Bauwelt

Lernen von Athen? Eine Spekulation

„Learning from Athens“. Weder in Kassel noch in Athen stieß das documenta-Motto auf Wohlwollen, als Adam Szymczyk es vor drei Jahren bei der Vorstellung der künftigen Ausstellungskonzeption publik machte. In Kassel fürchtete man um die Legitimation als documenta-Standort und reagierte säuerlich. Welches Ziel bezweckt Szymczyk? Wer belehrt hier wen und wer sind eigentlich die Schüler? Viele fühlten sich verschaukelt.

Text: Geipel, Kaye, Berlin

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    Der Architekt und Künstler Andreas Angelidakis sieht Gebäude als eigenständige „Persönlichkeiten“, direkt verknüpft mit der Geschichte der Stadtbewohner.
    Foto: Kaye Geipel

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    Der Architekt und Künstler Andreas Angelidakis sieht Gebäude als eigenständige „Persönlichkeiten“, direkt verknüpft mit der Geschichte der Stadtbewohner.

    Foto: Kaye Geipel

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    In seiner Installation für die documenta beschäftigt er sich mit den Polykatoikia-Strukturen der griechischen Stadt der 50er Jahre.
    Foto: Kaye Geipel

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    In seiner Installation für die documenta beschäftigt er sich mit den Polykatoikia-Strukturen der griechischen Stadt der 50er Jahre.

    Foto: Kaye Geipel

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    Der Dichter und spätere ­ Filmemacher Jonas Mekas schreibt im August 1947 in sein Tagebuch: „Etwas ist gut an Kassel: die ausgezeichnet sortierte amerikanische Bibliothek.“
    Foto: Adolfas Mekas „Jonas Mekas, Overlooking Kassel-Mattenberg D.P.Camp“, 1948, gelatin silver print, 43,2 x 55,9 cm

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    Der Dichter und spätere ­ Filmemacher Jonas Mekas schreibt im August 1947 in sein Tagebuch: „Etwas ist gut an Kassel: die ausgezeichnet sortierte amerikanische Bibliothek.“

    Foto: Adolfas Mekas „Jonas Mekas, Overlooking Kassel-Mattenberg D.P.Camp“, 1948, gelatin silver print, 43,2 x 55,9 cm

Lernen von Athen? Eine Spekulation

„Learning from Athens“. Weder in Kassel noch in Athen stieß das documenta-Motto auf Wohlwollen, als Adam Szymczyk es vor drei Jahren bei der Vorstellung der künftigen Ausstellungskonzeption publik machte. In Kassel fürchtete man um die Legitimation als documenta-Standort und reagierte säuerlich. Welches Ziel bezweckt Szymczyk? Wer belehrt hier wen und wer sind eigentlich die Schüler? Viele fühlten sich verschaukelt.

