Bauwelt

Die Seele Petersburgs

Text: Nikolai Anziferow (1889–1958)

Die Seele Petersburgs

Text: Nikolai Anziferow (1889–1958)

Der Petersburger Nikolai Anziferow (1889–1958) gilt als Begründer einer Form der Stadtexkursion, die sich auf die sinnliche Erfahrung konzentriert. Sein Buch „Die Seele Petersburgs“, in dem er 1922 dem Genius Loci von Petersburg innerhalb der Literatur nachspürt, avancierte in Leningrad zum Geheimtipp. 2003 erstmals auf Deutsch erschienen, ist das herausragende Werk heute noch ein guter Begleiter durch die Stadt. In dem von uns gewählten Auszug erläutert Anziferow seine Herangehensweise.
Den Genius loci von Petersburg auch nur einigermaßen genau darzustellen, ist eine nicht leicht zu bewältigende Aufgabe. Bis heute ist nicht einmal für Rom, das schon etwa zweitausend Jahre lang die Menschen fasziniert, eine genaue Beschreibung der Beschaffenheit seines Geistes gelungen. Freilich ist der Zugang zu einer Stadt als einer lebendigen Individualität, der man nicht nur huldigen (das tat schon die Antike), sondern die man erkennen möchte, eine Erscheinung der jüngeren Zeit. Die Ewige Stadt hat indes so viele Spuren hinterlassen, die sich den Seelen der Betrachter eingeprägt haben, daß es eine dankbare Aufgabe wäre, das „Romgefühl“ zu beschreiben. Was aber läßt sich über Petersburg sagen, dessen bewundernswerte Züge Alexander Benois doch erst vor zwanzig Jahren entdeckt hat. Seine Worte wurden von den einen als Paradox, von den anderen als Offenbarung aufgenommen!

Es wäre verfehlt, sich das gänzlich unerreichbare Ziel vorzunehmen, den Geist Petersburgs insgesamt zu definieren. Die Aufgabe muß bescheidener gestellt werden: Und die wichtigsten Wege, auf denen ein „Petersburggefühl“ vermittelt wird und auf denen man mit dem Genius des Ortes in Kontakt treten kann, sollen skizziert werden. Vor allem muß man bedenken, daß der Genius loci einen klaren, einen auch von unbewußten und launenhaften Bildern ungetrübten Blick fordert. Das Schicksal der deutschen Romantiker, deren schwieriges, tiefes und eindrucksvolles inneres Leben zugleich von Grillen geprägt war, kann uns als Mahnung dienen: Als diese Träumer nach Rom kamen, litten sie darunter, dort nicht ihre Phantasiebilder vorzufinden, während die noch Verblendeteren ihre Hirngespinste übertrugen, die wahre Stadt aber erreichte ihr Bewußtsein nicht. Überall sahen sie nur sich selber, nur die Widerspiegelung der eigenen Vorstellungen. Der Genius loci fordert in diesem Sinne eine gewisse Selbstvergessenheit, eine Loslösung von den vorgefaßten, ungeprüften Eindrücken und von wenig begründeten Sehnsüchten. Um die Seele der Stadt wahrhaftig aufzunehmen, muß man seine eigene Seele öffnen.

Um die Seele der Stadt zu erkennen, muß man ihre ganze vom naturgegebenen Umfeld eingerahmte Gestalt mit einem Blick umfassen. Professor Iwan Grews empfiehlt, die „Eroberung“ einer Stadt von einer Anhöhe zu beginnen. So ist es gut, in Rom erst einmal auf den Monte Gianicolo oder die Gärten Monte Pincio zu steigen, Venedig und Florenz von der Höhe ihrer schlanken Campanile zu überblicken, Paris vom Montmartre, der Kuppel von „Sacré-Cœur“. Professor Grews stellt treffend fest, daß die Anblicke à vol d’oiseau in ästhetischer Hinsicht wenig reizvoll sind, sie aber für die Erforschung der Topographie viel geben. Und tatsächlich, alles erscheint flach, die Unebenheiten der Stadt sind ausgeglichen, vor uns liegt ein kaum ausgeprägtes Basrelief, fast wie ein Plan. Aber der Betrachter erhält die Möglichkeit, die vom naturgegebenen Umfeld eingerahmte Stadt zu sehen. Anders ist die Gestalt unvollständig und kann nicht als organisches Ganzes wahrgenommen werden. Wir fühlen hier die Luft des Ortes, welche die Stadt atmet. Die Natur dringt gleichsam in die Stadt ein, und die Stadt wirft ihren Abglanz auf die umliegende Landschaft. Es taucht ein geheimnisvolles Gefühl für die Geburt der Stadt auf, wir erspüren ihre Ursprünge. Wenn man auf den weiten Raum schaut, kann man sich leicht vorstellen, daß es eine Zeit gab, in der hier der Wald rauschte und nichts war, und wir erleben die fruchtbare Gestalt des Mutterschoßes der Stadt und ihrer Entstehung. Wir können uns vorstellen, wo sich die Vorgänger der Stadt lokalisierten, bisweilen auch deren Spuren, die vom glückhaften Konkurrenten verwischt oder geschluckt wurden. Wir können den ursprünglichen Stadtkern ausfindig machen und deutlich und konkret sein Wachstum nachvollziehen, die unaufhörliche Bezwingung des Territoriums. Kurzum, der aufmerksame – analysierende und synthetisierende – Blick aus der Vogelperspektive gibt das Wichtigste: Die Stadt wird als „nichtmenschliches Wesen“ wahrgenommen, mit dem eine oberflächliche Bekanntschaft geschlossen wird, und vielleicht beginnt bereits die Aneignung ihrer Individualität, natürlich nur in den allerallgemeinsten Umrissen.

