Bauwelt

Der Moskowski-Prospekt

Text: Rüthers, Monica, Basel

Der Moskowski-Prospekt

Text: Rüthers, Monica, Basel

Nach der Oktoberrevolution sollte die alte Zarenstadt ein neues, sowjetisches Gesicht bekommen. Hierfür bot sich der Süden der Stadt an: Um den Stalin-Prospekt (heute Moskowski-Prospekt) entstanden moderne Gesellschaftsbauten und Fabriksiedlungen. 1935 folgten gemäß der stalinistischen Generalplanung öffentliche Bauten, Superblocks mit Geschäften, Plätze, Parks und begrünte Boulevards, die für Großstadtflair sorgten.
In der Nachkriegszeit verlor der Prospekt gegenüber der Altstadt an Relevanz. Inzwischen hat er sich jedoch zur angesehenen Wohnadresse entwickelt, die in Teilen zum Weltkulturerbe gehört.
Am Heumarkt (zu Sowjetzeiten „Platz des Friedens“), dem alten „Bauch“ von Sankt Petersburg, beginnt eine breite Straße, die südwärts in Richtung Moskau führt. Weit draußen, schon am Rand der Stadt, endet dieser Moskowski-Prospekt am „Platz des Sieges“ (Ploschtschad Pobedy), wo eine riesige kreisförmige Denkmalsanlage samt symmetrisch aufragen­dem Obelisken an die Verteidigung Leningrads während der Blockade 1941–44 erinnert und zugleich den südlichen Stadteingang markiert.

Die alte Chaussee zwischen Sankt Petersburg und Moskau verband traditionell den „Kopf“ Russlands mit seinem „Herzen“, denn Moskau stand für das alte, wahre Russland, Petersburg hingegen war das „Fenster zum Westen“. War Moskau aus (Bauern-)Höfen gewachsen und hatte den Charakter eines gro­ßen Dorfes bewahrt, bildeten in der Stadt Peters I. Paläste, breite Straßen und Plätze mit geschlossener Randbebauung eine strenge Ordnung. Moskau war das Zentrum der Orthodoxie, Petersburg der Aristokratie. In Moskau, so hieß es, regiere der Markt, in Petersburg dagegen der Geist, denn hier, an der Newa, befanden sich die wichtigsten wissenschaftli­chen und kulturellen Institutionen des Landes.

Nach der Oktoberrevolution 1917 erhoben die Bolschewiki Moskau zur Hauptstadt, nicht zuletzt, um auch dadurch ihre epochale Abkehr vom Zarentum zu markieren. Durch diesen Bedeutungsverlust wurde die Petersburger (ab 1914 Petrograder) Altstadt aber erst recht zum Inbegriff der vorrevolutionären russischen Hochkultur. Die neuen Machthaber fürchteten, dass sich in diesem traditionellen Umfeld der Aristokra­ten, Beamten und Intellektuellen ein widerständiges Milieu konzentrieren könnte. Unter der Losung „Die Paläste den Arbeitern!“ enteigneten sie die herrschaftlichen Wohnungen und wiesen in die neuen Gemeinschaftswohnungen an die 300.000 Arbeiter ein.

Leningrad, wie die Stadt ab 1924 hieß, sollte ein völlig neues Gesicht bekommen. Da aber die Wohnungsnot keine Abrisse erlaubte, wurden die südlichen Stadtviertel für städtebauli­che Überlegungen interessant. Die historische Achse durch die dortigen Industrie- und Arbeiterviertel wurde nach der Revolution Meschdunarodny-Prospekt genannt, weiter zum Stadtrand hin galt noch die überkommene Bezeichnung Moskowskoje Schosse. Der nördliche Teil zwischen Heumarkt und Obwodny-Kanal war im 19. Jahrhundert neu bebaut worden und ist bis heute Standort traditionsreicher technischer Lehranstalten und Ingenieurschulen.

