Bauwelt

Es bleibt nur die Substanz

Text: Chiorino, Cristiana, Turin

Es bleibt nur die Substanz

Text: Chiorino, Cristiana, Turin

Mehrere Bauten von Pier Luigi Nervi wurden in letzter Zeit erheblich verändert, andere gar abgerissen. Beim Palazzo del Lavoro in Turin hat die Stadt den Einbau eines Shopping Centers, das rund 120 Millionen Euro kostet, gebilligt. Die päpstliche Audienzhalle im Vatikan erhielt eine Photovoltaik-Anlage.
Pier Luigi Nervis Werke in Italien, Europa, den USA und Australien sind Symbole einer engen Bindung von Bau- und Konstruktionskunst. Sie stellen heute jedoch hohe Ansprüche an die Instandhaltung und mögliche Umnutzungen. Besondere Schwierigkeiten bereiten nicht zuvorderst die denkmalpflegerischen, sondern vor allem technische und wirtschaftliche Aspekte. Dies liegt darin begründet, dass eine marode Bausubstanz weniger ein Problem darstellt als die aus heutiger Sicht funktionale Sperrigkeit der Bauten oder eine wirtschaftliche Fehlentwicklung. Alle, ob Architekturhistoriker, Ingenieure oder Nutzer, sollten gemeinsam die Verantwortung für den Erhalt der Zeugnisse einer außergewöhnlichen Epoche mit einer neuen Konstruktionssprache der modernen Architektur übernehmen. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist das Interesse für den kulturellen Wert der Bauten seitens der Öffentlichkeit und der staatlichen Institutionen.
Die Ausstellung „Pier Luigi Nervi: l’Architecture comme Défi“ bietet eine Gelegenheit, die Aufmerksamkeit erneut auf die Schlüsselwerke Nervis zu lenken, auf die ganz eigentümliche Weise seiner Konstruktionssysteme – und somit die öffentliche Meinung für deren Erhalt zu sensibilisieren.

Zerstört, verloren

Die Verluste in der Vergangenheit sind erheblich: Die außer-gewöhnlichen Konstruktionen etwa der Flugzeughangars von Orvieto und Orbetello aus den dreißiger Jahren fielen 1945 der deutschen Luftwaffe zum Opfer; zwar gab es Pläne, die Hangars auf der Grundlage der wenigen erhaltenen Fragmente wieder herzustellen, doch fehlten die Mittel dazu.
Auch der 1946–48 auf dem Mailänder Messegelände errichtete Pavillon, der im Zuge einer Nachnutzung mehrfach umgebaut worden war, ging schließlich 2007 nach dem Um­zug der Messe und der Neubebauung des alten Geländes verloren (Heft 40–41.2004).
Schon 2001 wurde die Straßenbrücke von 1921 über den Fluss Cecina zwischen Pisa und Volterra (Entwurf gemeinsam mit Attilio Muggia) abgerissen, ebenso wie der 1950 erbaute Sprungturm des Seebades in Ostia, der zu einem Symbol der Stadt geworden war.
Auch die Risiken einer umfassenden Umplanung von Nervis Bauten nehmen zu. Jüngstes Beispiel ist der im November 2009 abgeschlossene Umbau des  Bahnhofs von Savona..   Der ursprüngliche Bau aus den Jahren 1958–61, den Nervi mit einer für ihn typischen, von zehn eleganten Betonpfeilern in Felder unterteilten Glasfassade entworfen hatte, wurde zu ei­nem zweigeschossigen Gebäude mit einer dem Original diametral entgegengesetzten horizontalen Aufteilung verballhornt, die sich jeglicher Regel von übergeordneten Hierarchien und konstruktiver Ordnung widersetzt.
Anlass zu großer Sorge bietet das Umbauvorhaben für den  Palazzo del Lavoro in Turin  (1959–61, gemeinsam mit den beiden Söhnen Antonio und Mario und Gino Covre rea-
lisiert). Der Entwurf, ein Auftrag anlässlich der Hundertjahrfeier der italienischen Unabhängigkeit, fand wegen seiner cha-rakteristischen Konstruktion aus selbsttragenden Stahlbeton-
Schirmen große Beachtung. Nach Jahren des Verfalls verabschie-
dete die Stadtverwaltung im Dezember 2008 eine Neunutzung. Der inzwischen im Besitz eines privaten Investors befindliche Palazzo soll einem Ensemble mit insgesamt 28.000 Quadratmeter Fläche für Shops, Gastronomie und Büros Raum bieten. Federführender Architekt des Umbaus ist Alberto Rolla (Heft 35.2009). Der Bau steht nicht unter Schutz. Die Umbaupläne, die eigentlich von der Denkmalschutzbehörde geprüft werden müssten, sehen einen beträchtlichen Eingriff vor.