Hier können wir manchmal feststellen, zu welchem Typ die zu entdeckende Stadt gehört. Ob sie spontan entstand und sich frei wie ein Wald ausbreitete. Die Wurzeln solcher Städte verschwinden in Tiefen, zu denen der Spaten des Historikers nicht vordringen kann, in Tiefen, die von geheimnisvollen Mythen umweht sind, deren Sinn dem Forscher nicht immer klar werden. Oder aber sie gehört zu jenen Städten, die innerhalb einer schon entwickelten und komplizierten Kultur geschaffen, die aufgrund allgemeinstaatlicher Bedürfnisse ins Leben gerufen wurden, so wie Parks mit geraden Alleen, deren Anlage von dem bewußten Schöpfertum des Menschen geprägt ist. Zum ersten Typ zählen Rom und Moskau... Diese Städte entwickelten sich tatsächlich spontan. Die Straßen sind verworren, die einen wachsen aus den anderen heraus, wie Äste eines mächtigen Baumes, die einen fließen in die anderen oder in einen Platz, wie Flüsse, die einen See bilden oder durch einen hindurchströmen. Alles erscheint auf den ersten Blick zufällig, eine Laune unsichtbarer Kräfte, welche die Stadt erschufen. Durch eine ausführlichere Analyse des Stadtplans läßt sich eine gewisse Logik des Wachstums erschließen: Um den Kern legen sich neue Kreise, wodurch der Plan an den Schnitt durch einen Baumstamm erinnert. Zum zweiten Typ kann man New York zählen, in gewisser Weise auch Florenz und unser Petersburg. Die geraden Linien auf der Wassili-In-sel, die unendlich langen Prospekte, die in Radien zur Admiralität führen – schon allein dies zeigt, welchem Typ Petersburg zuzuordnen ist.
Die Gesamtansicht von Petersburg vermittelt uns bereits eine erste Vorstellung. Vor uns liegt eine Stadt, die in der Epoche des anbrechenden Imperialismus entstand, in jener Zeit, als das mächtige Volk die traditionellen Fesseln des abgeschlossenen nationalen Daseins abwarf und sich vom Lebens- und Machtwillen auf die welthistorische Bühne treiben ließ. Die Abgetrenntheit dieser neuen Hauptstadt von den nationalen Wurzeln, von der auch die Natur zeugt, die sich so sehr von der Natur des russischen Bodens unterscheidet, sowie die fremde Völkerschaft, die sich in Petersburgs Umgebung angesiedelt hatte – all dies spricht von der tragischen Entwicklung eines Volkes, das vom Schicksal in Grenzen gehalten wurde, die fern vom freien Meer liegen, eines Volkes, das entweder Humus werden muß, mit dem die Kulturen seiner glücklichen Nachbarn gedüngt werden, oder das siegen muß, indem es den Weg einer Eroberungspolitik einschlägt. Daß die Hauptstadt auf unterworfenem Boden steht, spricht vom Triumph ihres Volkes im Kampf um die historische Existenz und von ihrer Vorherbestimmung, das große Imperium zu krönen und das Nördliche Palmyra zu werden.

