Bauwelt

Warten auf die Barbaren

Text: Revzin, Grigorij, Moskau

Warten auf die Barbaren

Text: Revzin, Grigorij, Moskau

Der russische Großkonzern Gazprom ist mit seinem Vorhaben, einen 400 Meter hohen Turm in die Stadtsilhouette Petersburgs zu pfropfen, zum Synonym städtebaulicher Maßlosigkeit geworden. Gegen alle Widerstände verfolgte der Konzern jahrelang seine Pläne, unterstützt durch eine aggressive PR-Strategie, die den Petersburgern den Glasriesen abwechselnd kleinreden oder groß anpreisen sollte. Als Präsident Dimitri Medwedew den Bau im Mai dieses Jahres überraschend stoppte, war der Jubel inder Bevölkerung und unter den Architekten groß. Zu früh gefreut, warnt der Moskauer Architekturkritiker Grigorij Revzin.
2006 rief mich das Petersburger Akademiemitglied Nikita
Jawejn an und sagte, Sankt Petersburg müsse dringend vor dem Projekt eines 400 Meter hohen Wolkenkratzers namens Ochta-Center gerettet werden. Ich liebe Sankt Petersburg sehr und habe es bestimmt zehn Mal mit Publikationen, auch Rundfunk- und Fernsehauftritten zu retten versucht. 2009 wurde ich vom Bauherrn Gazprom extra zu einer Journalistenreise eingeladen, um das Projekt kennenzulernen. Ich sagte aufrichtig, dass ich das Projekt bereits kenne und wenig erfreut dar­über sei. Doch die PR-Abteilung des Ochta-Centers ließ sich davon nicht beirren.

Erst wurde ich in einem hervorragenden Hotel untergebracht, bekam lange, oft und gut zu essen, wurde mit einem Schiff auf der Newa herumgefahren und dann zu einem Termin mit Filipp Nikandrow gebracht, Mitarbeiter der Firma RMJM und Chefarchitekt des Projektes für den Wolkenkratzer, damit er mir alles erläutern konnte. Die Quintessenz seiner Aussagen bestand darin, dass ein großer Gegenstand, wenn er weit weg ist, klein aussieht. Er zeigte mir Bildchen, auf denen zuerst der Gazprom-Turm neben der Spitze der Peter-und-Paul-Festung sehr klein aussah, wenn man neben der Peter-und-Paul-Festung steht. Danach wirkte er sehr klein im Vergleich mit der Isaaks-Kathedrale, wenn man neben der Isaaks-Kathedrale steht, und schließlich sogar sehr klein neben dem Antlitz der Sphinx an der Akademie der Künste, wenn man neben der Sphinx steht. Filipp Nikandrow legte also die Gesetze der Perspektive nicht als Methoden des Zeichnens aus, sondern als Gesetze des menschlichen Sehens. Und während er redete, versuchte ich die ganze Zeit, mir darüber klar zu werden, ob er die Bewohner von Sankt Petersburg tatsächlich für einäugige Trottel hielt, oder ob er sich einfach dumm stellte. Letztlich denke ich aber, dass der Mann völlig aufrichtig war. Er glaubt tatsächlich, Menschen davon zu überzeugen, dass es gelingt, einen 400 Meter hohen Turm gänzlich unauffällig im Stadtpanorama unterzubringen.

