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Mini-Freiluft-Alibi

Beatrix Flagner war selbst auf Wohnungssuche – und hat etwas Bezahlbares mit kleiner Dachterrasse gefunden.

Text: Flagner, Beatrix, Berlin

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Mini-Freiluft-Alibi

Beatrix Flagner war selbst auf Wohnungssuche – und hat etwas Bezahlbares mit kleiner Dachterrasse gefunden.

Text: Flagner, Beatrix, Berlin

Kein Erdgeschoss, Badezimmer mit Fenster, ruhige Straße, Echtholzboden und ein Balkon – das sind wohl die Standards, mit denen viele auf Wohnungssuche gehen. Wer nicht bereit ist, zwanzig Euro pro Quadratmeter zu zahlen – oder es sich schlicht nicht leisten kann –, muss in Berlin Abstriche machen. Dann beginnt der innere Verhandlungsprozess und das Schlechtreden: Was braucht man wirklich? Ist der Balkon doch verzichtbar? Dieses verklärte Stück Freiluftfläche, das uns vorgaukelt, wir könnten mitten in der Stadt ein wenig Urlaubsstimmung erleben? Er lebt vom Idealzustand, der in den Monaten Mai, Juni und September erreicht wird. Ansonsten: zu ungemütlich, zu heiß, zu viel Pollenflug, Baustellenlärm oder Wespeninvasion. Die Hälfte des Jahres bleibt der Balkon ungenutzt und trotzdem zahlt man dafür Miete. Im Winter wird er zum Abstellplatz für vertrocknete Kräuter in aufgeplatzten Pflanzkübeln. Silvester ist vielleicht der einzige Tag in dieser Zeit, an dem er tatsächlich sinnvoll ist – zum Feuerwerkgucken und Getränkekühlen.
Ein teures Vergnügen ist ein Balkon obendrein. Man kauft wetterfeste Möbel, die dennoch nach jedem Regenguss neu ausgerichtet werden müssen. Man investiert in Pflanzen, die nach zwei Wochen Sonnenbrand eingehen oder von Tauben zerfleddert werden. Frühstück draußen? Alles muss rausgetragen werden, Butter und Käse schmelzen, der Tisch ist zu klein, denn auf dem winzigen Balkon findet ohnehin nur ein Klapptisch Platz. Auch von Privatsphäre keine Spur. Gießwasser tropft von oben herab und Gespräche schallen in alle Richtungen und werden zur öffentlichen Ansage. Balkone sind ideale Schauplätze für passiv-aggressive Nachbarschaft: Grillgeruch, Musik, Zigarettenrauch – alles findet seinen Weg. Statt zum Rückzugsort wird der Balkon zur diplomatischen Grauzone, denn schon steht der Sichtschutz, weil man die Nachbarn spätestens nach der dritten Grillwurst des Sommers einfach nicht mehr erträgt.
Kurzum: Der Balkon ist ein überbewertetes Mini-Freiluft-Alibi. Auch wenn die fünf, sechs Abende im Jahr, an denen alles passt – lauer Sommerabend, keine Mücken, keine Verpflichtungen, ein Glas Wein, Bier oder Limo in der Hand – einfach richtig schön sind.

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