Bauwelt

„Aufräumen! Ordnen! Weiterbauen! Ist es das, was wir brauchen?“

Bauwelt-Gespräch

Text: Allmann, Markus, München; Ballhausen, Nils, Berlin; Braum, Michael, Potsdam; Geipel, Kaye, Berlin; Kleilein, Doris, Berlin; Mayer H., Jürgen, Berlin; Rettich, Stefan, Leipzig

„Aufräumen! Ordnen! Weiterbauen! Ist es das, was wir brauchen?“

Bauwelt-Gespräch

Text: Allmann, Markus, München; Ballhausen, Nils, Berlin; Braum, Michael, Potsdam; Geipel, Kaye, Berlin; Kleilein, Doris, Berlin; Mayer H., Jürgen, Berlin; Rettich, Stefan, Leipzig

Die Stiftung Baukultur beschäftigt sich am 16. und 17. April in Essen mit dem öffentlichen Raum. Ein Bauwelt-Gespräch nimmt im Vorfeld deutsche Realität ins Visier: der Deal mit den Shopping-Malls, die Grenzen der Bewohner-Partizipation und der mutlose Umgang mit Infrastruktur.
Freiraum versus öffentlicher Raum

Fangen wir an mit dem Begriff Freiraum. Die Verwendung von Freiraum als Synonym für den öffentlichen Raum hat uns überrascht. Bei Wikipedia zum Beispiel existiert Freiraum gar nicht, es gibt lediglich einen Lifestyle-Club in Bayreuth, der so heißt, eine Mitwohnzentrale in Berlin und ein Jugendzentrum in Dachau. Herr Braum, warum haben Sie ausgerechnet diesen Begriff gewählt? Wollen Sie das Öffentliche aus der Debatte heraushalten?

Michael Braum | Wir wollten damit ein Stück weit irritieren. Man soll sich  fragen: Warum wenden die sich gegen den normalen Begriff des öffentlichen Raums, über den alle reden? Wir sagen, öffentlicher Raum ist das Zusammenspiel unterschiedlicher Ansprüche an öffentlich zugängliche Räume. Wir haben ganz bewusst den öffentlichen Raum nicht auf das traditionelle Bild von Straßen, Wegen und Plätzen reduziert. Damit haben wir uns Schwierigkeiten eingekauft, darüber wol len wir nachdenken. Auch der etwas spielerische Titel „Wo findet Freiraum Stadt?“ lässt viele Assoziationen zu. Freiraum! Das ist ein offener Begriff. Man denkt das anders.

Ist dieser Begriff für den gegenwärtigen öffentlichen Raum in Deutschland nicht verharmlosend?

Markus Allmann | Das Wort Freiraum löst bei mir eine ganz andere Anmutung aus. Freiraum benennt Räume, die ich als relativ ungestaltet empfinde. Freiraum zu „gestalten“, das ist ein Widerspruch. Wenn ein Raum determiniert ist, ist er eben kein Freiraum mehr. Im Bericht der Bundesstiftung Baukultur 2010 finden sich viele Beispiele für ganz dezidierten, „designten“ und gestalteten, bis zu Ende definierten Freiraum. Ich hingegen empfinde Freiraum als einen Raum, der mir gerade nicht als Freiraum vorexerziert wird. Generell finde ich es aber richtig, dass man sich löst vom „öffentlichen Raum“. Das ist ein schwieriger Begriff. Die Landschaftsarchitekten zum Beispiel fühlen sich beschimpft, wenn man sie als Landschaftsarchitekten bezeichnet, die sind lieber Freiraumplaner. Insofern verstehe ich gut, dass man mit einer anderen Diktion provozieren will. Für mich bleibt aber die Hauptfrage, wie viel Planung Freiraum verträgt.
Stefan Rettich | Vielleicht muss man sich zunächst über die Frage unterhalten, warum der Bund neuerdings wieder versucht, sich mit dem Thema zu befassen. Man konnte ja über drei Jahrzehnte einen Rückzug der öffentlichen Hand aus räumlichen Fragen beobachten, bei gleichzeitiger Pluralisierung und Aufspaltung der Gesellschaft. Das finde ich sehr bezeichnend: Wenn es komplexer wird, zieht sich die öffentliche Hand zurück. Die Stiftung Baukultur scheint auch nicht so recht zu wissen, wie sie mit diesem neoliberalen Erbe umgehen soll. Vielleicht scheut man sich deshalb vor der Definition, was öffentlicher Raum heute ist.
Jürgen Mayer H. | Wenn ich an Freiraum denke, denke ich nicht an Außenräume, sondern eher an die Möglichkeiten, die eine offene Gesellschaft bietet, an subkulturelle Nischen. Das hat zunächst nichts mit dem Außenraum der Stadt zu tun. Wichtiger ist, welche individuellen Entwicklungen und Darstellungen, Lebensweisen und auch wirtschaftliche Möglichkeiten es gibt. Das ist der Grundstein. Ich sehe hier keine gestalterische Außenraum-Debatte.
Michael Braum | Genau das wollten wir mit dieser Bezeichnung erreichen. Freiraum ist für mich ein positiv codierter Begriff. Aber gleichzeitig ist das Thema umfassender. Unsere als öffentlich empfundenen Räume werden von unterschiedlichen Ansprüchen besetzt, sie sind durch den Verkehr in Anspruch genommen, es geht um Aufenthaltsqualität, es geht um Repräsentation. Diese Ansprüche laufen alle mehr oder weniger unvermittelt nebeneinander. Deswegen geht es diesen Räumen oft so schlecht.

