Bauwelt

„Reichen-Ghettos wie in Moskau werden Sie bei uns nicht finden.“

Interview mit Pertersburgs Stadtarchitekt Juri Mitjurew

Text: Kashirina, Valeria, Berlin; Kil, Wolfgang, Berlin

„Reichen-Ghettos wie in Moskau werden Sie bei uns nicht finden.“

Interview mit Pertersburgs Stadtarchitekt Juri Mitjurew

Text: Kashirina, Valeria, Berlin; Kil, Wolfgang, Berlin

Wie entwickelt sich Sankt Petersburg? Ist neben dem Schutz des historischen Erbes auch noch Raum für den Schutz der Bauten der Moderne, zum Beispiel für die Gebäude des Petersburger Konstruktivismus? Was bedeutet die Rivalität zu Moskau für das Baugeschehen in der Stadt? Ist Petersburg architektonisch und städtebaulich eine konservative Stadt? Juri Mitjurew, amtierender Stadtarchitekt Petersburgs, versucht sich in einer Erklärung der Eigenheiten seiner Stadt und ihrer Baumeister.
Herr Mitjurew, als Stadtarchitekt steuern Sie die Entwicklung Sankt Petersburgs. Sind Sie eigentlich ein waschechter Sohn der Stadt?

Ich stamme aus der Stadt Kalinin, die heute wieder Twer heißt. 1966 kam ich nach Petersburg an die „Ilja Repin“-Kunsthochschule und bin dann hier geblieben.
 
Man kann Sankt Petersburg als boomende Industriestadt betrachten, als größten Hafen im Baltikum, als kulturelles Fenster zwischen Russland und Europa, als Ballungsraum für Millionen Menschen, als historisches Denkmal. Haben Sie den Eindruck, dass sich die Stadt in allen diesen Bereichen gleich entwickelt?

Petersburgs charakteristische Entwicklung, die von den 1920er bis in die 1990er Jahre zu beobachten war, hing mit der Verlegung der Hauptstadt nach Moskau zusammen. Lenin­grad war, wie man damals sagte, „eine Hauptstadt mit dem Schicksal der Provinz“. Immerhin hat es dieser Status ermöglicht, das historische Milieu zu erhalten und der „gestrengen, einheitlichen Pracht“, wie Puschkin sie genannt hat, keinen Schaden zuzufügen. Heute verläuft die Entwicklung in allen Bereichen gleichmäßig. Der Ausbau der Infrastruktur, des Transport- und Verkehrsnetzes, die Verlagerung von Industriebetrieben an den Stadtrand, aber auch ein gesetzlicher Schutz der Stadt in ihrer historisch überkommenen Form bieten dafür die Voraussetzungen. Die Industrie, die wir hinzugewonnen haben – dank Niederlassungen von General Motors, Opel, Nissan und Toyota sind wir jetzt das Zentrum der Autoproduktion in Russland –, schafft Grundlagen für neue Arbeitsplätze, die Entwicklung des Straßennetzes und so weiter. Hafenstadt zu sein ist das angestammte Schicksal Petersburgs. Gerade wird ein neuer Seehafen gebaut, ein Kreuzfahrtterminal ist bereits in Betrieb, von dem wir uns deutliche Impulse für den Tourismus erhoffen.
Aber Sankt Petersburg ist eine vielschichtige Stadt. Der Dichter Welimir Chlebnikow hat sie „eine italienische Siedlung an der Newa“ genannt, nicht ganz frei von Ironie, umso mehr, als die Stadt ja ein Stück bedeutendes Erbe der Weltkul­tur ver­körpert. Gerade erst 300 Jahre alt, und heute eine ernst zu nehmende Millionenstadt mit einer dementsprechend gro­ßen Menge Probleme.

Wo sind für Sie die Problemstellen der Stadt?