Auch nachdem sich südlich des Kanals viele Betriebe angesiedelt hatten, blieben die Arbeiterviertel in ihrer Umgebung beinahe ländlich geprägt. Zwischen niedrigen Holzhäusern und Kohlfeldern grasten noch bis in die 1930er Jahre Kühe. Diese Arbeitervorstädte wollten die sowjetischen Planer mit einer Infrastruktur versorgen und gegenüber dem alten Zentrum aufwerten. Am Moskowski-Prospekt entstanden Fabriksiedlungen mit Grünzonen und Gesellschaftsbauten neuen Typs. Schöne Beispiele des „Neuen Bauens“ sind das Feuerwehrdepot von 1925 (David Buryschkin), auch einige zwischen 1929 und 1931 errichtete konstruktivistische Arbeiterklubs wie das Kulturhaus „Iljitsch“ (Nikolai Demkow) für die Elektrowerke Elektrosila oder das Kulturhaus „Kapranow“ für die Stiefelfabrik Skorochod (M. S. Raisman). Als Zeichen neuer Verwaltungsstrukturen entstand 1930–35 ein Gebäude für den Bezirkssowjet des Moskauer Rayons (Igor Fomin). Diese frühen Bauten blieben noch punktuelle Maßnahmen, sie sollten Signale des Neuen setzen. Eine grundlegend städtebauliche, d.h. flächendeckende Umgestaltung entlang der südlichen Stadtachse wurde erst als Folge der stalinistischen Generalplanung ab 1935 in Angriff genommen.

In seinen wesentlichen Teilen ist der heutige Moskowski- Prospekt eine Schöpfung der Stalin-Ära. Stalins proletarische Kulturrevolution während der ersten Fünfjahrpläne (ab 1928) schwächte die überkommene Leitbildfunktion der Newa-Stadt vorübergehend, doch ab Mitte der dreißiger Jahre gewannen konservative Werte wie Familie, Disziplin und Autorität wieder an Bedeutung. Die bis dahin betont „proletarisch“ auftretende Massenkultur wich einer popularisierten Hochkultur mit Puschkin-Kult, Schwanensee und Teebesuchen mit Visitenkarten – eine Wende, die dem Bedürfnis der aufstrebenden sowjetischen Funktionseliten nach Selbstdarstellung entsprach.

Im Generalplan von 1935 sollte Leningrad nun ein neues, ein sowjetisches Zentrum im Süden der Stadt bekommen. Begründungen dafür gab es verschiedene – so gab etwa Parteichef
Schdanow an, vom ursprünglich sumpfigen Untergrund der Gründung Peters I. endlich auf festen Boden zu wechseln. Nicht auszuschließen sind aber auch rein symbolische Gründe: Die südlichen Viertel lagen einfach „näher bei Moskau“. Die historische Altstadt sollte zwar erhalten bleiben, aber ihre zentralen gesellschaftlichen Funktionen verlieren. Alle wichtigen kulturellen Institutionen wie Museen, Lehranstalten, Bibliotheken sollten von nun an im neuen Zentrum zu finden sein. Haupterschließungsachse dieser Stadterweiterung wurde der spätere Moskowski-Prospekt, sekundiert vom Majorowa-Prospekt (heute: Wosnessenski) und der Uliza Dserschinskaja (heute: Gorochowaja).

Die neue Magistrale wurde als Alternative zum „kapitalistischen“ Newski-Prospekt entworfen. Beiderseits dieser Achse sollte sich eine sozialistische Musterstadt entwickeln. 1936 wurde die vorhandene Chaussee auf 65 Meter verbreitert, asphaltiert und mit Versorgungsleitungen versehen. Die Arbeiterviertel bekamen Elektrizität, Gas und Wasser, sie wurden komplett mit Krippen, Kindergärten, Schulen, Apotheken ausgestattet. Der von 1925 bis 1938 amtierende Leningrader Chefarchitekt Lew Iljin setzte am Moskowski-Prospekt das Superblock-Konzept um: Fünf- und sechsstöckige Gebäude, symmetrisch auf einer Fläche von 9 bis 15 Hektar um einen oder mehrere Innenhöfe angeordnet, bildeten ein Viertel (Kwartal). Diese Module vergrößerten sich von den alten zu den neuen Stadtteilen hin.