Privatisierung und Malls

Sie sagen, der Freiraum ist das Offene, das nicht unbedingt Planbare. Das ist die eine Seite. Was aber ist mit den Zwängen, denen der öffentliche Raum unterliegt? Zum Beispiel die innerstädtischen Shopping-Malls, etwa der Limbecker Platz in Essen, wo die Debatte um das Verschwinden des öffentlichen Raums in der Bauwelt ausführlich geführt wurde. Da geht es nicht um den Austausch von Interessen, sondern schlichtweg um einen Kampf. Nicht allein um das viel zu groß geratene Kaufhaus, sondern auch um die Abschottung, die man sich mit dem Großbau eingehandelt hat. Wo bleibt  da die städtische Verantwortung? Herr Allmann, Ihr Büro baut am Rand von München auch eine Mall, die Pasing Arcaden. Ihr Partner Ludwig Wappner sagte kürzlich, für die Architekten gehe es darum, den Tiger zu reiten.

Markus Allmann | Ich glaube nicht, dass man den Tiger Shopping-Mall reiten kann. Wir sollten den Begriff öffentlicher Raum aufweiten. Shopping-Malls sind zumindest semi-öffentliche Räume. Freiraum ist nicht nur dort, wo es uns auf den Kopf regnet, sondern überall dort, wo Kommunikation mit anderen Personen stattfindet. Ich würde die Grenze deswegen nicht so scharf zwischen Innen- und Außenraum ziehen. Für mich sind auch Transiträume wie das Untergeschoss des Münchner Stachus Freiräume par excellence: Räume, in denen sich eine große Menschenmasse bewegt.

Bleiben wir bei den Pasing Arcaden. Welche Möglichkeiten hat der Architekt hier?

Markus Allmann | Die Einflussnahme ist schon durch die schiere Größe des Objekts begrenzt. Die Massen, die dort verbaut werden, stehen nicht zur Diskussion, sie sind gesetzt, damit es sich wirtschaftlich trägt. An diese Vorgabe können Architekten gar nicht ran. Bei den Malls gibt es im Moment meistens den Deal, dass die Stadt einen gewissen Mehrwert dazu bekommt, wenn sie erlaubt, dass diese Ansammlung von Flächen realisiert wird: sei es eine soziale oder kulturelle  Einrichtung, sei es ein Freiraum. Das ist ein wirtschaftlicher Deal zwischen Stadt und Investor. Man muss sehen, dass die Malls eine ungeheure Nachfrage haben, darüber können wir uns nicht hinwegsetzen, auch ich als Architekt nicht. Natürlich konkurrieren sie mit den Innenstädten, gleichwohl müssen wir uns diesen Bauaufgaben stellen. Die Frage ist: Schafft man es, die Nachfrage in eine Form zu gießen, die es erlaubt, Qualitäten des Freiraums zu verwirklichen?

Wie sieht der Mehrwert in Pasing aus?

Markus Allmann | Es gibt den Paseo, der von Topotek geplant wird. Ein großformatiger gestalteter Freiraum.

