Bauwelt

Über Grenzen hinweg

Kristin Feireiss 1942–2025

Text: Geipel, Kaye, Berlin

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    Kristin Feireiss bei der Eröffnung der Ausstellung „Human:Nature“ von Dorte Mandrup im Sommer 2019.
    Foto: Erik-Jan Ouwerkerk

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    Kristin Feireiss bei der Eröffnung der Ausstellung „Human:Nature“ von Dorte Mandrup im Sommer 2019.

    Foto: Erik-Jan Ouwerkerk

Über Grenzen hinweg

Kristin Feireiss 1942–2025

Text: Geipel, Kaye, Berlin

Am 28. März stand sie noch einmal im Hof ihrer Galerie – zur Eröffnung unserer Ausstellung der spanischen Architekten Gutiérrez de la Fuente1 und jener von Angela Pang. Nichts ließ ahnen, dass es das letzte Mal sein würde. Als sie vor der dunkel angestrahlten Ziegelwand das Podium betrat, erschien sie mir wie jedes Mal als Leuchtturm, der selbst widrige Berliner Witterungen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn – überstrahlte. Ihre Haltung, Präsenz und ihre Geschichte bewiesen, dass andere Denk- und Handlungsformen möglich und machbar sind. Dass eine Stadt wie Berlin, oft schwerfällig, offen für Neues und Zukunftsgewandtes sein kann, im Dialog mit den städtebaulichen Entwicklungen in Europa. Und darüber hinaus. Es war ihre letzte Eröffnung im eigenen Haus. Drei Wochen später, in der Nacht zum Ostersonntag, ist sie nach kurzer Krankheit gestorben.

Stadt im Kopf

Kristin Feireiss hatte den Überblick – und das Vertrauen in den Wandel. Mit der 1980 von ihr und Helga Retzer gegründeten Galerie, der weltweit ersten ihrer Art, war sie weit mehr als eine Architekturvermittlerin – obwohl sie in dieser Rolle Maßstäbe gesetzt hat. Sie setzte eigene Themen und folgte ihnen vor allem dort, wo sie erkannte, dass sich die Architektur als notwendiger Teil gesellschaftlicher Veränderung positionieren musste – wie etwa in der Klimadebatte.
Die deutsche Sprache kennt kein gutes Wort für jene, die viele Rollen in einer Person verkörpern. Mit einem französischen Ausdruck war sie la grande dame de l’architecture. Doch sie war ebenso die grande dame der Frage: „Wie weiter mit der eigenen Stadt?“ Gerade in Deutschland, wo die Stadtentwicklung gern der Vergangenheit verhaftet blieb, war ihre klare Vorstellung davon, was eine „gute Stadt für alle“ sein kann – und welche Rolle Architektur dabei spielt – von unschätzbarem Wert. Feireiss dachte die Architektur von der Stadt her, lange bevor Begriffe wie die 15-Minuten-Stadt beide in eine unauflösbare Beziehung setzten.
Wer außer ihr hätte, um nur ein Beispiel zu nennen, ein zentrales Werk der deutschen Stadtkritik so souverän und gleichzeitig distanziert würdigen können, wie sie es im Januar 2015 tat? Damals sprach sie im Radio mit Werner Durth und Walter Siebel über Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Alexander Mitscherlichs berühmten Essay von 1965. Sie lobte dessen Wirkung – aber widersprach entschieden der einseitigen Diagnose: 95 Prozent Anklage, nur 5 Prozent Vision, sagte sie. Das helfe nicht weiter.
Ihre geistigen Verbündeten waren nicht die Kulturkritiker der Nachkriegszeit, sondern Autoren wie Henri Lefebvre und Richard Sennett, deren Texte die Handlungsmöglichkeiten für die Nutzer in den Mittelpunkt rückten. Dass sie schon mit ihrer allerersten Ausstellung eine klare Haltung bezog, zeigt sich im Rückblick besonders deutlich: Während rund-herum die Postmoderne der IBA vorbereitet wurde, präsentierten Feireiss und Retzer im 40-Quadratmeter-Ladenlokal in der Grolmanstraße in Charlottenburg das 1957er Hauptstadtprojekt von Alison und Peter Smithson – eine frühe Alternative zur heute immer weiter fortschreitenden städtischen Verdichtung, in der der Grünraum keine Rolle mehr spielt.

