Bauwelt

Der Kampf um das kulturelle Erbe

Text: Margolis, Alexander, Sankt Petersburg

Der Kampf um das kulturelle Erbe

Text: Margolis, Alexander, Sankt Petersburg

Die Liebe zur historischen Stadt ist in Sankt Petersburg noch um vieles größer als in den meisten anderen Städten Europas. Die Wurzeln der allgegenwärtigen Denkmalsbegeisterung reichen weit zurück. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gründeten heimatstolze Bürger Museen und Kunstvereine, die sich der Erhaltung der baulichen Zeugnisse der russischen Geschichte verschrieben. Ihre Nachfolger kämpften gegen Politbürokraten, die heutigen Aktivisten kämpfen gegen skrupellose Investoren. Jahrelang schie­nen ihre Anstrengungen vergeblich. Doch vor vier Wochen konnten sie unverhofft einen grandiosen Sieg feiern.
„Bei der Petersburger ‚Gesellschaft der Baukünstler‘ wurde eine spezielle Kommission gegründet, deren Ziel es ist, gegen die Zerstörung von Architekturdenkmälern des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts sowohl in Sankt Petersburg als auch in seiner Umgebung und an anderen Orten Russlands zu kämpfen. Die Kommission hat keinen offiziellen Charakter. All jene, die sich dem Schutz von Kunstwerken vor Vandalismus verpflichtet fühlen, sind eingeladen, sich an der Arbeit der Kommission zu beteiligen.“ Diese Bekanntmachung war in der Aprilausgabe 1907 der Zeitschrift „Starye gody“ („Die frühen Jahre“) zu lesen, und sie endete entschlossen: „Es ist vorgesehen, die Vandalen im eigenen Lande mit allen Mitteln zu bekämpfen.“

Mehr als hundert Jahre trennen uns von diesem Zitat, und dennoch klingt es keineswegs veraltet. Auch jüngst sind solche Aufrufe wieder regelmäßig in Zeitungen und Zeitschriften zu finden, sie ertönen aus Lautsprechern, auf Fernsehbildschirmen, bei Kundgebungen und Versammlungen. Der historische Text wirkt vor allem dadurch aktuell, dass jene „Kommission zur Erforschung und Beschreibung des alten Sankt Petersburg“, die 1907 ins Leben gerufen wurde, ausdrücklich keinen „offiziellen Charakter“ hatte, es sich also um eine Art Bürgerinitiative handelte, wie es auch heute die diversen Vereinigungen zum Schutz des kulturellen Erbes wieder sind.

Die unabhängigen Geister des anbrechenden 20. Jahrhunderts haben nicht nur das „Museum des Alten Petersburg“ (1907), sondern auch eine „Gesellschaft für den Schutz und die Erhaltung von Denkmälern der Kunst und Geschichte in Russland“ (1909) gegründet. Unter den Wortführern dieser in Sankt Petersburg entstandenen Bewegung waren der Künstler und Kunstkritiker Alexander Benois, der Sammler und Museumsmann Pjotr Weiner, der Kunstwissenschaftler Nikolai Wrangel, der Kunsthistoriker Wladimir Kurbatow, der Künstler und Kunsthistoriker Georgi Lukomski, der Maler und Schriftsteller Nicholas Roerich, der Architekt Iwan Fomin und andere herausragende Kulturgrößen jener letzten zwei Jahrzehnte des Zarenreichs, die viele das „Silberne Zeitalter“ Russlands nennen. Nach der Revolution wurde die von ihnen begonnene Arbeit durch die Gesellschaft „Altes Petersburg – neues Leningrad“ (1921–38) und ab der zweiten Hälfte der sechziger Jahre durch die Gesamtrussische Gesellschaft zum Schutz von Kultur- und Geschichtsdenkmälern (WOOPIK) weitergeführt.