Text: Geipel, Kaye, Berlin

In Athen wurde das documenta-Motto „Learning from Athens“ als raffinierte Einmischung verstanden, um die gesellschaftspolitische Deutungshoheit zu verschleiern, die die nach Athen exportierte deutsche Kunstausstellung beansprucht. Wissen ist Macht, und es schien, als exportiere die documenta mit der Kunst auch noch ein linkes Lehrprogramm. Sicher ist eines: Zuerst erschien die Frage im akademischen Kontext. Adam Szymczyk trug sie im Oktober 2014 in der Kasseler Kunsthochschule vor, jenem extravagant spätmodernen Bau von Paul Friedrich Posenenske. Der ein Jahr zuvor gekürte documenta-Chef erläuterte es so: Lernen funktioniere heute über geografische und men­tale Verschiebungen und es gehe ihm darum, sich von hegemonialen Ansprüchen zu verabschieden. Also auch von dem Anspruch, der Kassel alle fünf Jahren zum künstlerischen Nabel der Welt macht.
Welches Athen?
Welche Stadt ist eigentlich gemeint, von deren Entwicklung etwas gelernt werden soll? Ist es das ökonomisch „gefesselte“ Athen, das von den Kreditverpflichtungen okkupierte Athen? Das Athen der vielen Flüchtlinge, dessen Aufnahmebereitschaft in vielen documenta-Projekten in Athen und Kassel thematisiert wird – wie zum Beispiel von Rick Lowe, der die vielen Nachbarschaftsinitiativen zur Flüchtlingshilfe am Athener Victoria-Platz sichtbar macht? Oder ist das Athen der akuten Immo­bilien­krise gemeint, dem die über Jahrzehnte hinweg bewunderte Athener Wohnstadt zum Opfer zu fallen droht – weil der Immobilienwert der Häuser abgestürzt ist und sich viele Besitzer ihren Unterhalt längst nicht mehr leisten können. Umstände der aktuellen Krise, die die Schweizer Künstlerin Maria Eichhorn im Kauf eines Athener Hauses vor Augen führt, das sie im Rahmen der documenta 14 in den Status einer „unowned property“ überführt. Oder ist es jener Untergrund der Stadt, die antiken Ruinen, von denen der griechische Architekt und documenta-Künstler Aristide Antonas meint, sie seien das einzige, was der Stadt und ihren Bewohnern geblieben sei? Dabei fußt gerade die Antikenrezeption auf dem hegemonialen Verhältnis zwischen Deutschland und Griechenland, der den Klassizismus des 19. Jahrhunderts und seinen Glauben an zeitüberdauernde Formen der Architektur prägte.
Den „Dort-liegt-die-Wiege-Blick“ eines fragwürdigen Panhellenismus zeigt die documenta in Kassel im Neuen Museum. Dort hängen peinliche Inzenierungen der Akropolis, gemalt von Louis Gurlitt, dem Großvater des Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt, neben einem städtebaulichen Entwurf für die Neustadt von Athen von 1833 von Leo von Klenze. Im 20 Jahr­hundert folgt dann eine zweite, ebenso wirksame Mythologisierung der griechischen Architektur, die das Konzept der funktionalistischen Stadt ­geprägt hat: im Rückgriff auf eine Moderne der reinen Form, wie sie von Le Corbusier und den ersten CIAM-Konferenzen propagiert wurde, um dann den formalen Purismus des sozialen Städtebaus der europäischen Nachkriegsstadtentwicklung zu bestimmen.
In Athen und Kassel sind jetzt Arbeiten von Reiner Oldendorf zu sehen, der sich auf die legendäre Schiffsreise der Architekten der CIAM-4-Konferenz von Marseille nach Athen bezieht und sie in die persönliche Mythologie einer Reise von Athen nach Kassel überträgt, mit dem Titel „Schiffbruch“. Das lässt sich als nachträgliche Wiedergutmachung der damaligen CIAM-Debatte verstehen, in der die griechische Stadt so gut wie keine ­Rolle spielte, die antike Architektur Athens mitsamt den ebenfalls an­gefahrenen Inseln Aegina, Seriphos, Santorin und Ios als Kulisse für die ­Legitimation der funktionalistischen Stadt verwendet wurde.1
50er Jahre
Das moderne Athen, wie wir es heute kennen, entstand in den 50er und 60er Jahren. Einer der interessantesten documenta-Beiträge stammt vom griechischen Künstler und Architekten Andreas Angelidakis, der in seiner Installation in einer Wohnung nahe des Athener Polytechnikums die Mentalitätsgeschichte der Athener Stadtentwicklung der 5oer Jahre freilegt. Der Architekt verweist auf die enorm erfolgreiche und gleichzeitig „personifizierte“ Rolle ausbaubarer Stahlbetonstrukturen, die in der Art eines „Maison Dom-Ino“ zu einem universalen Stadthausmodell wurden, das immer auch als Altersvorsorge für die Eigentümerfamilien diente. Während des sprunghaften Wachstums der Nachkriegszeit entstand damit jene urbane Polykatoikia-Struktur von Athen, die auch deswegen vorbildlich ist, weil sie die Ökonomie des Städtebaus in die Verantwortung vieler privater Eigentümer stellte, die in kleinteiligem Maßstab und abgestuften Ausbauintervallen Großstadt bauen konnten (Heft 28.2004). Das System erwies sich als flexibel, familiengerecht und anpassungsfähig: sowohl für die Produktion des kleinen städtischen Handwerks als auch als Aufnahmeraum für Flüchtlinge. Baurechtlich kontrolliert wurde das flexible Stadtwachstum – das in den letzten Jahren an vielen Universitäten („Learning from Athens“) untersucht wurde – kaum, es reichten grobe Vorgaben. Auch dieses kleinteilige System ist von der Krise bedroht, weil die Hauspreise in Athen ins Bodenlose gefallen sind.