Nichts ist losgebrochen

Diese zukunftsorientierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit war ihr Markenzeichen – gerade auch in jener Phase, als Berlin nach der Wen-de seine städtebaulichen Vorbilder in der Blockrandbebauung und im Stadtmodell des 19. Jahrhunderts zu suchen begann. Kristin Feireiss praktizierte diese Haltung mit Charme und einer fröhlich-anstiftenden Begeisterung. In den bleiernen Jahren der Stimmann-Ära, als Teile der internationalen Architektenschaft, vor allem aber junge Berliner Architektinnen und Architekten an den Rand gedrängt wurden, war Aedes der Ort zum Diskutieren und Luftholen: zunächst noch in den S-Bahn-Bögen am Savignyplatz, ab 1994 dann in den Hackeschen Höfen in Mitte.
Feireiss kommentierte diese Zeit einmal lapidar: „Wir, die Architekten in Berlin, in Deutschland und unsere ausländischen Freunde hatten eigentlich gedacht, nach dem Fall der Mauer würde Berlin richtig dynamisch werden. Jetzt bricht es los! Aber nichts ist losgebrochen. (…) Im Grunde war es dieselbe Starrheit wie zuvor bei der IBA Neu.“ 2
Aedes zeigte damals, wie es anders gehen könnte – „wir waren nie Kämpfer gegen, wir waren immer Kämpfer für etwas“ – etwa mit dem nicht realisierten Entwurf von Peter Zumthor zur „Topographie des Terrors“, mit Alternativen zum Wiederaufbau des Berliner Schlosses oder mit dem GSW-Hochhaus von Sauerbruch Hutton mit seiner farbigen Klimafassa-de, das, gegen viele Widerstände durchgesetzt, zu einer Ikone des Ber-liner Stadtbilds geworden ist.

Viel mehr als eine Galerie

Blickt man auf 45 Jahre Aedes zurück, so liegt die vielleicht größte Leistung von Aedes nicht allein darin, die Erste gewesen zu sein. Es liegt da-rin, dass sich Feireiss, ab 1990 gemeinsam mit ihrem Ehemann Hans-Jürgen Commerell, von Anfang an zugetraut hat, mehr als eine Architektur-galerie zu sein. In einer Stadt, die trotz des Umbruchs von 1989 kulturpolitisch nie den Mut hatte, eine eigenständige Architekturinstitution – ein Zentrum oder Museum – zu etablieren, hat Aedes diese Rolle auf eigene Weise übernommen.
Aedes wuchs, ganz auf Eigeninitiative beruhend, in die Rolle eines weltweit anerkannten privaten „Architekturzentrums“ anderen Stils hinein: sich aktiv einmischend in aktuelle Debatten, Projekte aus aller Welt nach Berlin holend, die Vorbild sein konnten – stets mit Blick auf die tiefgreifenden Veränderungen, die die gesellschaftliche Rolle von Architektur durchlaufen hat. Nach der deutschen Konjunkturkrise zu Beginn der Jahrtausendwende entwickelte Aedes unter der Federführung von Hans-Jürgen Commerell dann das zweite Standbein: den Aedes Campus, der 2006 mit dem Umzug ins Pfefferbergareal eröffnet wurde. In enger Kooperation mit weltweit renommierten Hochschulen und Forschungseinrichtungen wer-den hier – weit über die Architektur hinaus – auch Stadtklimatologinnen, Wohnbausoziologen, Materialforscher, Mobilitätsingenieurinnen und vor al-lem junge Architektinnen und Architekten mit ihren Konzepten einbezogen.

Mehr als 600 Ausstellungen

Einer der originellsten Debattenräume Berlins dient diesem Campus alle 14 Tage als Bühne: Die Zuschauerreihen in zwei L-förmig auf das Podium zulaufenden Räumen schaffen eine dichte Atmosphäre, während nebenan im sechswöchigen Rhythmus jeweils zwei Ausstellungen rotieren – ein gewal-tiges Programm. Was das für das kleine Aedes-Team bedeutet, wird deutlich im Vergleich mit Museen europäischer Großstädte, wo ein vergleichba-rer Output nur durch deutlich größere Institutionen geleistet werden kann.
In den letzten 45 Jahren sind über 600 Ausstellungen entstanden. Ein gutes Dutzend davon exemplarisch zu nennen, bleibt ein subjektives Unterfangen: Die Wiener-Wohnbau-Ausstellung 2010 war ein Vorbild für Ber-lin; Xu Tiantians stupende Eleganz zeigte, wie neue Entwurfsideen vernachlässigte Dörfer auf dem Land neu beleben können. Es gab architektonische Brillanz – etwa mit dem in Europa nahezu unbekannten Koreaner Kim Swoo Geun – und eine frühe Sichtbarkeit für japanische Büros wie Atelier Bow-Wow, SANAA, Toyo Ito und Riken Yamamoto, lange bevor sie international gefeiert wurden. Die Mexikanerin Tatiana Bilbao stellte aus. In den 1980er- und 90er-Jahren, als ganz Europa seinen architektonischen Nährstoff aus den Niederlanden bezog, waren alle da: Rem Koolhaas, Ben van Berkel, Mecanoo, MVRDV, Kees Christiaanse. Die jungen Holzbauspezialisten NKBAK stellten aus, die eine andere ökologische Praxis ins Spiel brachten. Das neue Moskau präsentierte sich unter seinem Chefarchitekten Sergey Kuznetsov. Der 90-jährige Álvaro Siza nahm noch 2023 auf dem Podium Platz. Und Zaha Hadid zeigte 1984 „The Peak“ in ihrer ersten Ausstellung.
Dass Aedes diese Rolle übernehmen konnte – und das ökonomisch über vier Jahrzehnte durchhielt – hatte viel mit der enormen Fülle an Kontakten zu tun, die Kristin Feireiss und Hans-Jürgen Commerell über die Jahre aufgebaut hatten. Es gibt heute kaum einen Winkel der Welt, in dem sie nicht in die Architektur-, Kultur- oder Hochschullandschaft vernetzt wären. Das kluge Zusammenspiel von Ausstellen (in der Galerie) und Forschen (im Campus) war nicht zuletzt ein Ergebnis von Feireiss’ Erfahrung als Direktorin des Niederländischen Architekturinstituts (NAi), das sie von 1996 bis 2001 leitete. Bereits nach zwei Jahren gelang ihr dort mit der Südafrika-Ausstellung „Blank – Architecture, Apartheid and After“ eine Schau, die die Niederlande mit ihrer Vergangenheit als Kolonialmacht konfrontierten und im selben Atemzug die junge südafrikanische Architekturszene erstmals nach Europa holte. Zwischen 2013 bis 2017 war sie das bislang einzige deutsche Mitglied der Pritzker-Preis-Jury. In ihre Amtszeit fiel u.a. die Auszeichnung von Shigeru Ban, Frei Otto (posthum) und Alejandro Aravena. Die letzte von vielen Auszeichnungen, die sie selbst erhielt, war der Fritz-Schumacher-Preis, den ihr die Stadt Hamburg im Dezember 2024 verlieh.

