nutzte diese Infrastruktur, um die Insel Bananal in einen Nationalpark umzuwandeln, und beauftragte Oscar Niemeyer mit dem Entwurf eines Luxus-Touristenhotels mit dem Namen „Hotel JK“ für die politischen Eliten und die Staatsbürokratie, die in Brasília residieren sollten.
Diese Politik begünstigte verschiedene Invasionen in das Territorium der Karajá und hatte verheerende Auswirkungen auf die ökologische und kulturelle Nachhaltigkeit dieser Gemeinschaften. Mitte der 1960er Jahre gab es auf der Insel Bananal so viele Rinderfarmen, dass die Karajá-Dörfer, wie ein Anthropologe feststellte, der die Region besuchte, durch Stacheldrahtzäune buchstäblich in ihrem eigenen Gebiet eingeschlossen waren: „Für die Umzäunung des Weidelands ist kein Geld da. Die einzige billige Lösung besteht darin, das Dorf einzuzäunen, so dass es wie ein Internierungslager wirkt, das die Karajá drinnen und nicht das Vieh draußen halten soll.“6
Dieser Diskurs, der Modernisierung und Kolonialismus in Einklang bringt und von Brasília repräsentiert wird, diente der Staatsmacht zur Legitimierung von Entwicklungsprojekten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, insbesondere während der von den USA unterstützten Militärdiktatur (1964–1984), ethnozidale und genozidale Folgen für die indigene Bevölkerung Brasiliens mit sich brachten. General Golbery do Couto e Silva, der große geopolitische Stratege des Militärregimes, interpretierte Brasília als „Plattform“, von der aus er eine neue „Besatzungs- und Integrationsfront“ über den Amazonaswald eröffnen wollte. Diese Politik der militarisierten Kolonisierung, die sich in zahlreichen Plänen, Projekten und Architekturen niederschlug, war nach Angaben der brasilianischen Wahrheitskommission für die gewaltsame Vertreibung und Ermordung tausender Indigener verantwortlich.7
Die Memorialisierung des Kolonialismus in Brasília dient nach wie vor als legitimierender Diskurs für diese Art von staatlicher Politik, die unter der rechtsextremen Regierung von Präsident Jair Bolsonaro neue Kraft gewonnen hat, indem sie das Bild verbreitete, dass die nationale Entwicklung mit einer Art „internem Kolonialismus“ verbunden ist. Ohne hinterfragt zu werden, bestärken diese Denkmäler diese Narrative und bewirken, dass die Gewalt dieses Diskurses naturalisiert, ausgeblendet und vor allem in der Gegenwart fortgesetzt wird.
Gegen-Denkmäler
In den vergangenen Jahren wurden in verschiedenen Städten in den Vereinigten Staaten und in Europa Denkmäler und Statuen von Sklavenhändlern und Kolonialherren angeprangert, entfernt und zerstört. Wenn antirassistische und antikoloniale Bewegungen die Monumentalität in Frage stellen, die Kolonialismus und Rassismus zelebriert, betrachten sie die Erinnerung und das Recht auf Erinnerung im öffentlichen Raum als ein umkämpftes Territorium, das offen ist für Wiederaneignungen und Umwidmungen, die die offizielle Geschichte hinterfragen, für die diese Denkmäler stehen.
Denkmäler wurden in der Geschichte immer dann problematisiert, wenn gesellschaftliche Kräfte die etablierten Machtsysteme in Frage stellten. Französische Revolutionäre enthaupteten nicht nur Ludwig XVI., sondern zerstörten auch Statuen von Monarchen in ganz Frankreich.8 Im Zuge der Unabhängigkeit Mosambiks im Jahr 1975 wurde das markante Reiterstandbild des portugiesischen Militäroffiziers Joaquim Augusto Mouzinho de Albuquerque, das die koloniale Hauptstadt Lourenço Marques zierte, in ein Museum gebracht, und die Stadt wurde in Maputo umbenannt.9
Die aktivistischen Taktiken, die Black Lives Matter und andere Bewegungen anwenden, wie etwa symbolisch-performative Aktionen, bei denen mitunter auch objektive Gewalt gegen Denkmäler ausgeübt wird, werden oft als Versuche kritisiert, die Geschichte zu „löschen“ oder „anzugreifen“. Wir können die Geschichte sicherlich nicht löschen, bearbeiten oder so tun, als hätten wir eine andere Geschichte, aber wir können verlangen, dass die Geschichte, die wir haben, anders erzählt wird, so dass die Formen der Unterdrückung, die durch diese öffentlichen Denkmäler vermittelt werden, nicht fortgeschrieben werden.