Die Stadt wird sich entlang des Finnischen Meerbusens bis zur Karelischen Landenge und nach Süden hin in Richtung Ora­nienbaum ausbreiten. Nach Norden und Osten sind ebenfalls Erweiterungen geplant, dabei geht es um die Neubesiedlung der Flächen, auf denen sich heute noch Industriebetriebe befinden, die wir aus der Stadt hinaus verlagern müssen.
Petersburg zählt heute 4,5 Millionen Einwohner, vor der Perestroika war die Zahl noch höher. Es gibt Erscheinun­gen sozialer Segregation, vor allem in einigen nördlichen Innenstadtlagen: auf der Krestowski-Insel und der Kammenyj-Insel, wo ursprünglich Luxuswohnungen gebaut wurden, die sich der Mittelstand gar nicht leisten kann. Bei aller sozia­len Polarisierung bleiben diese Gebiete jedoch allgemein zugänglich, dort sind beliebte Sport- und Grünanlagen wie der Primorski-Park. Die elitären Wohnhäuser stören den Zugang zu den Annehmlichkeiten, die diese Flächen zu bieten haben, letztlich nicht. Regelrechte Reichen-Ghettos, so wie an der Rubljowskoje-Chaussee in Moskau, werden Sie in Petersburg jedenfalls nicht finden.
 
Wer ist in Petersburg für den Erhalt der historischen Ensembles zuständig?

Die Thematik des Welterbes beschäftigt uns alle sehr. Einer solchen Fülle historischer Denkmäler und wertvoller Ensem­bles können sich nicht viele europäische Städte rühmen. Deshalb widmen die Stadtverwaltung und die Kontrollbehörden der Einhaltung der Gesetze in diesem Bereich eine hohe Aufmerksamkeit. Besondere Verantwortung lastet auf dem „Komitee für staatliche Kontrolle, die Nutzung und den Schutz der Geschichts- und Kulturdenkmäler“.
 
Haben Sie Schutzzonen, in denen Investoren sich zurückhalten müssen und moderne Bauten ausgeschlossen sind?

2002 ist ein neues Gesetz über den Schutz der historischen Stadtteile von Sankt Petersburg in Kraft getreten, das durch eine sehr rigide Haltung zu Baumaßnahmen in den histori­schen Arealen gekennzeichnet ist. Neben reinen Schutzzonen definiert es auch „Zonen mit reglementierter Bebauung“, von denen jede ihre eigenen Kriterien hat: Mal ist eine historisch wertvolle Nachbarschaft zu berücksichtigen, mal die Silhouette des Newa-Ufers oder eine prägnante Sichtachse. In den Schutzzonen ist es schlicht verboten, Neues zu bauen.
 
Wie finanziert sich die Erhaltung eines so großen Gebiets?

Der Schutz des Welterbes wird sowohl vom Staat als auch von Privatpersonen finanziert. Jedes Jahr werden die Haushaltsmittel für diese Zwecke erhöht. Private Finanzierung findet zum Beispiel statt, indem ein Investor ein Denkmal erwirbt und sich damit automatisch verpflichtet, es zu restaurieren und zu unterhalten.
 
Petersburg verfügt über einen reichen Schatz an Bauten der 20er Jahre, leider viele in desolatem Zustand. Besteht Hoffnung, dass auch dieses bedeutende Erbe in den Rang historischer Stadtzeugnisse erhoben wird?

Die Avantgarde des Konstruktivismus war in Petersburg breit vertreten, eine eigene „Leningrader Schule“ ist da­bei deutlich erkennbar. Ich selbst habe bei Armen Bartschow studiert, einem herausragenden Vertreter dieser Schule. Kaufhäuser, Großküchen, auch Wohnbauten jener Jahre belegen, dass es Perioden gab, in denen wir die Avantgarde der Moderne stellten. Man muss sich über das Schicksal dieser Bauten keine Sorgen machen, der Stadt ist klar, dass die konstruktivistische Architektur eine Zierde für sie ist.
 
Petersburger Architekten möchten sich gern vom Baugeschehen in Moskau abheben...

Ja, die Beziehungen zwischen den Architekten Sankt Petersburgs und Moskaus sind schwierig. Es hat stets eine Rivalität gegeben, bis heute. Die Moskauer sind klar im Vorteil, weil Moskau Hauptstadt ist und die Summen, die dort in Architek­tur investiert werden, unverhältnismäßig höher sind.
 
Wie unterscheidet sich die architektonische Haltung in Petersburg von der in Moskau?