Eine Mammutaufgabe

Aedes hat längst selbst Architekturgeschichte geschrieben. Wenn es so etwas gäbe wie die „global impact history of architecture“, wäre die Gale-rie ganz vorne mit dabei. Neben der Biennale in Venedig und großen Museen wie dem CCA, dem AzW oder dem Pavillon de l’Arsenal in Paris hat Aedes wesentlich dazu beigetragen, dass sich das Ausstellen von Architektur in den letzten Jahrzehnten verändert hat – weg von den Werkschauen, hin zu themenorientierten Präsentationen, die das Gebaute auch für ein breiteres Publikum übersetzen. Dazu beigetragen hat die ständige Herausforderung für die Ausstellenden: Wer bei Aedes präsentiert, kann nie einfach nur zeigen, was im eigenen Büro gerade fertig geworden ist. Immer gibt es eine Reihe von inhaltlich benachbarten Vorgänger-Ausstellungen, die die Messlatte, auch angesichts des internationalen Publikums, höher legen.
Wenn Kristin Feireiss am Abend einer Eröffnung ans Pult trat – schmal, meist auffällig gekleidet – war klar: Architektur ist ein kulturelles Medium, das über Kontinente hinweg positive Energie entfalten kann. Mich hat jedes Mal aufs Neue berührt, wie sie mit der Energie und dem Klang ihrer Stimme einen Raum erfüllte. Warm und hoch zugleich sprach sie mit einem Schwung, der den letzten Satz für einen Moment in der Schwebe ließ – gerade lang genug, dass man darauf antworten konnte. Das war ihre Art, den Dialog anzustoßen.
Sie war eine öffentliche Figur wie kaum jemand sonst in der Architekturszene – und zugleich zugewandt und aufmerksam im persönlichen Kontakt. Regula Lüscher, die ehemalige Berliner Senatsbaudirektorin, sagte zu ihrem 75. Geburtstag, der im Garten des Aedes Campus gefeiert wurde: „Wir sind hier alle in einer professionellen Beziehung. Aber wir sind gleichzeitig Freundinnen und Freunde, die wegen Dir hier zusammenkommen.“ Dazu brauchte es Kristin Feireiss als Gastgeberin.
Aedes wird von ihrem Lebens- und Arbeitspartner Hans-Jürgen Commerell und dem Aedes-Team weitergeführt. Die Aufgabe, diesen Ort lebendig zu halten, ist angesichts der privaten Struktur und der vielen Herausforderungen eine Mammutaufgabe. Die nächsten Ausstellungseröffnungen sind gesetzt. Auf die Präsentation der neuen Bauten des Künstlers Ai Weiwei, der in seiner Rolle als Architekt bereits 2001 bei Aedes ausgestellt hat und der mehrmals mit ansehen musste, wie seine chinesischen Atelierbauten von den Behörden wieder abgerissen wurden, hätte sie sich sehr gefreut.
1 Die Ausstellung „Shaping the Unbuilt Environment“, kuratiert vom Autor und den Architekten, lief vom 29. März bis 14. Mai 2025.
2 Einen Rückblick auf 40 Jahre Galeriearbeit im Gespräch mit Kristin Feireiss und HansJürgen Commerell hat der Autor gemeinsam mit Jan Friedrich in Bauwelt 18.2020 geführt.

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