Paseo? Was soll man sich darunter vorstellen?

Markus Allmann | Paseo heißt Freiraum, zumindest ist das so gemeint, also ein Platz, auf den es regnet. Das ist der Mehrwert zur Mall. Außerdem gibt es denkmalgeschützte Gebäude in der Nachbarschaft, die von dem Investor instand gesetzt werden. Dazu kommt die Auflage, auch Wohnungen zu bauen. Es ist im Grunde ein großer Deal.
 
Stefan Rettich | Heute werden doch die meisten städtebaulichen Entwicklungen hinter verschlossenen Türen entschieden. Eine Kommune kann dabei kaum mehr konkrete Planungsvorgaben machen. Wenn sich der Staat aus öffentlichen Systemen zurückzieht, etwa dem Wohnungsbau, und dann über Jahrzehnte das Geld in Eigenheimzulage und Pendlerpauschale steckt, gerät die Suburbanisierung zur Zwangsjacke. In Ostdeutschland kann man das sehr gut sehen. Die Städte sind nicht mehr in der Lage zu handeln. Sie schrumpfen, haben zu wenig Steuereinnahmen und sind auf solche Deals
angewiesen. Der „Freiraum“, der so entsteht, ist eine politisch motivierte Krise. In diesem größeren Zusammenhang kommt auch die Shopping-Mall-Geschichte in den Innenstädten zum Tragen. Unter dem Druck der grünen Wiese setzen die Städte extrem auf Zentralität und gehen auf Deals ein, die sie sonst nie machen würden.


Wie sieht es mit der geplanten Mall Am Brühl in Leipzig aus? Funktioniert der Deal?

Stefan Rettich | Ich glaube es nicht. Ich habe mich auf vielen Veranstaltungen dagegen ausgesprochen, gegen eine Mega- Mall mit ca. 25.000 Quadratmeter Einzelhandelsfläche, und das in Leipzig, wo die Verkaufsflächenproduktivität seit Jahren rückläufig ist.

Michael Braum | Bei dem, was mit dem Brühl passiert, hat mir das Herz geblutet. Der Brühl stand für eine Epoche, er war gut. Warum wird so etwas ohne Not zerstört? Von der gestalterischer Ausdruckskraft her versteht man es nicht. Die Ökonomie diktiert offensichtlich die städtebauliche Debatte an diesem Ort. Die gleiche Diskussion hat man in Hannover gehabt. Ich war 1998, noch vor der EXPO, in Hannover und habe gedacht: Diese Innenstadt ist die größte Shopping-Mall, die ich je gesehen habe. Und dann bauen die jetzt noch eine weitere, die Ernst-August-Galerie, direkt in den Bahnhof. Das ist eine konkrete Forderung an die Politik: Wir hätten ja die Möglichkeiten, so etwas zu regulieren. Es will nur keiner regulieren, weil offensichtlich mit wenig Aufwand viel Geld gemacht werden kann.

Jürgen Mayer H. | Ich weiß nicht, ob man jemandem die Schuld zuschieben muss. Das Ganze basiert auf einem Agreement. Die einen produzieren, die anderen konsumieren. Was allerdings bei den Verhandlungen „öffentlicher Raum gegen mehr kommerzielle Nutzung“ herauskommt, ist jedenfalls oft schlechter, als das, was vorher da war. Nehmen wir das Beispiel Kleiner Schlossplatz in Stuttgart. Nachdem dieser bis in die Achtziger Jahre hinein total heruntergewirtschaftet wurde, so dass niemand mehr hin wollte, entstand plötzlich in der Infrastruktur der Sechziger Jahre eine neue Nutzung, extrem cool, hip und lebendig. Genau zu diesem Zeitpunkt wurde der Umwandlungsdruck größer, es hieß, man müsse etwas ändern, der Platz müsse verbessert werden. Seit fünf Jahren gibt es die große Freitreppe und das Kunstmuseum, und oben auf dem Platz die neuen Büroflächen: Alles chic, ein öffentlicher Raum, der sieht aufgeräumt aus, aber es ist nichts mehr los. Da ist ein Kulturbau und trotzdem ist es eine tote Ecke. Vorher war das ein viel lebendigerer Stadtraum. Ich bin vorsichtig, wenn die öffentliche Hand kommt und sich darum kümmert, dass es besser wird. Das Gegenteil ist der Fall: Es werden kontrolliertere Räume.
Michael Braum | Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass wir eine Verantwortung haben, Korridore vorzugeben, in denen eine Entwicklung stattfinden kann. Sehen Sie sich das Überseequartier in Hamburg an. Das ist ein riesiger privater Raum, der da entsteht. Da sind wir mitten in der Diskussion. Wir können uns nicht zurücklehnen und sagen: „Das ist halt eine Entwicklung und da kann man nichts machen.“ Die Diskussion „privater“ öffentlicher Raum ist böse und „öffentlicher“ öffentlicher Raum ist gut, das ist doch die Diskussion aus dem letzten Jahrhundert. Tatsächlich ist es umso wichtiger, sich Gedanken zu machen, wie wir die Auswüchse regeln können. Im Überseequartier gibt es immerhin bereits eine Vorstellung von der Raumfindung und vertraglich festgeschriebene Wegerechte für alle. Die Hafenbecken und all das, was dazwischen war, ist doch da! Das Problem ist, dass sich die öffentliche Hand keine Investitionen mehr leisten kann. Wir haben es in Hamburg mit einem riesigen Investor zu tun, der Stadt spielt.

