Bauwelt

Sankt Petersburg versus Moskau

Text: Frolow, Wladimir, Sankt Petersburg

Sankt Petersburg versus Moskau

Text: Frolow, Wladimir, Sankt Petersburg

Während Moskau eine Stadt der Objekte ist, ist Sankt Petersburg eine Stadt der Räume. Als Moskau zur sowjetischen Idealstadt ausgerufen wurde, versank Leningrad in vornehmem Museumsdämmer. Die niemals erlahmende Rivalität der beiden russi­schen Metropolen hat sich immer auch in ihren achitektonischen Bildern abgezeichnet. Nach der These unseres Autors hat Sankt Petersburg sein Talent zur Angemessenheit, zu Kontextgefühl und verfeinerter Eleganz offenbar mit einem Verzicht bezahlt: Keine Lust auf Zukunft?
„Piter ist der Kopf, und Moskau ist das Herz“, so heißt es in Russland. Wenn man die Struktur beider Hauptstädte betrachtet, ist tatsächlich nicht zu übersehen, dass in Moskau der mittelalterliche Impuls der radialen Entwicklung noch nicht erloschen ist, dass die Struktur der Stadt flexibel ist und in der Lage, sich praktisch jedes neue Element einzuverleiben. Sankt Petersburg hingegen ist eine nach entschiedenem Gründerwillen am Reißbrett entstandene Stadt, in der alles, was ihr nicht entspricht, sofort auffällt und herausragt. Moskau ist eine Stadt der Objekte, Sankt Petersburg eine Stadt der Räume.

Die Geschlossenheit der Zarenresidenz wurde erstmals an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert infrage gestellt, durch das Aufblühen kapitalistischer Aktivitäten. Die Wiener und die nordeuropäische Moderne, aber auch ein sogenannter „russi­scher Stil“ wurden zur offiziellen Staatsbaukunst des späten Zarenreiches und begannen, das bis dahin entstandene Stadtbild deutlich zu verändern. Um die Stadt als „Fenster nach Europa“ zu verteidigen, veröffentlichte der Künstler und Kunstkritiker Alexander Benois 1902 in der von ihm mitherausge­gebenen Zeitschrift „Mir Iskusstwa“ einen programmatischen Essay: „Es wäre schön, wenn die Künstler Petersburg lieben lernten, (...) seiner barbarischen Entstellung Einhalt geböten, seine Schönheit vor den Übergriffen grober Ignoranten bewahrten.“ Gegen den Zerfall der bildlichen Geschlossenheit Sankt Petersburgs setzte Benois eine „retrospektivische Plattform“. Er empfahl, die Schönheit der Stadt in ihren raumbildenden Ensembles zu sehen. Künstler wie Architekten folgten seinem Ruf und huldigten der „Schönheit“ vor allem in Gestalt neoklassizistischer Bauten.

Kein Petersburg, nur noch Leningrad

Das zentrale Ereignis in der Geschichte der beiden russischen Metropolen im 20. Jahrhundert war die Rückübertragung der Hauptstadtfunktion von Petrograd auf Moskau nach der Revolution von 1917. Die Stadt an der Newa, die nach dem Tod des Revolutionsführers 1924 in Leningrad umbenannt wurde, wandelte sich zum Symbol eines vergangenen Zeitalters. Sie wurde zu einer Stadt der Erinnerungen an das alte Leben. „Es gibt kein Petersburg mehr. Ein Leningrad gibt’s; doch Leningrad rührt uns nicht – sein Autor ist von Beruf ein Sargtischler und kein Meister, der Wiegen baut.“ Mit diesen Worten beginnt der 1927 geschriebene (und in der UdSSR verbotene) Roman „Bocksgesang“ von Konstantin Vaginov, der eine damals verbreitete Haltung hervorragend wiedergibt. Die Leningrader fingen an, sich für Heimatkunde zu begeistern, es war dies ihre besondere Form der Inneren Emigration.

Nach der Revolution war Moskau zum Synonym für die sowjetische Zukunftsstadt geworden. Die neue Kapitale wurde erbarmungslos umgebaut, neu zugeschnitten, modernisiert. Sowohl Stalin als auch Chruschtschow ließen das Zentrum aufwendig umgestalten und große Magistralen anlegen. In Leningrad hat es dergleichen nicht gegeben. Die Stadt wurde konserviert, sozusagen als Museum des Lebens zu Zeiten des Zaren. In ihrem Zentrum wurde fast nichts neu gebaut, und das nicht, weil dem Staat dafür die Mittel gefehlt hätten, sondern um dem Zukunftsideal der sowjetischen Stadt, sprich Moskau, die Kontrastfolie einer „überwundenen“ Vergangenheit zu erhalten. Während also die Moskauer stolz auf ihre neuen Architekturen waren, hielten die Leningrader sich umso mehr an Benois’ „Retrospektivismus“ aus den Jahren vor der Revolution.