Im brasilianischen Kontext war die Debatte über die Entfernung beziehungsweise Umgestaltung von Denkmälern, die dem Kolonialismus huldigen, ein wichtiges Anliegen von sozialen Bewegungen, insbesondere was die Denkmäler zu Ehren der Bandeirantes angeht. In der Stadt São Paulo beispielsweise gilt die Skulptur „Monument für die Bandeiras“ von Victor Brecheret als ein Wahrzeichen der modernen nationalen Kunst, und die Identität São Paulos wird nach wie vor in Verbundenheit mit dieser Geschichte des Völkermords durch Skulpturen und Namen von Straßen, Plätzen und Boulevards gepflegt.
... und ähnliche Geschichten
Bilder und Narrative der nationalen Modernisierung und des historischen Erbes in Brasília neu zu definieren, ist eine lokale, nationale und sogar internationale Frage, die sich mit der historischen Komplizenschaft der modernen Architektur mit dem Siedlerkolonialismus befasst.10 Anstatt Brasília als Grenzmarkierung der nationalen Moderne zu feiern, sollten wir darüber nachdenken, wie bestimmte Erinnerungen verstetigt, während andere ausgelöscht werden, und versuchen, neue Erinnerungskartografien in der Struktur der Stadt zu zeichnen. Die durch Archive, Kunst und Architektur vermittelten Narrative sollten dekonstruiert und durch eine umfassende Debatte mit den verschiedensten Teilen der Gesellschaft, insbesondere mit denjenigen, deren Erinnerungen vernachlässigt wurden, neu definiert werden. In diesem Sinne reicht es nicht aus, von Denkmälern „plurale Narrative“ zu fördern, da es nicht um unterschiedliche Perspektiven auf die Geschichte geht, sondern um historische Wiedergutmachung.11
Initiativen wie die Ausstellung „Wiederaneignung: Narrative der schwarzen Präsenz in der Geschichte des Bundesdistrikts“ im Nationalmuseum von Brasília haben versucht, die offizielle Bildsprache über Brasília zu problematisieren und der Öffentlichkeit Zugang zu einer anderen Sicht auf die Stadt zu verschaffen. Wie die Kuratorin Ana Flávia Magalhães Pinto erklärt, „erlebten wir im Laufe der Zeit die Verleugnung der schwarzen Präsenz in den Bildern vom Aufbau von Brasília“.12 Die Ausstellung lud das Publikum ein, mehr über die Hauptstadt zu erfahren, jenseits dieses historischen Prozesses der Verleugnung und Weißfärbung ihrer Erinnerung. Durch eine detaillierte Archäologie der visuellen Archive von Brasília, einer der meistfotografierten Städte der Welt seit ihrer Errichtung, zeigte die Ausstellung nicht nur die zentrale Rolle der schwarzen Präsenz in der Geschichte der Hauptstadt, sondern auch, wie diese Präsenz durch den Nimbus der Stadt getilgt wird. Darüber hinaus forderte die Ausstellung das Publikum auf, anzuerkennen, dass die Region, in der Brasília liegt, lange bevor sich Präsident Kubitschek zum „Begründer“ der Zivilisation im „Ödland“ der brasilianischen Grenze erklärte, angestammtes Quilombo-Territorium war, bewohnt von freien und autonomen Gemeinschaften geflohener versklavter afrikanischer Volksgruppen und deren Nachkommen.
Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Erinnerung, die im öffentlichen Raum sichtbar ist, verleugnet oder gelöscht wird, und der Kontinuität von Unterdrückung, staatlicher Gewalt und strukturellem Rassismus. In den letzten Jahren waren der Quilombo Kalunga – einer der größten des Landes, etwa dreihundert Kilometer nördlich von Brasília – und der Quilombo Mesquita – weniger als fünfzig Kilometer südlich der Hauptstadt – mit einer Reihe von Angriffen auf ihre territorialen Rechte konfrontiert. 2018 wurde per Regierungsbeschluss die Abholzung von mehr als achtzig Prozent des ursprünglichen Gebiets des Quilombo Mesquita genehmigt. Und im Jahr 2020, mitten in der COVID-19-Pandemie, wurde eine große Fläche des Kalunga-Territoriums illegal abgeholzt, um Sojaplantagen anzulegen.13 Waldgebiete, die rund um die Guarani-Dörfer im indigenen Territorium Jaraguá in São Paulo noch vorhanden sind, werden durch Immobilienprojekte bedroht. Dies sind die wahren Akte des Vandalismus, die das angestammte Erbe, das diese Gebiete darstellen, verunstalten und entstellen.
Die Errichtung des Denkmals der indigenen Völker neben dem Memo­rial JK im Jahr 1987, eine Initiative, die Ausdruck der führenden Rolle der indigenen Bewegung im Prozess der Re-Demokratisierung nach der Diktatur ist, setzt einen Kontrapunkt zum Narrativ des modernen Kolonialismus, das von der Landeshauptstadt gepflegt wird. Aber es gibt noch mehr zu tun, hier in Brasilien und anderswo.
1 „Marsch gen Westen” war der offizielle Name des staatlichen Programms zur Grenzexpansion, aufgelegt von dem diktatorischen Regime von Getúlio Vargas (1937–1945).
2 Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte (On the concept of history),” 1940, in: Walter Benjamin zum Gedächtnis, hg. von Max Horkheimer und Theodor Adorno, Institute for Social Research, Los Angeles 1942
3 Ein aussagekräftiges Beispiel für die Kreuz-Flugzeug-Metapher wurde 1957 von dem Kunstkritiker Mario Pedrosa formuliert: „Lúcio Costa’s wisdom consisted in accepting the incongruity inherent in the program, and, avoiding any mid-way or eclectic solution, resolutely deciding on the inexorable side, given the immediate objective conditions: the full recognition that the only possible solution was still at the basis of the colonial experience, that is, a taking over of Cabraline fashion, carving on earth the sign of the cross, or, in a more ‘modern’ and optimistic evocation, making the shape of an airplane to land sweetly on its surface.” Mario Pedrosa, “Reflexões em torno da nova capital (Reflections on the new capital),” Revista Brasil: Arquitetura Contemporânea no. 10, 1957
4 ebd.
5 Die Politik der “Befriedung” und “Integration” der indigenen Bevölkerung wurzelt in der kolonialen Praxis von katholischen Orden wie der Jesuiten, entwickelte sich zur Grundlage staatlicher Politik im 19. Jahrhundert und wurde bis ins späte 20. Jahrhundert von staatlichen Behörden umgesetzt. Siehe: João Pacheco de Oliveira, O nascimento do Brasil e outros ensaios: “pacificação,” regime tutelar e formação de alteridades. Contra Capa, Rio de Janeiro 2016
6 Christopher J. Tavener, „Introduction to the Karajá and the Brazilian Frontier,” in „Peoples and Cultures of Native South America“, hg. von Daniel R. Gross; Natural History Press for The American Museum of Natural History, 1973
7 „Violações de direitos humanos dos povos indígenas”, Volume 2, Text 5, in „Relatório da Comissão Nacional da Verdade“; Comissão Nacional da Verdade, Brasília 2014
8 Andrew McClellan, „The Life and Death of a Royal Monument: Bouchardon‘s Louis XV,” Oxford Art Journal 23, no. 2.2000
9 Noticiário Nacional de 1975, „Derrube estátua de Mouzinho de Albuquerque” gesendet am 21. Mai 1975 auf RTP 1
10 Adriana Farias, „Filho de Brecheret vê ligação entre pichação e último debate eleitoral” Veja São Paulo, June 2017
11 Marcos Tupã, „Monumento à resistência do povo guarani” Ybirupa Comissão Guarani, October 2013
12 Brasílias amerikanisches Spiegelbild ist Chicago: beides sind moderne Kolonialstädte im mittleren Westen ihres Landes, gebaut auf dem enteigneten Grund der Indiginen, gegründet auf Rassen- und Klassentrennung und geprägt von moderner Architektur, die als ideologischer Schleier die rassistischen Strukturen der Moderne legitimiert.
13 Conceição Freitas, „Brasília, uma cidade para brancos construída pelos pretos”, Metrópoles, October 2019

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