Prüfung bestanden

Im Gegensatz dazu ist die 1948–49 entstandene Messehalle für Torino Esposizioni in gutem Zustand. Zum ersten Mal verbindet Nervi hier einen großmaßstäblichen Entwurf mit einer Gewölbekonstruktion. Seine persönliche Handschrift bildet sich bei der Arbeit an dem Projekt weiter aus; erstmalig setzt er im großen Stil den von ihm entwickelten Ferrozement ein: Ein Netz aus Stahl und filigraner Armierung überzieht er mit einer dünnen Schicht Beton, so weit möglich greift er auf vorgefertigte Platten zurück. Der Ferrozement ermöglichte zugleich eine effiziente und kostengünstige Lösung mit außer-gewöhnlichen ästhetischen Effekten – hier das Tonnengewölbe mit den Rippen. 2006 wurde der Bau vom Büro Sinteca als Eishockey-Arena für die Olympischen Winterspiele instand gesetzt. Anlässlich der Renovierungsarbeiten erfolgte eine umfangreiche Prüfung der Konstruktion, die auch die vorsichtige Entnahme von Materialproben des Betons einschloss. Analysen des Gewölbes erwiesen die Akkuratesse des ursprüngli­chen Entwurfs und die auch nach heutigen Standards nach wie vor überzeugende Konstruktion aus Ferrozement mit besonders feinkörnigem Betonmantel. Die üblichen Verfallserscheinungen, meist Karbonisierung und Korrosion, treten geringfügig an den in traditionellem Stahlbeton ausgeführten Partien der Außenhülle auf. Eine eingehende Untersuchung des Gewölbes wies hingegen den außergewöhnlich gut erhaltenen Zustand des für die Dachkonstruktion verwendeten Materials nach. Nichtsdestotrotz werden die schwungvollen Formen der Außenhaut heute zum Teil von den mittlerweile notwendig gewordenen Anbauten für die Klimatechnik verdeckt. Das Problem ist nicht neu: Immer sind Eingriffe im Zusammenhang mit der Anpassung an moderne Nutzungen bei der Transformation solcher sehr eigenwilligen Raumlösungen äußerst fragwürdig.
Zu den von Nervi in den zwanziger Jahren in der Tos­kana realisierten Bauten zählt auch die Dachkonstruktion des Theaters Politeama in Prato. Verantwortlich für die Ausführung war Nervis erstes Unternehmen Nervi & Nebbiosi. Bis heute ist das Gebäude in einem guten Zustand. Dagegen läuft das Städtische Stadion in Florenz (1929–32) Gefahr, aufgegeben zu werden, da es als nicht mehr normgerecht gilt. In diesem Entwurf spiegelt sich die Kühnheit hinsichtlich der formalen und tragwerksplanerischen Lösungen wider. Dies zeigt sich nicht zuletzt bei der Konstruktion der Außentreppen als zwei aufeinander zulaufende Wendeltreppen mit ei­ner extrem kostengünstigen Umsetzung, die vor allem auf der modularen Bauweise und einer auf die Spitze getriebe­nen straffen Baustellen-Logistik basierte. 1990 ist das Stadion aus Anlass der Fußballweltmeisterschaft umfassend renoviert worden; heute steht es unter Aufsicht der Denkmalsbehörde.