Hybride Formen des öffentlichen Raums

Blicken wir über die Grenzen, nach Spanien. Herr Mayer, wie ist es möglich, dass ein Großprojekt wie Metropol Parasol in Sevilla entsteht, ein enorm großer öffentlicher Raum, der gleichzeitig Markthalle, Skulptur und Anlaufpunkt für die Touristen werden soll? Sind solche Projekte bei uns gar nicht durchsetzbar, weil die Interessen zu widersprüchlich sind?

Jürgen Mayer H. | Die Vorstellung von dem, was öffentlicher Raum heute sein kann, kann durchaus über gut vorbereitete Wettbewerbe gefunden und muss dann entsprechend disku tiert werden. Das war in Sevilla der Fall. Auch dort handelt es sich übrigens um ein Projekt in Public-Private-Partnership. Die Stadt war Auftraggeber bis zur Baugenehmigung, und anschließend ist es die Baumanagementfirma, die die Hälfte des Projekts finanziert und dann 40 Jahre Zeit hat, daraus Gewinn zu schöpfen. Danach fällt es wieder an die Stadt zurück. Der Platz auf dem Dach etwa kann abgetrennt werden für besondere Veranstaltungen, das archäologische Museum wird gebaut und dann vermietet. Die Stadt zahlt dafür Gebühren. Das Geld für die Markthalle kommt über die Händler herein. Also: Ja, es ist ein öffentlicher Raum, aber einer, der halb bewirtschaftet und halb offener Raum ist – ein Freiraum.

Welches sind die Freiräume des Architekten bei einem solchen Projekt?

Jürgen Mayer H. | Da der Bauherr gleichzeitig auch die Bau­firma ist, sieht die „Macht“ des Architekten komplett anders aus als in der klassischen Situation, wenn man zwischen Bauherr und Baufirma steht. Als Architekt hat man keine Kontrolle über das Budget, weil man davon fern gehalten wird. Teilweise wird man als Planer im Ungewissen gelassen, und es können Dinge entstehen, die man normalerweise nicht durchgehen lassen würde. Als Architekt bleibt einem da nur noch die moderierende Rolle. Und noch etwas: Natürlich wird öffentlicher Raum in Spanien ganz anders gelebt. Man lebt 24 Stunden auf der Straße, zumindest im Sommer. In Deutschland muss man die Attraktoren erst finden, damit die Leute auf die Straße kommen.
Markus Allmann | Ja, es stimmt, einen Konsens, wie der öffentliche Raum aussehen könnte, gibt es nicht. Die Trennung in öffentlich und privat ist längst obsolet. Gerade bei diesem Thema haben wir eine enorme Hybridisierung in der Architektur, in ihrer prozessualen Abwicklung und in ihrer Wahrnehmung. Das fängt mit der Frage an: Was ist Außenraum, was ist Zwischenraum, was ist Innenraum? Ich sehe da für Architekten durchaus auch eine große Chance. Wir können die Grenzen neu bestimmen. Wenn wir als Morphologen an die Sache herangehen und die Grenzen begreifen lernen, dann handelt es sich nicht mehr um Innen- und Außenraum, um privaten und öffentlichen Raum, sondern alles fließt.