Warum ich das glaube? Nun, er bezweifelt ja auch andere elementare Fähigkeiten seiner Gesprächspartner. So hat er mir zum Beispiel lang und breit erklärt, dass die Notwendigkeit, einen solchen Wolkenkratzer zu bauen, den Sicherheitsinteressen der Firma Gazprom geschuldet sei. In Moskau, im dorti­gen Büro in der Namjotkin-Straße seien es bis zur nächstgelegenen Straße hundert Meter, da werde ein großer Umkreis be­wacht, es gebe ein mit Schusswaffen kontrolliertes Gelände und einen Wassergraben, keine Maus könne da hindurch. Ich nahm alles staunend zur Kenntnis. Im weiteren Verlauf gab er mir zu verstehen, was für ein Gewinn ihr Turm für Sankt Petersburg sei, in seinem Inneren werde es ein archäologisches Museum geben, eine Eisbahn, einen öffentlichen Bereich und oben eine Aussichtsplattform, und alle Petersburger könnten all das nutzen und sich daran erfreuen. Ich fragte ihn, wie es denn um die Sicherheit stehe, wenn dort jeder einfach ein und aus gehen kann. Er antwortete, dass er keine geheimen Sicherheitsmaßnahmen preisgeben könne. Hauptsache, es käme kein LKW mit Sprengstoff durch, Selbstmordattentäter würden mit anderen Methoden abgefangen. Waren Sie schon mal auf einer Eisbahn mit einem Abfangmodus für Selbstmordattentäter?

Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, wurde mir im Büro von Gazprom an der Anglijskaja-Uferstraße der Film „Die Dominante“ vorgeführt. „Jeder Bewohner von Sankt Petersburg wird Ihnen sagen, dass hier nicht höher gebaut werden durfte als bis zum Sims des Winterpalais – 21 Meter“, verkündete eine Stimme aus dem Off. „Aber die Spitze der Peter-und-Paul-Festung ist 121 Meter hoch, die Kuppelhöhe der Isaaks-Kathedrale 102 Meter. Wie konnten sie entstehen?“ Diesen Film zeigt Gazprom bei Treffen mit Arbeitern in Betrieben. Nikandrow erklärte dazu, dass die geltende Bauordnung, nach der es streng verboten ist, im Zentrum höher als 40 Meter und in den Randbezirken höher als 80 Meter zu bauen, für die Kategorie ordinärer Stadthäuser geschaffen wurde, und dass es immer Bauwerke gab, die dieser Ordnung zuwiderliefen. Dominanten eben, und eine solche würde auch der „Gazpromkratzer“ werden. Nun ist in dem Gesetz aber von irgendwelchen Kategorien keine Rede. Es verbietet einfach, höher als 80 Meter zu bauen – Schluss, aus. Was Herrn Nikandrow nicht weiter zu stören scheint, denn folgt man seinen Argumenten, hat es in der Stadt früher wesentlich mehr Dominanten gegeben; zahlreiche Kirchen mit Glockentürmen wurden von den Bolschewiki vernichtet. Wenn man das Gesetz der Perspektive nun auf seine Weise nutzt und in einiger Entfernung vom Zentrum viele neue Dominanten baut, könne die Silhouette der Stadt doch nur gewinnen. Insgesamt schweben ihm bis zu 60 Wolkenkratzer vor.

Perspektivenwechsel

Damit kommen sie nicht durch, dachte ich bei mir und ging hinunter zur Admiralität, um das berühmte Uferpanorama auf gewohnte Weise zu genießen. Und siehe da, der Anblick war noch immer nicht übel. Allerdings – hinter den Palästen im Vordergrund tat sich was. Rechts hinter der Nadel der Peter-und-Paul-Festung ragte etwas in die Höhe, versperrte die Perspektive des Petrowskaja-Ufers, etwas Schmutzig-Gläsernes mit der Parodie einer Spitze, und daneben ein zweiter Glasberg. Ich erfuhr, das sei der Komplex „Montblanc“, gebaut vom ältesten und überaus verdienten Petersburger Architekten Timofej Sadowski. Links ragte etwas Ähnliches empor, das noch unförmiger war und die Ansicht des Leutnant-Schmidt-Ufers störte. Überall auf der Wassiljewski-Insel, hinter den imposanten Fronten von Kunstkammer, Akademie der Wissenschaften und Kunstakademie, wuchsen Baukräne gen Himmel. Die Eckpunkte waren also schon abgesteckt, nach und nach wird sich im Hintergrund des berühmten Panoramas ein gläserner Gürtel auftürmen. So ist das leider mit der modernen Architektur: Gibt es viel davon, verwandelt sie sich in einen Wust amorpher Gebilde, die in der Türkei wie in London aussehen. Oder wie von Hongkong bis Shanghai. Während mir in meiner Jugend die Uferstraße an der Admiralität genau das von Zar Peter beschworene Fenster nach Europa zu sein schien, so kam es mir jetzt vor, als ob hinter den Petersburger Palastfassaden schon Asien winkt. Und wenn man das alles zu begreifen beginnt, stellt sich heraus, dass das die Werke meiner Freunde und Bekannten sind. Eben jener, die mich gerade gebeten haben, ihre Stadt gegen die Gazprom-Aggression zu verteidigen.