Olympia

Für die Nervi-Bauten in Rom bietet sich dagegen ein ganz anderes Bild. Die Gebäude, die der Architekt im Zusammenhang mit der Olympiade von 1960 realisierte – den Palazzetto dello Sport (1958–60, in Zusammenarbeit mit Annibale Vitellozzi) und den Palazzo dello Sport del EUR (1958–59, mit Marcello Piacentini u.a.) sind vorbildlich erhalten. Bei mehreren Einbauten wurde der Architektur mit Respekt begegnet.
Ein anderes Olympia-Projekt, die Straßenbrücken di Corso Francia (1958–60), werden derzeit einer Instandhaltung unterzogen, wie man sie irgendeiner beliebigen Autobahnbrücke angedeihen lassen würde. Ohne Rücksicht auf die Sichtbetonoberflächen der facettierten und sich in zwei Achsen verjüngenden Stahlbetonpfeiler des Originals werden die Stützen grob geflickt.
Am 20. Januar verabschiedete das römische Stadtparlament unter Vorsitz des Bürgermeisters Gianni Alemanno einstimmig die Erweiterung des von Nervi 1957/58 konzipierten Stadions Flaminio von derzeit 24.300 auf fast 42.000 Plätze. Eine derartige Aufstockung wird sich sicherlich nicht im Einklang mit der ursprünglichen stringenten Linienführung des Baus erreichen lassen. In der Vergangenheit war bereits die Möglich­keit einer vollständigen Überdachung diskutiert worden, danach verfiel man auf die Option eines Teil-Dachs und schließlich einer provisorischen Erweiterung mit Tribünen für Rugby-Turniere. Für die Festveranstaltungen im Rahmen des fünfzigjährigen Jubiläums der Olympischen Spiele in Rom in diesem Sommer sind für die Olympiabauten höchstens Aufräumarbeiten im unmittelbaren Umfeld und kleine Schönheitsreparaturen vorgesehen, restauratorische Bemühungen fallen indes völlig unter den Tisch. Das Lagerhaus Magliana von 1945 in der Peripherie von Rom, die erste experimentelle Konstruktion Nervis mit Ferrozement überhaupt, dient bis heute als Garage. Was die  Audienzhalle Paul VI. im Vatikan. (1964–1970) betrifft, stellt sich die Situation komplizierter dar. Die im Innern hervorragend erhaltene Halle wurde Ende 2008 mit Sonnenkollektoren versehen. Es ist insofern schwierig, den Eingriff zu kritisieren, als die Halle nun hinsichtlich der Energieversorgung autonom ist, dennoch wäre mehr Feingefühl wünschenswert gewesen, damit der Charakter der baulichen Substanz weniger gelitten hätte.
Auch die ehemalige Wollspinnerei Gatti in Rom (1951–53)mit simpler Dachkonstruktion ist sehr gut erhalten. Die untere Halle dient heute als Autowerkstatt. Da der Komplex am äußersten Stadtrand liegt, erscheint eine angemessene Neuorientierung mit entsprechender Wertschätzung der Architektur unrealistisch. Nun besteht jedes Mal bei einem Neubezug der darüber liegenden Haupthalle – nach vielen Jahren als Supermarkt ist inzwischen ein Sportgeschäft eingezogen – die Gefahr, dass die untere Halle verunstaltet wird.
In Mailand ist die vollständige Instandsetzung des Pirelli-Hochhauses (1956–60, gemeinsam mit Gio Ponti) nahezu abgeschlossen, nachdem ein Kleinflugzeug Teile der Fassade beschädigt hatte. Die Restaurierung ermöglichte die Wiedereröffnung des Belvedere im Dachgeschoss und des seit zwanzig Jahren ungenutzten Auditoriums mit seiner charakteristischen Konstruktion der über Kreuz laufenden Träger.
Daneben gibt es zahlreiche weniger bedeutsame Bauten Nervis. Vielfältige Aufrufe der entsprechenden Vereinigungen, etwa der Aipai (Associazione Italiana per il Patrimonio Archeologico Industriale), werben für den Erhalt von Nervis Industrie-Architektur aus den dreißiger Jahren: so für das Silo Solvay von San Vicenzo in der Toskana (1938) oder das Lagerhaus für eine Salzraffinierie in Margherita di Savola (1933) in der Provinz Foggia. Es existieren diverse Pläne von privaten
Investoren für den Ankauf der ungenutzten Salz-Lagerhallen von Cagliari (1955 und 1956), derzeit im Besitz der Region.
Von den aktuell in Arbeit befindlichen Projekten sei der Umbau der Tabakmanufaktur von Bologna (1952) in ein regionales Technikzentrum erwähnt. Noch in diesem Jahr soll da­für ein internationaler Ideenwettbewerb ausgelobt werden.

Im Ausland

Was die Nervi-Bauten außerhalb Italiens betrifft, so wurde Ende 2009 die Sanierung des UNESCO-Gebäudes in Paris abgeschlossen, das Marcel Breuer, Bernard Zehrfuss und Pier Luigi Nervi 1958 gemeinsam konzipiert hatten. Die Restaurierung verantwortete der Architekt Jean-Loup Roubert. Die Eingriffe bestanden in der Hauptsache in Verbesserungen bezüglich Wärmedämmung, Schallschutz und Heizungstechnik.
Für das einzige von Nervi realisierte Projekt in New York, das Bus-Terminal an der George Washington Bridge, plant die Hafenbehörde eine Erneuerung und Erweiterung mit einem Investitionsvolumen von 150 Millionen Dollar. Den Auftrag erhielt der Architekt Robert Davidson. Denkmalschutzorganisationen wie The Modern Architecture Working Group engagieren sich dafür, die Konstruktion in der originalen Fassung von 1963 zu erhalten.
Fakten
Architekten Pier Luigi Nervi (1891–1979)
aus Bauwelt 19.2010

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