Zu den Gründern der WOOPIK gehörte Akademiemitglied Dmitri Lichatschow, von dem 1979 in der Literaturzeitschrift „Moskwa“ ein Artikel mit dem Titel „Die Ökologie der Kultur“ erschien. Darin entwickelte er die These, dass Ökologie nicht auf die Probleme der rein biologischen Umwelt beschränkt werden dürfe. Die Erhaltung des kulturellen Umfeldes sei eine ebenso wichtige Aufgabe wie der Schutz der Natur. Sehr eindringlich bestand der Verfasser darauf, dass sowohl das Verhältnis zur Natur wie auch das Verhältnis zur Kultur die Einhaltung allgemeiner moralischer Regeln erfordere und dass der Mensch sich als untrennbaren Bestandteil nicht nur der Na­tur, sondern genauso der Kultur begreifen soll. Lichatschows „Ökologie der Kultur“ fand breite Resonanz und bildete die Grundlage für eine „kultur-ökologische Bewegung“ in der sowjetischen Gesellschaft der achtziger Jahre.

In jener Zeit verkam das historische Stadtbild immer mehr, gerade unter den Alltagsbauten griffen Verfall und Zerstörung um sich, was die Behörden offenbar nicht bekümmerte. Unter Gorbatschows Perestroika mehrten sich in Leningrad Aktivitä­ten der Bewohner, um wenigstens jene alten Häuser zu retten, die die Erinnerung an bedeutende Persönlichkeiten bewahrten oder ein unverzichtbares Element des historischen Stadtbildes darstellten. Ohne Zögern stellte sich Lichatschow hinter die Jugend, die bereit war, seinem Aufruf zu folgen: „Um Kulturdenkmäler zu erhalten, genügt es nicht, sein Land platonisch zu lieben, diese Liebe muss von Taten begleitet sein.“

Denkmalschutz als Bürgerinitiative

Die erste Massenaktion zur Verteidigung der „Ökologie der Kultur“ fand am 19. Oktober 1986 auf dem Wladimirplatz statt, wo das Haus des Dichters Anton Delwig, eines Zeitgenossen Alexander Puschkins, zum Abriss bestimmt war. Die Kundgebung wurde von der „Gruppe zur Rettung der Kultur- und Geschichtsdenkmäler Leningrads“ organisiert, unterstützt wurde sie vom Literaturinstitut der Akademie der Wissenschaften sowie von Alexej Kowaljows „Interieurtheater“, einem Ensemble, das Stücke in historischen Gebäuden aufführt. Das bedrohte Baudenkmal konnte erhalten werden – ein Sieg, der Hoffnungen schürte.

Der Beginn einer wirklich demokratischen Massenbewegung lässt sich auf März 1987 datieren, er ist verbunden mit den Ereignissen auf dem Isaaksplatz am ehemaligen Hotel „Angleterre“. Das Vorhaben, jenes Gebäude abzureißen, in dem sich der Dichter Sergej Jessenin das Leben genommen hatte, beschäftigte damals die gesamte Stadt. Viele Bürger waren nicht nur empört, dass wieder ein bauliches Zeugnis vernichtet werden sollte, sondern auch darüber, dass die Entscheidung über die Voksmeinung hinweg „am grünen Tisch“ getroffen worden war. Die Jugendgruppe zur Rettung der Denkmäler, die an der Spitze der Verteidiger des „Angleterre“ stand, mobilisierte Hunderte Sympathisanten, die drei Tage lang rund um die Uhr auf dem Isaaksplatz Wache hielten. Die Behörden versicherten zunächst, sie würden von den Abrissplänen Abstand nehmen, ließen dann aber das Gebäude von der Miliz mit einem Zaun abriegeln und schließlich vor den Augen der Streikposten niederreißen. Fast die gesamte überregionale Presse beschäftigte sich mit der „Schlacht um das Angleterre“, die zu einem der wichtigsten Ereignisse des zweiten Perestroika-Jahres wurde.