Klassik, das unkündbare Erbe

Die sowjetische Architektur Leningrads tendiert, auch wenn sie modernistisch auftrittt, in ihren Proportionen, Details und Grundrissen überwiegend zur Neoklassik, zur Schule der Beaux Arts. Es gibt fast keine Bauten des Konstruktivismus, die denen in Moskau ebenbürtig wären, dafür lassen sich bedeutende Objekte einer etwas späteren Periode, dem Art déco, zuschreiben – wie das Haus an der Karpowka von Fomin und Lewinson (siehe Seite 24), bei dem das architektonische Detail nicht weniger wichtig ist als die Dynamik der Gesamtkomposition. Auch die Moderne der Chruschtschow-Ära „klassiziert“: Das „Theater für junge Zuschauer“ (Zhuk, 1962) sowie der Fin­nische Bahnhof (Aschastin, Baranow und Lukin, 1955–60) sind in diesem Sinne besonders charakteristisch. Gerade in den Übergangsphasen – vom Konstruktivismus zum Sozialistischen Klassizismus (dem sogenannten Stalin-Empire), von da zum spätsowjetischen Funktionalismus und schließlich hin­über zur Postmoderne – trat die Neigung der einheimischen Architekten zu klassischen Prinzipien besonders hervor. Das letzte sowjetische Bauwerk dieser Tendenz, die Nationalbibliothek (Warschawskaja und Schtscherbin) am Moskowski-Prospekt, wurde erst 1998 fertiggestellt! Selbst die Schäden des Zweiten Weltkrieges wurden im Wesentlichen in einer Weise behoben, dass das jeweilige historisch gewachsene Umfeld geschont blieb. Dabei konnte es passieren, dass an Stelle gefallener Fassaden noch „klassischere“ erstanden, wie bei der Wie­derherstellung des Sennaja Ploschtschad, die 1940–50 unter Leitung von Nikolai Baranow erfolgte. Während in Moskau die Insignien der Moderne aktiv ins Zentrum drängten, blieben sie in Leningrad an die Peripherie verbannt. Stalin ließ die Stadt nach Süden hin entwickeln (siehe Seite 42), unter Chruschtschow begannen Plattenbaubezirke in alle Richtun­gen zu wachsen. Es entstanden sozusagen zwei Städte in einer, deren eindeutige Beziehung zueinander jedem sofort klarmachte: Hier ist das Alte wichtiger als das Neue. 1973 sprach der damalige Chefarchitekt Kamenski offiziell von einer „Museumsstadt, deren architektonische Ensembles, Gebäude und Monumente in Stein und Bronze von ihrer heldenhaften Geschichte Zeugnis ablegen“. Selbst als im Laufe der Zeit vereinzelt Modernismen in Zentrumslagen auftauchten und etwa die Hotels „Sowjetskaja“ (1968) und „Leningrad“ (1970) die Uferpanoramen der Newa und der Fontanka deutlich veränderten, verfügte die Architektengemeinschaft noch über Einfluss und Mittel, um irreversiblen Schäden vorzubeugen und etwa die Höhengrenzen der Silhouetten zu verteidigen. Für diese eher „unmoderne“ Bescheidenheit prägte der sowjeti­sche Berufsjargon den Begriff „Ergänzungsarchitektur“. Das zentrale Motto der Leningrader Architekten in den achtziger und neunziger Jahren lautete: „Richte keinen Schaden an!“ Ihnen kam der Postmodernismus gerade recht, um den Vormarsch der Solitäre zu stoppen.

Konkurrenz historischer Stile

Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems entwickelte sich in Moskau der nach dem dortigen Oberbürgermeister benannte „Luschkow-Stil“ mit seiner Vorliebe für reiche Dekorationen, allerdings unter Beibehaltung der alten sowjetischen Bautechnologie. Auch in Sankt Petersburg entstanden ab den neunziger Jahren erst langsam, später immer schneller pseudohistorische Gebäude im sogenannten „Petersburger Stil“. Als zu Beginn des neuen Jahrtausends alle Baulücken im Zentrum restlos geschlossen waren, wurde auch an der Newa die absurde Praxis der „Rekonstruktion mit Abriss“ übernommen, mit deren Hilfe sich selbst im dichtesten historischen Umfeld immer wieder Platz für Bautätigkeiten finden lässt: Es genügt festzustellen und juristisch zu begründen, dass ein Gebäude, dessen Grundstück dem Bauherren gefällt, einsturzgefährdet sei, und schon kann man es abreißen und ein genau gleiches Gebäude – allerdings mit größerer Nutzfläche – aufbauen. Die Liebe zum welkenden Monumentalen ist dem Hang zur billigen Fälschung gewichen.

Ist es also, wie zu Zeiten Alexander Benois’, wieder geboten, nach neuen Wegen für die Schönheit Sankt Petersburgs zu suchen? Soll man sich erneut dem Akademismus zuwenden und einen „Neuen Russischen Klassizismus“ schaffen, wie es in den 1990er Jahren der Künstler Timur Nowikow versuchte? In gewissem Sinne kann man ja auch die Arbeiten Sergei Tchobans, der mit nostalgischen Ornamenten in modernen Applikationen spielt, als Dialog mit der akademischen Tradition bezeichnen. Oder lässt sich womöglich ein Ansatz finden, der die Objekte der Neuzeit als nun mal existente Teile der Stadt akzeptiert? Das Moderne-Tabu ist ja gebrochen, das „Andere“ hat seinen Weg längst ins Innere Petersburgs gefunden. Die Wettbewerbe um die Erweiterung des Mariinski-Theaters und die Rekonstruktion der Insel Neu-Holland haben hierbei eine wichtige Rolle gespielt.

„Bloß nichts anrühren“ oder „Glastürme bauen“ – der herrschende Schwarz-Weiß-Diskurs in dieser Stadt scheint eine reine Sackgasse zu sein. Wenn die Volksweisheit recht hat und Piter wirklich der „Kopf“ ist, dann sollte man das an der Klarheit seiner Gedanken erkennen.

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