Eine Hauptstadt auf erkämpfter Erde verweist auch auf die Möglichkeit eines stürmischen Bruches mit der Vergangenheit, zeugt von ihrer revolutionären Abstammung, von der Erneuerung alter Bräuche, da es unumgänglich ist, daß hier eine Fülle von Frischem hereinfließt, bisweilen der belebende, bisweilen aber auch der tote Wind aus weiten Fernen. Die Gesamtansicht der Stadt zeugt auch von den Schwierigkeiten ihrer Geburt, von dem Schweiß und Blut, die es gekostet hat, sie ins Leben zu rufen, und gleichzeitig von dem despotischen Charakter des Staates, der sie geschaffen hat, von der Versklavung des Volkes, das sein Leben gehorsam für die Grundsteinlegung einer Stadt hergab, der es feindlich gesonnen war. Die graue Vorzeit kennt die Darbringung von Menschenopfern bei Grundsteinlegungen, und bis heute finden Archäologen die Knochen von Menschenopfern unter den Mauern antiker Städte. Man wird kaum eine andere Stadt auf der Welt finden, deren Geburt mehr Opfer gefordert hätte als das Palmyra des Nordens. Petersburg ist wahrhaftig eine Stadt auf Menschengebeinen. Die Nebel und der Sumpf, aus denen die Stadt entstand, zeugen von der ägyptischen Arbeit, die nötig war, um hier, auf dem unsicheren Boden, wie aus Nebel gewoben, ein solches „Paradies“ zu erschaffen. Hier berichtet alles von dem großen Kampf mit der Natur. Hier geschieht alles „den Elementen zum Trotz“. In dieser Natur ist nichts beständig, klar umrissen, stolz, nichts weist in den Himmel, alles ist geduckt und scheint demütig darauf zu warten, daß die Wasser die traurige Gegend überfluten werden. Und die Stadt wird als Antithese zu der sie umgebenden Natur geschaffen, als Herausforderung an sie. Wenn sich auch unter ihren Plätzen, Straßen und Kanälen „das Chaos regt“, so besteht sie selbst ganz aus ruhigen, geraden Linien, aus festem, beständigem Stein, sie ist exakt, streng und herrschaftlich mit ihren goldenen Spitzen, die ruhig gen Himmel ragen.

Mit einem Adlerblick aus der Höhe auf Petersburg herab läßt sich auch die Einheit des Willens erschauen, der die Stadt so kraftvoll zum Leben erweckte, und der wundermächtige Bauherr erspüren, dessen Idee sich stürmisch in der trägen Materie verkörperte. Hier kam es wahrhaftig zu einem Kampf der Sonnengottheit, des Kosmokrators Marduk mit der häßlichen Göttin des Chaos Tiamat! Ja, ohne die Gestalt von Peter dem Großen läßt sich Petersburgs Gesicht nicht vorstellen! Nikifor Wjasemski sagte unter Folter aus, daß zur Petrinischen Zeit dem Herrscher geschmeichelt wurde, indem man sang: „Wo der Gott es will, besiegt er die Ordnung der Natur“. Fast am Fuß der Isaaks-Kathedrale, auf dem Platz, der von zwei Seiten mit den ruhigen, klaren und majestätischen Gebäuden der Admiralität, des Synods und des Senats abgeschlossen und an der dritten von der erhabenen Newa umspült wird, steht das Denkmal für Peter I., das ihm Katharina II. errichte: Petro Primo Catherina Secunda. Falls sich jemand an einem unwirtlichen Herbstabend in seiner Nähe aufhält, wenn sich der in ein Chaos verwandelte Himmel auf die Erde zu bewegt und sie mit seiner Wirrsal erfüllt, der in Granit gezwungene Fluß stöhnt und sich aufbäumt, die plötzlichen Windstöße die Laternen schaukeln und ihr schwankendes Licht die umgebenden Gebäude in Bewegung bringt, – dann möge man in diesem Augenblick auf den Ehernen Reiter schauen, auf das Feuer, in das sich das Kupfer mit den scharf umrissenen und mächtigen Formen verwandelt. Welche Kraft spürt man, welche leidenschaftliche und stürmische Kraft, die eine beunruhigende Frage hervorruft: Was weiter, was wird sein? Sieg oder Zusammenbruch und Untergang?

Der Eherne Reiter ist der Genius loci von Petersburg. Wir ha- ben vor uns die Stadt des großen Kampfes. Die Kraft des Volkes, das sie geschaffen hat, ist mächtig, aber auch die Aufgaben, die vor ihm liegen, sind unermeßlich gewaltig, man kann den ungeheuerlichen Kampf fühlen. Über ihr schwebt die große Katastrophe wie der Geist des unbarmherzigen Schicksals. Petersburg ist die Stadt des tragischen Imperialismus.
Fakten
Architekten Nikolai Anziferow (1889–1958)
aus Bauwelt 24.2010

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