Dafür gelang es der „Gruppe zur Rettung der Denkmäler“ noch im selben Jahr, das Haus am Wladimir-Prospekt 11, in dem Fjodor Dostojewski gelebt hatte, vor dem Abriss zu schützen. Dann der größte Erfolg: 1990 wurde das historische Zentrum von Leningrad mit den dazugehörenden Parks und Palästen in der Umgebung der Stadt in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen – als eine „in ihrer Art einzigartige und vollkommene Verwirklichung der europäischen Idee ei­ner regelmäßigen, harmonisch in die Landschaft eingefügten Stadt“.

Denkmalschutzgesetz und Realität

Heute stehen in Sankt Petersburg 7800 Objekte des kulturel­len Erbes unter staatlichem Schutz: Gebäude und Ingenieurbauten, Gärten und Parks, Teiche und Kanäle, einzelne Kolossalstatuen und Gartenskulpturen, aber auch historische Grab­stätten und archäologische Objekte. Das historische Stadtbild wird allerdings weniger von einzelnen Schätzen der Baukunst als vielmehr vom architektonisch-räumlichen Gesamteindruck geprägt. Das ist es, was die Stadt an der Newa unter anderen Millionenstädten der Welt herausragen lässt, was ihre Originalität und Attraktivität ausmacht.

Im Jahr 2002 wurde das lange erwartete Gesetz „Über die Objekte des kulturellen Erbes (Kultur- und Geschichtsdenkmale) der Völker der Russischen Föderation“ verabschiedet. In puncto Schutzzonen wird darin auf den Welterbestatus Be­zug genommen: Ein Objekt, das auf der UNESCO-Liste steht, wird „als besonders wertvolles Objekt (...) von höchster Priorität anerkannt“ (Artikel 24.2). Wenn also, nach Geist und Buchstaben des Gesetzes, das historische Zentrum Sankt Petersburgs auf der Liste steht und somit zur obersten Kategorie der zu schützenden Zonen gehört – dann bestimmt Artikel 34.2: „Eine Schutzzone ist ein Gebiet, innerhalb dessen (...) besondere Vor­schriften (...) gelten, die die wirtschaftliche Tätigkeit einschränken und den Bau verbieten, ausgenommen spezielle Maßnahmen, die der Erhaltung und Wiederherstellung der historisch-städtebaulichen oder natürlichen Umgebung des Objektes des kulturellen Erbes dienen.“

Doch auch diese Gesetzeslage konnte das barbarische Vordringen von Bauherren in das historische Zentrum Sankt Petersburgs nicht stoppen. Regelmäßig finden in der Schutzzone Abrisse statt. In den letzten Jahren hat die Stadt historische Bausubstanz am Newski-Prospekt, am Liteiny-Prospekt, am Wosnessenski-Prospekt, an den Uferstraßen der Moika und der Fontanka, des Gribojedow-Kanals und des Krjukow-Kanals, an der Bolschaja Morskaja, der Kirotschnaja und anderen zentralen Straßen verloren. Neubauten von außerordentlich niedrigem künstlerischem Niveau sind an den Newa-Ufern, am Manegeplatz, am Kasaner und am Isaaksplatz entstanden. Es mehren sich die Fälle, in denen Baudenkmäler durch moderne Umbauten verunstaltet wurden. Dutzende Häuser im historischen Zentrum wurden mit hässlichen Dachgeschossen versehen, die die architektonische Landschaft der „Hauptstadt des Nordens“ radikal verändert haben. Unter dem Druck habgieriger Bauherren haben die städtischen Behörden einen erheblichen Teil des Newski-Prospekts, die Hälfte der Uferstraßen der Fontanka, einen großen Teil der Petrograder Seite und die Krestowski-Insel von der Schutzzone ausgenommen. Die neuen Bedrohungen, die aus der Wiederkehr der Marktwirtschaft in Russland herrühren, verbunden mit den Altlasten einer üblen Hinterlassenschaft (nach offiziellen Angaben befinden sich in Sankt Petersburg gegenwärtig mehr als 1300 staatlich geschützte Geschichts- und Kulturdenkmäler in der „aktiven Phase der Zerstörung“), haben die örtliche Zivilgesellschaft zum Schutz des architektonischen Erbes nun wieder mobilisiert.