Geben Sie ein Beispiel.

Markus Allmann | Bei  unserer Sporthalle in Tübingen haben wir das Gebäude über den Anschluss des Außenraums an das Gebäude finanziert. Die Wände sind Außenräume: Eine Wand ist eine Kletterwand, die andere ist eine Wand, an der man mit Skateboards fahren kann. Die Kletterwand wurde vom Alpenverein Tübingen bezahlt, damit haben wir die Fassade finanziert. Die Rückseite ist von den Stadtwerken Tübingen bezahlt und wird als Photovoltaikwand genutzt.

Wer entwickelt solche Konzepte?

Markus Allmann | Das Konzept entwickelt der Architekt. Wir sagen der Stadt: Ihr habt wenig Geld, tut doch was, macht doch die Fassade zum bespielbaren Außenraum, dann kriegt ihr sie finanziert. Ich habe das Gefühl, dass wir als Architekten auf diese Weise sehr viel mehr Spielräume haben, als wenn man so tut, als ob das Haus immer an der Wand zu Ende ist,  wie das ja  – vor allem in Berlin – so häufig geschieht. Wir können den Raum sehr viel weiter denken.

Ist das der heutige Gegensatz: hybride Konzepte auf der einen Seite und traditionelle Formen von public space auf der anderen? Herr Braum, Sie haben zuvor die HafenCity angesprochen. Von den räumlichen Großstrukturen und den harten Plätzen, die es ursprünglich dort gab, also von der gestalterischen Diktion des industriellen Hafens, ist nicht mehr viel zu sehen. Übrig geblieben ist eine tourismustaugliche Version des mediterranen Vorbildes.

Michael Braum | Deswegen haben wir in unsere Beispielsammlung ja auch Bremerhaven aufgenommen. Was glauben Sie, warum da die HafenCity nicht drin ist? Das hat damit zu tun, dass sich in Bremerhaven der Ort tatsächlich aus seiner Umgebung entwickelt.
Suche nach Alltagsqualität

Wir sprechen über strategische Projekte und über Leitprojekte in den Innenstädten. Wie sieht es mit dem Freiraum dort aus, wo Planung und Finanzen gar nicht mehr hinreichen, an den Rändern der Stadt?

Michael Braum | Das ist ein wichtiger Punkt. Am Neuen Wall in Hamburg etwa, da ist eigentlich jeder Euro verschwendet, den die öffentliche Hand ausgibt. Das läuft von selbst. Die öffentliche Hand muss ihre Vorbildfunktion an den Stellen ausüben, wo die wirklichen Probleme sind. In Stadtvierteln, die nicht einmal mehr instand gehalten werden.
 
Stichwort Alltagsqualität. Man kann beobachten, dass viele öffentliche Räume verwahrlosen. Wer es sich leisten kann, geht woanders hin. Man kann den Schwarzen Peter nun hin  und her schieben zwischen den Anwohnern, der Kommune und sonstigen Beteiligten. Aber was brauchen wir? Mehr Bundesprogramme, mehr Geld?

Stefan Rettich | In Leipzig ist seit Jahren in dieser Hinsicht eine intelligente Strategie gefahren worden. Die öffentlichen Räume funktionieren gut. Das hängt damit zusammen, dass die Probleme der Schrumpfung und der Perforation zu Themen des öffentlichen Raums gemacht wurde. Die Stadt hat Ankerprojekte in verwahrloste Gebiete geworfen, oft entlang  von Bahnanlagen, und versucht, diese über Wegesysteme zu vernetzen. An dieses Wegesystem gliedern sich dann weitere temporäre Freiräume an, die durch Gestattungsverträge zustande kommen. Sei es dort, wo etwas abgerissen wurde, sei es, dass ein Eigentümer überredet wurde, einen temporären Freiraum zuzulassen. Auf diese Weise sind Grenzbereiche zwischen privat und öffentlich entstanden. Damit hat die Stadt es geschafft, dass die eigentlich stark belasteten Gebiete ein positives Image bekommen. Durch den aktiven Umgang mit dem Problem hat sich auch ein Wahrnehmungswandel eingestellt. Ich glaube, dass die Leute die Räume nicht als hässlich empfinden, auch wenn da ein paar Häuser weg sind und es etwas verstrüppt ist. Klar ist aber auch: Die Stadt hat nur die Mittel, einige wenige Schwerpunkte zu setzen. Der Rest ist Plasma.