Stadt für alle
Auf der Rückfahrt von der documenta, im Zug von Kassel nach Berlin, werde ich im Speisewagen angesprochen, weil ich neben Kassel auch die Karte von Athen vor mir liegen habe: „Muss man auch nach Athen fahren, um zu verstehen was die documenta will?“ Manche Arbeiten erschließen sich ­tatsächlich erst durch den parallelen Blick auf beide Städte und ihren vermeintlich wertlosen städtischen Kontext. Dazu zählen die leeren Gebäude, die von der Immobilienökonomie als Abfall deklariert werden, um an ihrer Stelle Neubauten zu errichten und diese mit Gewinn in den Verwertungszyklus zurückzuwerfen. Dazu gehört in Athen die Frage nach der Zukunft der innerstädtischen Räume, wie dies etwa die Arbeit von AREA um den Victoria Square thematisiert. Dazu gehört aber auch die Wahl der Standorte selbst, wie etwa die Bespielung der ehemaligen Hauptpost in Kassel: Selbst wenn die Zusammenstellung der Arbeiten in den großen Verteilerhallen, in denen früher Briefe und Pakete sortiert wurden, etwas zusammengerümpelt wirkt, so macht diese architektonisch nicht besonders herausragende Halle im Rahmen der documenta doch eine Aussage. Die Stadt lässt sich auch im Ansteigen der Kasseler Immobilienpreise nicht mit einigen digitalen Visualisierungen in eine ökologisch vorbildliche, mobile und perfekt leistungsfähige Zukunft überführen. Die documenta lenkt den Blick auf die leiseren, aber ständigen Transformationen der Stadt und fragt ihre Bewohner: Was wollt und könnt ihr mit diesen Orten weiter tun? Der Kasseler Stadtbaurat Christof Nolda nennt dies (Seite 63) ein Bewusst­sein für die „Erinnerungen an Veränderungen“, für das die documenta alle fünf Jahre einstehen würde. Eine Hervorhebung, die sich in diesem Jahr von Kassel bis nach Athen ausdehnt?
Verwandschaften. Jonas Mekas blickt auf Kassel
Wie sinnvoll ist da die Gegenüberstellung zweier Städte, die man ob ihrer ungleichen Problemlagen nur mühsam als Schwesterstädte bezeichnen kann? Die Nachkriegszeit bleibt eine Art gemeinsame Utopie dieser Doppel-documenta, und sie macht deren rasante urbanen Veränderungsprozesse sichtbar, in dem sie ihre Zeitzeugen – teilnehmende Künstler, aber auch Bewohner und Flüchtlinge – entweder zeigt oder zu Wort kommen lässt.
Auffallend viele Künstler der d14 sind vor dem zweiten Weltkrieg geboren und beschäftigen sich mit der Nachkriegszeit. Eine dieser beeindruckenden Retrospektiven sind die Fotografien des New Yorker Filmemacher ­Jonas Mekas. In Litauen geboren, war Mekas 1947 mit seinem Bruder in Baracken für „displaced persons“ im Kasseler Stadtteil Mattenberg untergebracht. Ein Bild zeigt ihn, wie er auf einer Wiese sitzt und auf die Stadt blickt. „Wir haben keine Wahl“, schreibt er damals2, „als herumzusitzen und nachzudenken, was zu tun ist. Eine Sache ist gut an Kassel: Es gibt hier eine ausgezeichnete amerikanische Bibliothek.“ Dieser Satz ist mehr als aktuell. 70 Jahre später werden Mekas Bilder im Bali-Kino, einem der documenta-Ausstellungsorte am Hauptbahnhof, gezeigt.
Die Reformulierung der Stadt in der Nachkriegszeit bleibt ein gemein­samer Fixpunkt, der die Künstler in Athen und in Kassel beschäftigt: Das Wiederaufbaukonzept von Kassel und die in seiner Architektur sichtbare Zielsetzung nach gleichen Wohn- und Lebensbedingungen ist im heutigen Stadtbild von Kassel deutlicher spürbar als in vielen anderen deutschen Städten. Hier liegt auch für die Kunst eine Herausforderung, der Verwandschaft zum dreimal größeren Athen nachzuspüren, das mit seiner Polykatoikia-Struktur exemplarisch für eine andere, aber thematisch vergleichbare Form der Nachkriegsstadt steht. Gelernt werden kann von den künstlerischen Arbeiten, die den Blick auf die nach wie vor gültigen Grundlagen einer „Stadt für alle“ legen und die mit ihr verknüpften Hoffnungen und Enttäuschungen wieder ins Zentrum der Debatte rücken. Das ist kein geringes Anliegen.
1 Atlas of the Functional City. CIAM 4 and Comparative Urban Analysis
Herausgegeben von Evelien van Es, Gregor Harbusch, Bruno Maurer, Muriel Pérez, Kees Sommer, Daniel Weiss
THOT Publishers, gta Verlag Zürich 2014
ISBN 978 90 6868 648 7
2 Ich hatte keinen Ort. Tagebücher 1944 – 1955
von Jonas Mekas
Spector Books, Leipzig, Juni 2017
ISBN 978 39 5905 147 7

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