Bauwelt

Stadt, Kunst, Leben, Text

Kunstprojekt „2–3 Straßen“

Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin

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Foto: 2-3 Straßen

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Stadt, Kunst, Leben, Text

Kunstprojekt „2–3 Straßen“

Text: Brinkmann, Ulrich, Berlin

Jochen Gerz hatte die Idee, leere Wohnungen ein Jahr lang mietfrei zur Verfügung zu stellen und mitsamt ihren neuen Bewohnern als Ausstellung zu deklarieren. Jetzt liegt ein erstaunliches Dokument dieses Experiments vor, welches die Kunst aus den Museen in einen Alltag versetzen wollte, dessen Protagonisten kulturelle Ansprache nicht unbedingt gewohnt sind.
Die Erinnerung ist noch frisch: Anfang September 2008 widmete sich eine Tagung in Dortmund der Zukunft von Hörde (Heft 36.08). Lange eingeklemmt von zwei Stahlwerken, sah sich der Stadtteil mit deren Stilllegung plötzlich in einer Situ­ation, in der Vieles möglich schien. Doch der Bevölkerung von Hörde blieb wenig Zeit, ihren Phantasien nachzugehen. Kurz nach dem Brachfall präsentierten die Stadtplaner Visionen, um die es auch bei besagter Veranstaltung ging: Phoenix-Ost wird geflutet, so wurde verfügt, Phoenix-West zum Gewerbegebiet umgebaut. Letzter Vortragender an jenem Tag: Jochen Gerz. Der Künstler stellte sein Projekt zum Kulturhauptstadtjahr im Ruhrgebiet vor, für das damals gerade die Bewerbungen eingingen: Rund 100 renovierte Wohnungen in zwei bis drei renovierungsbedürftigen Straßen sollten das Jahr 2010 hindurch mietfrei Interessierten aus aller Welt zur Verfügung stehen und mit ihrer Nachbarschaft als eine Ausstellung fungieren, die das Le­ben in der Stadt zum Gegenstand des Kunstinteresses erhob. Dabei sollten Bewohner und Besucher nicht nur miteinander ins Gespräch kommen, sondern auch über ihre Erlebnisse schreiben, und zwar in eine still vor sich hinwachsende Zentraldatei. Das Ziel: die Kreativität und Autorschaft eines Künstlers an die Gesellschaft zurückzugeben und so Veränderungen anzustoßen – bei den Altbewohnern, den Zugezogenen und im jeweiligen Quartier. Stadtentwicklung von unten mit Hilfe einer Kunstanstrengung also statt konfektioniertem Totalumbau, Mitmachen statt Konsumieren, Alltag statt Event – die Ratlosigkeit der Stadtplaner war mit Händen greifbar.
Vom personalen Autor zum gesellschaftlichen Wir     
Letztendlich wurden 78 Interessierte zu diesem Experiment zugelassen. Sie waren zwischen 19 und 68 Jahren alt; sie kamen aus der ganzen Bundesrepublik und aus vieler Herren Länder; aus der Schweiz und den Niederlanden, aus Marokko und der Türkei, aus Schweden, Österreich, Italien, aus der Slowakei, Russland und Japan. Die Offenheit und Instabilität ihres „Werks“, das die gewohnten Grenzen von Autor, Werk und Betrachter unauflöslich und jeden Tag aufs Neue verflüssigte, hat nach dem Ende der „Ausstellung“ nun ein greifbares, klar begrenztes und zugleich uferloses Objekt hervorgebracht: Den Roman des Jahres. Rund 3000 Seiten Text, von 887 Autoren geschrieben, im Wissen um die anderen und doch ohne Kenntnis ihres Schreibens; ein Text, in dem die Übergänge vom einen Autor zum nächsten nicht durch Absätze, die Ortswechsel von Dortmund nach Duisburg und Mühlheim nicht durch Kapitel, die vergehende Zeit nicht vermessen wird: „Wir sind zu sechst, es ist wohl der erste Eintrag überhaupt, und wir haben der Welt Folgendes zu sagen“, hebt der Text an – welch ein Einstieg! Fesselnd ist die Vielstimmigkeit dieses Buches. Der Chor des Alltags, der sich da erhebt, trägt den Leser mühelos auch über die wenigen unerheblichen Passagen (der Text ist übrigens nicht redigiert worden; gestrichen wurden nur bereits in Blogs publizierte und mithin von außen „beeinflusste“ Passagen). Es gibt treffende Beobachtungen, Persönliches, Politisches, Philosophisches, ja sogar eine Art „Geschichte in der Geschichte“. Der vom Künstler erhoffte Quantensprung vom „Autor-Ich“ zum „Autor-Wir“ ist gelungen. Absehbar allerdings: Wie viele große Werke der experimentellen Literatur dürfte auch dieses Buch oft genannt und wenig gelesen bleiben – gleich bei seiner Vorstellung im April rühmte sich die Leiterin des Duisburger Kulturhauptstadtbüros, das Werk umgehend im Stadtarchiv versenkt zu haben. Dort dürfte es nur noch Wenigen die Freude seiner Lektüre schenken.
Straße – Ausstellung – Buch – Straße
Was bleibt den „2–3 Straßen“ von ihrem Dasein als „Ausstellungsobjekt“? Dass die St. Johann- und die Saarbrücker Straße in Duisburg-Hochfeld, der Hans-Böckler-Platz am Bahnhof von Mülheim, die Dreher-, Dürener, Schlosser- und Oesterholzstraße am Dortmunder Borsigplatz vor einem Gentrifizierungsprozess stehen, wie er andernorts mit der Injektion von Kreativen schon so häufig in Gang gesetzt wurde, ist hier nicht zu erwarten. Dennoch ist das Experiment für die beteiligten Wohnungsgesellschaften gelungen, und wohl auch für die Quartiere: Nicht nur, dass die „Altbewohner“ ihre kostenlos wohnenden neuen Nachbarn akzeptiert haben, rund die Hälfte von jenen will über das Ende des Projekts hinaus bleiben und sich den in der neuen Umgebung gefundenen Aufgaben widmen. In Dortmund etwa wird jetzt eine Mieterzeitung produziert, in Hochfeld ein „Kreatives Adressbuch“. Darin findet sich auch das Café Kasbar in der Heerstraße. „Orientalisch mal anders“ ist das Motto des freundlichen Lokals. Mit veganen Gerichten und Jazzmusik lockt Inhaberin Maike Müller Gäste in ihre eher unwirtliche Umgebung. Auf den Adressführer angesprochen, reagiert sie zunächst irritiert, erinnert sich dann aber doch – und bringt das Wesen von „2–3 Straßen“ beiläufig auf den Punkt: Nein, mehr Gäste habe sie seit dessen Veröffentlichung nicht zu bewirten, aber das könne ja noch kommen: So etwas wirke halt langsam.
Fakten
Architekten Gerz, Jochen, Berlin
aus Bauwelt 20.2011
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