Markus Allmann | In München haben wir mit der „Inwertsetzung“ des öffentlichen Raums ein Luxusproblem. Wenn ein Gebiet neu entwickelt wird, dann ist der Park meist schon ganz zu Anfang da, er wird ausgerollt wie ein Freiraumteppich. Da finden sich dann alle Elemente, die Bäumchen und die Wege, aber es ist noch kein einziges Haus da. Es ist eine ganz pittoreske Situation, dass ein komplett idealisierter, fast surrealer Freiraum, perfekt geplant und ausgeführt, auf einmal da liegt und erst dann die Bebauung nachzieht. So ehrenwert der Versuch ist, es gibt in jüngster Zeit immer häufiger die paradoxe Situation, dass Häuser von minderer Qualität diesen Freiraum kontaminieren.

Mehr Partizipation?

Neben der Planung „top down“ gibt es aber auch vermehrt partizipative Ansätze.

Markus Allmann | Einwand! Da bin ich skeptisch. Dieses Partizipative – auch in der Architektur ist das ja inzwischen ganz beliebt – führt nur dazu, dass am Ende ein opportunes Mittelmaß zustande kommt. Die Gefahr ist groß bei der Partizipation, dass jede Eigenart gebrochen wird. Das heißt ja nicht, dass man jetzt für Diktatoren und Potentaten planen möchte. Aber ich glaube, dass ein Projekt wie Metropol Parasol unter partizipativen Umständen gar nicht zustande kommen könnte.
Stefan Rettich | Ich gebe Ihnen in einem Punkt Recht: Partizipation ist ein schmaler Grat. Aber in Hardcore-Schrumpfungsgebieten, in denen man gar nicht weiß, welchen öffentlichen Raum man überhaupt entwickeln und anbieten soll, geht es nun mal nicht anders. Ohne nachzufragen kommt man dort nicht weiter: Oft entstehen auf temporären Freiflächen Dinge, die einfach niemand braucht und über die man sich nur aufregen kann. Der Klassiker ist ein Baum und eine Bank an einem Ort, den niemand nutzt. Da wird öffentlicher Raum zum subventionierten Hundeklo. Viel wichtiger ist es, den Sozialraum und die sozialen Netze ausfindig zu machen, an die man weiter knüpfen kann. Den Raum kann man dann darum herum bauen. Im Zentrum sehen wir Überlegungen wie die von Martina Löw: „Welche Gesellschaft benötigt welchen Freiraum als ihr Fundament?“ Aufgrund derartiger Fragen konnten wir am Stadtrand von Magdeburg, in einem alten Ortskern, der zu achtzig Prozent leer steht, eine Freiluftbibliothek realisieren. Es gibt dort jetzt 20.000 Bücher, zusammengetragen von den Bewohnern. Ohne Partizipation wäre das nie zustande gekommen.

Sie sprechen von spezifischen Bedürfnissen, aber lassen sich Qualitäten nicht auch allgemeiner ausmachen? Die Stadt Hannover etwa hat bei einer Untersuchung herausgefunden, dass 80 der 260 städtischen Plätze überhaupt nicht mehr brauchbar sind. Dann wurde ein Programm mit drei Prinzipien aufgelegt: Aufräumen! Ordnen! Weiterbauen! Also das Gebüsch weghauen, Lichtschneisen schlagen, die Plätze wieder für alle zugänglich machen. Ist es das, was wir brauchen? Einfache Programme, so einfach, dass sie in den Debatten durchrutschen?