Dabei sind sie aufrichtig überzeugt, im Recht zu sein. Sergei Oreschkin, einer der bekanntesten Petersburger Architekten, versuchte zu erklären: „Selbst wenn man sagen kann, dass moderne Architekten manchmal Fehler machen, so denke ich, dass die Fehler nicht die Schuld der Architekten sind. Die Investoren und die Behörden diktieren der Stadt ihre Sicht. Aber wir, die Architekten, vertreten in erster Linie die Interessen der Stadt, unseres Sankt Petersburg.“ Ich hatte großes Mitleid mit ihm. Und dann bin ich losgegangen, um mir seine Sachen anzusehen. Was für Sachen! In der Chersoner Straße – sie verläuft parallel zum Newski-Prospekt und führt zur Uferstraße am Alexander-Newski-Kloster – hat Oreschkin den Mehrzweck­komplex „Olymp“ gebaut, eine schiefe Kiste aus Glas, in deren Mitte eine ebenfalls gläserne Konservenbüchse hineingepfropft wurde, aber keine stumpfe, sondern eine bereits geöffnete und oben romantisch entkernte. Und auf der Kreuzinsel gibt es ein ganzes Viertel, das „Olympisches Dorf“ heißt. Dort findet man ein Legespiel mit verschiedenen Glas- und Plastik­oberflächen, die sich gegenseitig überlappen. Sogar eine feine Paraphrase vom Palastplatz gibt es, eine sehr spitze Ecke, fast wie die Ecke bei Carlo Rossi, die auf die Kapelle hinausgeht, nur ist sie aus Glas, und auch hier ist eine Konservenbüchse eingelassen. Es ist schade, dass es dort irgendwie gar nicht nach Palast oder überhaupt städtisch aussieht. Einfach viele Häuser, und dennoch hat man das Gefühl, dass das keine Stadt ist, sondern eine Siedlung, rings umzäunt zum Schutz vor sozialer Empörung.

Nikita Jawejn, das eingangs erwähnte Akademiemitglied, das mich zum Kampf gegen den Turm herbeirief, hat selbst ein Bauprojekt für fünf Wolkenkratzer im Bereich des Ladoga-Bahnhofes vorgeschlagen: 130 Meter hohe, geneigte Glasquader, dramatisch eingearbeitet in Glaspyramiden, nicht in der Mitte, sondern in einer interessanten Dynamik verschoben – als würden bei weiblichen Robotern pyramidenförmige Glasröcke im Wind flattern. Ein anderes Akademiemitglied und ebenfalls ein guter Bekannter von mir, Michail Mamoschin, hat den Mehrzweckkomplex „Avenue“ am Aptekarskaja-Ufer gebaut, sechs identisch schräge Glasquader, gekrönt von Metallwürfeln. Erstaunt hat mich das Haus des Architekten Oleg Romanow auf dem Maly-Prospekt auf der Petrograder Seite, wo aus der an der Oberfläche etwas gefliesten Fassade kantige gläserne Innereien hervortreten, als hätte das Haus einen gläsernen Erker gehabt und jemand hätte lange, sagen wir, mit einem Montierhebel darauf eingeschlagen, oder womit man in Petersburg eben üblicherweise schlägt.

Immer wieder Schläge in die Magengrube. Es sind keine namenlosen Barbaren vom Meer oder aus den Sümpfen, die Petersburg angreifen, sondern die eigenen Bekannten, Architekten, Akademiemitglieder, Kämpfer für die Erhaltung der Petersburger Kultur. Sie waren es, die gegen Eric Moss gekämpft haben, der das erste Projekt für das Mariinski-Theater mitbrachte, sie waren es, die Dominique Perrault mit seinem Projekt für eben dieses Theater aus der Stadt getrieben haben, und sie sind es, die gegen den Bau des Gazprom-Wolkenkratzers Sturm laufen. Und gerade sie bauen all das andere.