Die neue Bewegung vereint so unterschiedliche Gruppen wie die Petersburger Abteilung der WOOPIK, die unabhängige Bewegung „Lebendige Stadt“, das Zentrum für Gutachten EKOM, die „Bürgerkoalition zum Schutz von Sankt Petersburg“ und den „Internationalen Klub der Petersburger“. Diese Organisationen beschäftigen sich mit der Identifizierung und Erforschung von denkmalwerten Objekten, sie beantragen staatliche Unterschutzstellung, kontrollieren den Zustand und die Nutzung von Geschichts- und Kulturdenkmälern, klagen Verstöße gegen das Denkmalschutzgesetz öffentlich an, lassen un­abhängige Gutachten erstellen oder machen Vorschläge zum Erhalt bedrohter Denkmäler und Landschaften. Man kann sagen: Das Leben des modernen Petersburg ist geprägt von nicht enden wollenden Protesten gegen die Vernichtung der historischen Bebauung und der öffentlichen Grünflächen. Kundgebungen und Mahnwachen bringen die öffentliche Meinung zum Brodeln, in der Presse liest man fast täglich von abgerissenen Häusern, die Nachrichten aus der Newa-Stadt erinnern gelegentlich an Meldungen von Schlachtfeldern.

Als eine der schillerndsten Facetten des kulturellen wie politischen Lebens Sankt Petersburgs im letzten Jahrzehnt muss der Streit um die Planungen für eine „Gazprom-City“ (später „Ochta-Center“ genannt) gelten. Seit 2006 wurde an der Einmündung des Flusses Ochta in die Newa der Bau eines Wolkenkratzers von mehr als 400 Meter Höhe geplant. Ziemlich genau gegenüber liegt die Smolny-Kathedrale, ein Barockkunstwerk von Bartolomeo Francesco Rastrelli (1748–64). Geltende Gesetze verbieten an dieser Stelle Gebäude, die höher als 100 Meter sind, und so rief das Vorhaben von Gazprom sofortige Proteste der Fachwelt hervor. Im Juni 2006 wandte sich der örtliche Architektenverband in einem offenen Brief an den Gouverneur, in dem es u.a. hieß: „Sankt Petersburg ist in der Höhe sehr gleichmäßig. (...) Die Erhaltung der unnachahmlichen Silhouette der Turmspitzen und Kuppeln ist von gro­ßer städtebaulicher und geistiger Bedeutung. Der Bau eines 400 Meter hohen Turms wird unweigerlich die über Jahrhunderte gewachsene Harmonie dieser Dominanten zerstören (...). Die Realisierung dieses Baus wird den völligen Bruch mit der Petersburger Städtebautradition bedeuten.“

Die Mahnung der russischen Baumeister, die Unterstützung vom Internationalen Architektenverband UIA und vom Welt­erbe-Komitee der UNESCO erhielten, blieb lange Zeit unbeant­wortet wie die Vielzahl ähnlicher Appelle, die seitens der Öffentlichkeit und von Wissenschaftlern und Kulturschaffenden an städtische und föderale Behörden gerichtet wurden. „Das wird das Wahrzeichen eines neuzeitlichen Sankt Petersburg des 21. Jahrhunderts“, beharrte der Vorstandsvorsitzende von Gazprom, Alexej Miller, auf seinem Standpunkt und schmetterte alle Vorschläge ab, den Bau des gigantischen Turms in größtmöglicher Entfernung vom historischen Zentrum zu realisieren. Dabei hatten Meinungsumfragen ergeben, dass die Hälfte der Petersburger den Plänen nicht zustimmt. Bürgerrechtler zogen sogar vor Gericht, um dort die Zukunft des „ambitionierten Projekts“ klären zu lassen.

Den im Mai des Jahres bekannt gegebenen Erlass des Präsiden­ten Medwedew, weitere Konfrontationen mit den UNESCO-Schutzkriterien zu vermeiden und auf den umstrittenen Hochhausturm zu verzichten, konnten alle Freunde des historischen Sankt Petersburg berechtigt als großen Sieg feiern.

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