Michael Braum | Am hannoverschen Stadtplatzprogramm kann man das Dilemma ganz gut erläutern. Ich finde den Ansatz auf der einen Seite ausgesprochen gut, weil er in die Breite geht. Auf der anderen Seite hat man sich dort Schwierigkeiten eingehandelt, weil dieses Programm ein ganz explizit partizipatives war. Man könnte auch böse sein und sagen, da haben die Anrainer einen Kompromiss ausgehandelt und nutzbare Räume für sich selber bekommen. Wir brauchen eher Verhandlungen mit unterschiedlichen Personen. Partizipation bedeutet oft: Alibiveranstaltungen, auf denen jeder etwas sagen darf, und am Ende kommt etwas raus, was den minimalen Konsens darstellt. Neben der unbestrittenen Kompetenz des Nutzenden gibt es die Gestaltungskompetenz. Die sollte bei denen bleiben, die das gelernt haben. Sonst geht es meistens in eine absolute Beliebigkeit und Individualisierung rein.
Markus Allmann | Ich finde, man soll nur die Regeln aufstellen und vielleicht noch den Ball stellen, aber das Spielen anderen überlassen: den Akteuren, denen der Raum auch gewidmet ist. Für mich ist es ein Missverständnis, dass man den öffentlichen Raum durchgestalten kann. Wir überschätzen uns in dem, was wir mit der Gestaltung erreichen können. Nur leider fängt das Dilemma bereits mit den technischen Anforderungen an, mit denen wir an die Planung herangehen.
 
Sinnlose Optimierung? Verkehr und Freiraum
 
Michael Braum | Nehmen wir eine bestehende Straße, von der alle sagen könnten: Die ist ganz gut so. Aber wie steht es mit der Sicherheit der Fahrradfahrer? Dann kommt einer und malt mit roter Farbe einen Radweg rein. Dann kommt ein anderer mit pflegeleichten Betonplatten und haut einen Gehweg rein. Dann gibt es eine weitere Planung für zweispurige Straßen mit separatem Rechts- oder Linksabbieger. Und dann kommt noch einer mit dem ÖPNV und haut noch eine Straßenbahn rein. Die Straße hat am Ende einen Querschnitt von 45 Metern und ist ein perfektes Abbild des Planungsdenkens, das bloß noch Anforderungen realisiert und optimiert. Von wegen shared space! Der funktioniert vielleicht in der Schweiz und in schwäbischen oder hessischen Kleinstädten. Aber dort, wo der Bär tobt, wie etwa am Limbecker Platz, das ist doch unglaublich, was wir da realisieren!

Jürgen Mayer H. | Fragen wie shared space gibt es aber doch seit mindestens zehn Jahren. Ich wundere mich, warum das jetzt eine aktuelle Debatte sein soll.
Markus Allmann | Dort, wo die Frage der Mobilität den öffentlichen Raum schneidet, herrscht Stillstand. Wie man die Frage der Makro- und der Mikromobilität aushandelt, das wird eine der größten Anforderungen der nächsten zwanzig Jahre sein. Es ist klar, dass unsere Städte immer noch auf Makromobilität ausgerichtet sind, und die Mikromobilität bloß in Inseln gedacht wird. In diesem Zusammenhang fällt mir der Bellevueplatz in Zürich ein, auf dem mehrere Straßenbahnen kreuz und quer aneinander vorbei fahren, dann gibt es diese tankstellenartige Haltestelle mit dem ausschwingenden Dach in der Mitte, ein wunderbarer Platz. Ich erinnere mich an den Vortrag eines Designers, dessen Ziel es war, alle Oberleitungen wegzubekommen und aufzuräumen. Ich dachte: Es war wirklich schön, wie sich die Leitungen gekreuzt haben, wie Spuren im Himmel. Jetzt sind das Elemente, die man in den Griff bekommen und verschwinden lassen will. Warum eigentlich?
 
In zehn Jahren, so die Prognose, surfen wir mit Elektrorollern durch die Stadt und haben den Verkehr domestiziert. Was wird aus den großen Verkehrsbauten? Hier an der Wand hängt ein Foto der Hochbahnstraße in Düsseldorf: der Tausendfüßler von Friedrich Tamms, ein Bauwerk mit großen architektonische Qualitäten. Bei dem städtebaulichen Wettbewerb war es freigestellt, die Straße zu erhalten. Selbstver-ständlich hat sich ein Entwurf durchgesetzt, der den Abriss vorsieht! Weiterbauen und ein solches Bauwerk mit öffentli-chen Qualitäten ausstatten, wie es etwa in den Niederlanden bei der Autobahnunterbauung in Zaanstad realisiert wurde, stößt bei uns auf enorme Schwierigkeiten. Warum?