Sie planen keine Häuser mehr, das ist veraltet. Sie planen jetzt Volumina. Wenn sich diese Volumina an einer Straße befinden, müssen sie auf jeden Fall die Fluchtlinie brechen, eingerückt sein oder hervortreten. Befinden sie sich auf der grünen Wiese, müssen sie durch ihre Rechteckigkeit beeindrucken, die wiederum auf jeden Fall durch etwas in sie hinein Getriebenes gestört sein muss. Und natürlich kann so ein Volumen niemals dieselbe Höhe haben wie die Nachbarhäuser, es muss unbedingt, wenigstens ein ganz kleines bisschen, höher sein als diese und ihnen mit einer gläsernen Kruste aus Mansarden und Penthäusern zu Leibe rücken. Sie können gar nicht mehr Wände mit Fenstern darin projektieren – nein, es muss auf jeden Fall eine Projektionsfläche sein, irgendeine Applikation, die nicht mit den Begrenzungen der Fassade übereinstimmt. Und dann die Spitzen, die Türme, die Zylinder! Oh, wie sie sie lieben! Noch mehr lieben sie wahrscheinlich nur Schlitze und Löcher. Das ist kein Fall für einen Architekturkritiker, sondern für einen Psychoanalytiker.

Das berühmte Gedicht „Warten auf die Barbaren“ des griechi­schen Dichters Konstantinos Kavafis endet mit den Worten: „Was soll denn nun aus uns werden ohne die Barbaren. / Eine Art Lösung waren diese Menschen.“ Irgendwann in meiner Jugend bin ich lange den Obwodny-Kanal entlanggegangen und habe mir ausgemalt, wie 1917 aus den hiesigen Industriebezirken die Arbeiter und vom Hafen her die Matrosen zum Schloss­platz aufbrachen, um die Paläste einzureißen und in die Porzellanvasen zu scheißen. Die Fabriken erhoben sich, der Hafen auch, und genau diese Bezirke werden jetzt rekonstruiert und umzingeln als „asiatischer“ Gürtel das Stadtzentrum. Territorien haben anscheinend ihr eigenes Gedächtnis.

Das Problem liegt nicht bei Gazprom, jedenfalls nicht nur. Zwischen den Architekten, den Bauträgern und den Machthabern hat sich ein Konsens darüber herausgebildet, wie „ihre“ Stadt werden soll. Zwischen ihnen und der RMJM tobt kein Streit zwischen ideologischen Gegnern, sondern ein Streit zwischen Konkurrenten um einen lukrativen Auftrag. In der Hauptsache sind sie sich einig: Auf keinen Fall darf Sankt Petersburg jenes Museum bleiben, in dem alles Moderne verachtet wird. Sie kämpfen gegen dieses Museum wie damals die revolutionären Arbeiter gegen das Schloss. Und sie werden siegen.

Sie werden deshalb siegen, weil diese Stadt lange Leningrad war, die Stadt des militärisch-industriellen Komplexes und des KGB. Und ihre Elite – das ist nicht das Akademiemitglied Dmitri Lichatschow, sondern Wladimir Putin. Für sie ist das Antlitz des neuen, leistungsfähigen Russland unendlich wertvoller als das Antlitz des zaristischen Russland, und die größte Leistungsfähigkeit, die sie kennen, gibt es in China. Nun möchten sie gern, dass hier, an der Newa, alles so schön aussehen möge wie am Gelben Fluss: Glas, Wolkenkratzer, Shopping Malls. Wie in China wird es nicht werden, eher spärli­cher, aber wenigstens ein bisschen ähnlich. Das ist ihr Lebensziel, das halten sie für das einzig Wahre. Und die Architekten sind Teil dieser großen Bewegung Russlands in Richtung einer asiatischen Provinz.

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