Bauwelt

Piter

Text: Kashirina, Valeria, Berlin

Piter

Text: Kashirina, Valeria, Berlin

„Piter“ sagen die Leute, und sie können damit das sowjetische Leningrad genauso meinen wie die alte Zarenstadt Sankt Petersburg. Piter ist meine Heimatstadt. Ich liebe sie und kenne ihre Launen in- und auswendig. Sie hat viele Gesichter: von schneidend kalt und gehässig bis erstickend liebevoll. Aber sie ist wunderschön, weshalb man ihr vieles verzeiht.
Geboren und aufgewachsen bin ich in Leningrad, obwohl meine Eltern behaupten, ich hätte meine Kindheit in Sankt Petersburg verbracht, erst die Jugend in Leningrad. Wie soll ich ihnen glauben? Mir hat dieser Unterschied nichts bedeutet, vielleicht, weil mich damals nicht so sehr die Architektur dieser oder jener Epoche interessierte, sondern die Menschen, die in den Häusern lebten. In den späten Sowjetjahren lösten sich die Unterschiede zwischen dem Zentrum, der alten Zarenstadt und den neuen Großsiedlungen auf; zumindest psychologisch war da keinerlei Grenze zu spüren. Ob Wassiljewski-Insel, Primorski Rayon oder Malaja Ochta, das waren alles Leningrader Bezirke, in denen überall Leute lebten, die ich liebte und gern besuchte: mal im riesigen Salon eines Jugendstilhauses auf der Petrograder Seite, mal in der engen Wohnung einer Chruschtschowka in Kuptschino, mal in einer Kommunalka in der Fontanka. Überall wurde Tee getrunken und Samizdat gelesen. Man wartete gemeinsam auf Veränderungen, betrachtete melancholisch den fallenden Aprilschnee draußen vor dem Fenster und dachte: In Paris werden wohl längst die Tulpen blühen. Die Leningrader waren ein Völkchen für sich, sie sprachen leise, kleideten sich zurückhaltend, Frauen wurde der Vortritt gelassen, Ältere wurden geachtet – im Bus oder in der Metro bot man ihnen den Platz an. Die Lenin­grader legten Wert darauf, zivilisierte Menschen zu sein.
Die Perestroika ließ die Stadt wie am Beginn einer Kulturrevolution erscheinen. An die Oberfläche kam all das, worüber jahrzehntelang in den Küchen gesprochen worden war: die Musik des „Leningrad Rock“, die Undergroundkunst der Nonkonformisten, später die „Krasnaja Wolna“ (auch „Red Wave“ genannt). Eine unglaublich schöne Zeit. In den Straßen tauchten immer mehr ausländische Touristen auf. Auch ich hatte endlich die Möglichkeit, mich mit eigenen Augen zu vergewissern, ob im April die Tulpen in Paris tatsächlich blühen. Und so brach ich auf. Auf halbem Weg nach Paris lag Berlin, in das ich mich sofort verliebte, und so blieb ich hier.
Nach Leningrad kehrte ich erst Jahre später zurück, Mitte der Neunziger, da hieß die Stadt wieder Sankt Petersburg. Ein im wahrsten Sinn des Wortes dunkles Wiedersehen. Es war Spätherbst, die Stadt hatte ihre für die Jahreszeit übliche triste Laune. Eingeschlagene Laternen sorgten dafür, dass man glaubte, hier sei es gefährlich. Die Straßen waren fast menschenleer. Ich hörte es von meinen Freunden: Tatsächlich wurde in der Stadt ein bewaffneter Kampf um die Einflussgebiete des Kapitals geführt. Im Fernsehen lief „Das kriminelle Petersburg“, eine populäre Serie, in Moskau produziert. Meine Freunde scherzten: Wenn es so weitergeht, sehen wir bald Szenen, wie auf dem Marsfeld eine Handvoll überlebender Petersburger sich an der Ewigen Flamme wärmen, und ab und zu fährt ein Bus vorbei mit besonders mutigen Touristen, die nach einer Stadttour in ihr bewachtes Vororthotel zurückkehren. Die düsteren Prophezeiungen haben sich nicht bewahrheitet. Stattdessen erlebt die Stadt seit der Jahrtausendwende einen Wirtschaftsaufschwung und Bauboom ohnegleichen. Zu jeder Tages- und Jahreszeit sind die Straßen voll Licht, voller Passanten. Als Architektin habe ich oft in meiner Heimatstadt zu tun und beobachte mit Staunen die rasanten Veränderungen. Dabei fällt auf, dass die Petersburger seit einiger Zeit über nichts so leidenschaftlich sprechen wie über die Entwicklung ihrer Stadt. Die heftigsten Diskussionen gelten dem Umgang mit dem historischen Stadtkern. Bisweilen entsteht der Eindruck, die Funktion Petersburgs als Industriestandort oder wichtigster Hafen beschäftigt die Einwohner und die Stadtregierung weit weniger als der Ruf, eine Museumsstadt zu sein.
Die Erhaltung der Altstadt ist zum wichtigsten Thema in Sankt Petersburg avanciert. Das hat seine Gründe, über die Sie in dieser Ausgabe der Stadtbauwelt von den führenden Akteu­ren zuweilen kontrovers informiert werden. Neben der oft politisch geprägten Bau- und Stadtplanung haben wir für dieses Heft auch persönliche Erlebnisse versammelt, die Einheimische wie Zugereiste mit der Stadt verbinden. Wir sind stolz, als Autoren so wichtige Entscheider und Meinungsbildner wie den amtierenden Chefarchitekten Juri Mitjurew und einen der führenden Denkmalschützer, Alexander Margolis, gewonnen zu haben, die ihre Sicht auf die Stadt vorstellen. Auch danken wir einigen der einflussreichsten Petersburger Architek­ten, die bereit waren, sich zu ihrer beruflichen Haltung und zu ihren Visionen für ihre Heimatstadt zu äußern.

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