Stefan Rettich | Manchmal gelingt es auch. Als Leipzig in die Olympiabewerbung ging, gab es auf einmal horizontale Verwaltungsstrukturen. Da haben sogar die Verkehrsplaner angefangen, räumlich zu denken, das machen die sonst gar nicht.
Michael Braum | Einige wenige Beispiele gibt es, wie die Neue Mitte in Ulm. Man kann sich möglicherweise über die Architektur streiten. Aber da gibt es die Hauptverkehrsstraße mit der neuen Tiefgarage, ein Raum, der den Zusatz „öffentlich“ wirklich verdient. Das ist auf einmal wieder ein Stück Stadt geworden.
Jürgen Mayer H. | Es liegt auch daran: Im Moment ist in der Diskussion noch eine Generation federführend, die sehr stark unter einem Verlust leidet und eher die Vision hat, die sich an Heilen und Reparieren orientiert, als einfach mit dem Bestehenden weiterzubauen. Ich kann für mich sagen, ich empfinde die Städte mit ihren Infrastrukturen und ihren fragmentierten Räumen jedenfalls nicht als Verlust. Vielleicht ist da ein Generationswechsel notwendig: Um den Blick nach vorne wieder zu öffnen, um von dem Verlustgefühl weg zu kommen in Richtung Gewinngefühl.

Breitscheidplatz und Straßenbahn

Sie alle sind viel unterwegs. Nennen Sie uns einen öffentlichen Raum, der Sie in letzter Zeit beeindruckt hat.

Markus Allmann | Der Freiraum, der um dieses ansonsten schwierige Musée du Quai Branly in Paris entstanden ist. Der ist so bizarr und kurios, dass er für mich unheimlich eindrücklich ist. Hinter eine Glasscheibe eine fast schon virtuelle Welt zu setzen und mit dem Gebäude zu verweben, das ist ein Umgang mit Freiraum, den ich fast schon als paradox empfinde. Das Gebäude tritt vollkommen zurück.

Stefan Rettich | Ich interessiere mich sehr für Mikroarchitekturen, die im öffentlichen Raum politisch einen Stachel setzen. Eines der interessantesten Beispiele ist die Skulptur Stairway to Heaven von Didier Faustino im portugiesischen Castelo Branco. Eine freistehende Betontreppe mündet in ei-nen umzäunten Ausguckraum mit Basketballkorb, den man allein betreten und dessen Tür man abschließen kann. Man kann im öffentlichem Raum eine Intimität erfahren und ein Zwiegespräch mit sich selber führen. Die Skulptur steht in einer Vorortsiedlung und hat dort extreme Diskussionen hervorgerufen. Es gibt eine Wechselwirkung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit: ein öffentlicher Raum als offenes Territorium mit ein paar Rückzugsräumen.

Jürgen Mayer H. | Ich habe ein Faible für die Berliner Gedächtniskirche und den Breitscheidplatz. Da sitzt eine Institution drauf, deren Gebäude sind so verteilt, dass sie Freiräume anbieten, dass man darum herum gehen kann, und dass sich etwas ankleben kann, wie ein Weihnachtsmarkt oder eine Eislaufbahn. Wie toll dieser Raum funktioniert! Wie hässlich er manchmal ist, aber auch wie schön.

Michael Braum | Der ganze Stadtraum zwischen Breitscheidplatz und Ernst-Reuter-Platz ist auch für mich genial. Wie dieser jetzt aber durch Abriss und Neubau geschunden wird, da blutet mir als jemandem, der für die Baukultur mitverantwortlich zeichnet, das Herz. Ich bin in der Nachkriegsmoderne sozialisiert, in dieser Zeit bin ich groß geworden, ich wohnte in einem entsprechendem Haus, mein Vater war Architekt. Was diese Zeit mit ihren Stadt- und Raummodellen Großartiges gezeigt hat, das wird heute nur selten begriffen; der Umgang damit ist ahistorisch. Ein anderes Beispiel: Egal, ob ich in Bordeaux bin, in Montpellier oder in Nizza – es ist bewundernswert, wie es den Franzosen gelingt, mit Verkehrsinfrastruktur Städtebau zu machen, vor allem mit der Straßenbahn. In Frank­reich fahre ich wie ein Wilder Straßenbahn, hier nicht. Das stimmt mich nachdenklich.

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