Da im Städtebau der Stalin-Periode Monumentalität und Zentralität eine große Rolle spielten, achteten die Planer besonders auf die Wirkung jener Ensembles, die der Magistrale als Einrahmung dienten. So erhielt der Prospekt alle Attribute, die ein Zentrum braucht: weite Plätze, ein zentrales Hauptgebäude und pompöse öffentliche Bauten. In den Erdgeschossen der repräsentativen Wohnbauten gab es Geschäfte. Geschlossene Bebauung der Straßenränder und Quartiersblöcke, großzügige Straßenbeleuchtung und nicht zuletzt Straßenbahnen sorgten für das gewünschte Großstadtflair. Begrünte Boulevards, Parks und Sportanlagen sollten den Gegensatz von Stadt und Land entschärfen. Wasserläufe und Kanäle, die für das historische Petersburg so charakteristisch waren, sollten auch den neuen urbanen Schwerpunkt durchziehen. Zu den ersten in Angriff genommenen Arbeiten gehörte das Haus der Sowjets (Lensowjet, 1936–41), welches das größte Verwaltungsgebäude Europas werden sollte. Der siegreiche Wettbewerbsentwurf von Noi Trotzki, 200 Meter lang mit einem runden Saal für 3000 Personen, erinnert mit seiner kolossalen Pfeiler- und Säulengliederung stellenweise an die wuchtige neoklassische Fassade der von Peter Behrens 1911–13 erbauten Deutschen Botschaft am Isaaks-Platz.

Die Prachtbauten direkt am Moskowski-Prospekt waren mit ihren Wohnungen und Geschäften eigentlich für Mitarbeiter der Verwaltung, für Ingenieure oder Künstler gedacht. Einzelwohnungen blieben allerdings höheren Funktionären vorbehalten. In den meisten Wohnungen lebten alsbald so viele Familien, wie Zimmer vorhanden waren. Die neuen Wohnviertel kamen den Bedürfnissen der Arbeiter entgegen. Sie waren beliebter als die Gemeinschaftswohnungen im fernen Zentrum. Während des Zweiten Weltkriegs kamen die bereits weit fortgeschrittenen Bauarbeiten für das südliche Zentrum zum Erliegen. Die deutsche Wehrmacht verhängte von 1941 bis 1944 eine Blockade über Leningrad. Auf dem Moskowski-Prospekt rollte der Nachschub für die Front, die ab September 1941 entlang der Höhen von Pulkowo im Süden der Stadt verlief; von hier aus wurde die Innenstadt entlang der Achse des Prospekts beschossen. Die Bevölkerung südlich der Eisenbahnlinie wurde evakuiert, in der breiten Einfallsschneise entstanden Barrikaden aus Bauelementen der nahen Baustellen. Von drei Millionen Leningradern verloren während der 900 Tage dauernden Belagerung mehr als eine Million ihr Leben. Die meisten starben an der schrecklichen Hungersnot. Das durchlebte Elend hat sich tief ins Gedächtnis der Stadt eingegraben. Wegen des schließlich erfolgreichen Widerstandes gegen die Blockade wurde Leningrad in die Reihe der „Heldenstädte“ aufgenommen.

Das historische Zentrum der Newa-Stadt ging aus dem Patriotismus der Nachkriegszeit renoviert und musealisiert hervor. Der südlichen Stadterweiterung kam allerdings ihre ursprüngliche Bestimmung abhanden. Der Prospekt wurde zum Erinnerungsort. 1945 entstand der „Moskauer Park des Sieges“ (Moskowski Park Pobedy) mit seiner Allee der Helden. Ein Situationsplan von 1953 zeigt indessen, wie bruchstückhaft die Bebauung entlang der Magistrale blieb. Das „sozialistische Wohngebiet“ ging nicht in die Tiefe.

Heute ist der Moskowski-Prospekt eine durchaus prestigeträchtige Wohngegend. Die Wohnungen in den Stalin-Bauten gelten als qualitativ gut. Nicht zuletzt sind die an den Fassaden angebrachten Satellitenschüsseln ein Indiz dafür, dass sich hier eine zahlungskräftige Kundschaft eingekauft hat. Das Image Sankt Petersburgs als Kulturmetropole bleibt allerdings mit dem alten Zentrum verbunden. Einen Weg in die Reiseführer findet der Moskowski-Prospekt allenfalls als Ort des Gedenkens an die Blockade.

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