Die Moskauer sind uns sowohl in der Quantität als auch in der Qualität der Architektur voraus. Ich wage zu sagen, dass es bei uns derzeit keine so „zeitgemäßen“ Gebäude gibt wie in Moskau, womit ich die Heftigkeit der Gesten und die verwendeten Materialien meine.
Moskau nimmt als Hauptstadt alle möglichen Trends auf. Petersburg ist da viel konservativer. Typisch für Sankt Petersburg ist der ewige Streit, welches Bauen im Stadtzentrum angebracht ist: am Kontext orientiert oder als Kontrastprogramm. Meines Erachtens sind selbst professionelle Versuche, Glasarchitektur in das Stadtzentrum zu integrieren, in Petersburg nicht angebracht. Hier muss sich ein modernes Gebäude in den Kontext einfügen, auch was die Materialien betrifft – und das sind nun mal Stuck und Naturstein. Ich möchte die modernen Architekten nicht verurteilen, die Zeit wird zeigen, was richtig war und was nicht.
Beispiele einer spezifisch Petersburger Haltung sind für mich das Gebäude von Juri Semzow neben dem Michalowski-Palais oder die Wohnhäuser von Jewgenij Gerassimow auf dem Staronewski-Prospekt. Diese Architektur ist modern, ver­fügt aber auch über bestimmte lokale Eigenheiten. Sie hat eine gewisse stilistische Strenge.
 
Hat im Zeitalter globaler Investoren der „Lokalpatriotismus“ von Petersburgern und Moskauern überhaupt noch eine Chance?

Bei uns bauen auch Moskauer Architekten, wogegen ichnicht glaube, dass viele Petersburger in Moskau bauen, zumal an prominenten Plätzen. Dabei hielte ich das für normal, Kon­kurrenz ist die einzige Möglichkeit, Qualität in der Architektur zu erreichen.
 
Das alte Sankt Petersburg war wesentlich ein Produkt west- und südeuropäischer Baumeister. Welchen Beitrag erhoffen Sie sich von ausländischen Architekten heute?

Das ist eine gute Frage. Meines Erachtens haben wir immer von den europäischen Baumeistern gelernt, wir tun es bis heute. Und Petersburg hat in den letzten Jahren Toleranz gezeigt, da sämtliche wichtigen Wettbewerbe unter Beteiligung weltberühmter Architekten stattfanden. Die Ergebnisse dieser Wettbewerbe waren gut. Leider hat die Erfahrung gezeigt, dass wohl die Aufgabenstellungen strenger formuliert werden müssen.

Sie spielen darauf an, dass Dominique Perrault beim Mariinski-Theater aufgegeben hat...

Dominique Perraults Projekt für das Mariinski-Theater, das herausragend war und Signalwirkung hatte, wurde von der internationalen Jury einstimmig ausgewählt. Leider hatten die Planer für den Betrieb des Gebäudes die Besonderheiten unseres nördlichen Klimas nicht berücksichtigt.
 
Auch Norman Foster kommt beim Neu-Holland-Projekt nur schleppend voran.

Bei Neu-Holland hat sich die internationale Finanzkrise auf die Pläne des Auftraggebers ausgewirkt. Aber die Beteiligung von Norman Foster hat unseren Architekten einen wichtigen Impuls gegeben.
 
Wie sehen die Planungen am Europa-Ufer aus, für das 2009 der Wettbewerb entschieden wurde?

Auch am Europa-Ufer sollen bei der Planung der Gebäude unbedingt internationale Architekten beteiligt werden. Der Name des Projektes ist ja nicht zufällig gewählt. Ich denke, dass davon ein positives Signal ausgeht. Und dann soll in der Mitte des Quartiers ja noch das hypermoderne Boris-Eifman-Theater des holländischen UN-Studios entstehen – ebenfalls ein Wettbewerbsergebnis, das von der Öffentlichkeit und der Stadtverwaltung begrüßt wird.
 
Sind Ihre heimischen Kollegen auch an internationalem Wettbewerb interessiert?

Ich sehe das sportlich: Je stärker der Gegner, umso schneller steigt das eigene Niveau. Deshalb bin ich für internationale Wettbewerbe. Es kann uns nur nützen, mit den führenden Ar­chitekten Europas und der Welt unsere Kräfte zu messen.
 
Fakten
Architekten Mitjurew, Juri, Sankt Petersburg
aus Bauwelt 24.2010

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