Bauwelt

Exil Europa

Die Flüchtlingsfrage hat Europa verändert. 2016 wurden Grenzen geschlossen und Transitrouten versperrt. Die EU findet bis heute keine Antwort auf die Frage nach einer gerechten Verteilung von Flüchtlingen, stattdessen zahlt sie der Türkei Milliarden. Aber auch das ist Europa: Viele Städte handeln mit pragmatischer Offenheit, Freiwillige engagieren sich. Eine Reise durch einen Kontinent voller Widersprüche

Text: Kleilein, Doris, Berlin; Meyer, Friederike, Berlin

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    Fluchtwege, Grenzen und Zäune in Europa Ende 2016
    Grafik: Deniz Keskin

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    Fluchtwege, Grenzen und Zäune in Europa Ende 2016

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    Asylanträge Europa 2016
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    Europa zwischen Engagement und Abschottung: Die Beiträge dieser Ausgabe führen an neun Orte
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    Europa zwischen Engagement und Abschottung: Die Beiträge dieser Ausgabe führen an neun Orte

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Exil Europa

Die Flüchtlingsfrage hat Europa verändert. 2016 wurden Grenzen geschlossen und Transitrouten versperrt. Die EU findet bis heute keine Antwort auf die Frage nach einer gerechten Verteilung von Flüchtlingen, stattdessen zahlt sie der Türkei Milliarden. Aber auch das ist Europa: Viele Städte handeln mit pragmatischer Offenheit, Freiwillige engagieren sich. Eine Reise durch einen Kontinent voller Widersprüche

Text: Kleilein, Doris, Berlin; Meyer, Friederike, Berlin

In diesem Jahr sind deutlich weniger Flüchtlinge in Europa angekommen als 2015. Doch die Flüchtlingspolitik beherrscht weiterhin die öffentliche Debatte. Ein Teil der Gesellschaft empfindet Flucht und Migration als Bedrohung, ein anderer Teil erkennt die Chancen – und die Verpflichtung zu helfen und zu teilen. Viele Länder der EU schotten sich ab, rechtspopulistische Parteien haben Zulauf. Exil Europa? Ein paar Fakten vorneweg:
1. Nur wenige der mittlerweile 65 Millionen Flüchtlinge weltweit kommen in Europa an. Neun von zehn Flüchtlingen leben in Entwicklungsländern.
2. Der legale Weg nach Europa ist Flüchtlingen weitgehend versperrt. Bislang aufnahmebereite Länder wie Schweden und Deutschland haben 2016 eine Kehrtwende in der Asylpolitik vollzogen. Hardliner wie Ungarn rüsten ihre Grenzanlagen auf.
3. Die meisten EU-Mitgliedsstaaten wehren sich weiterhin gegen eine Umverteilung von Flüchtlingen. Der Plan von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der im September 2015 160.000 Flüchtlinge aus Griechenland, Italien und Ungarn auf Europa verteilen wollte, erscheint utopischer denn je – bis jetzt wurden weniger als 5000 Flüchtlinge umverteilt. Im März hat die EU ein umstrittenes Abkommen mit der Türkei getroffen: Die EU zahlt, die Türkei nimmt die Flüchtlinge auf.
4. Tausende setzen weiterhin ihr Leben bei der Fahrt über das Mittelmeer aufs Spiel – laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) waren es bis zum Redaktionsschluss dieses Hefts 4742 Tote im Jahr 2016.
Städte versus Staaten
Wer 2016 zur Aufnahme von Flüchtlingen in Europa recherchiert, trifft auf ein Phänomen: Während die Staaten in Brüssel an der „Festung Europa“ bauen, senden die Städte andere Signale. „Wir, die Städte Europas, sind bereit, zu einer Stätte der Zuflucht zu werden“ – so beginnt ein offener Brief, der 2015 von den Bürgermeisterinnen von Barcelona und Paris und den Bürgermeistern von Lesbos und Lampedusa unterzeichnet wurde. Mit Unterstützung weiterer spanischer Städte fordern sie die EU-Kommission auf, Verantwortung zu übernehmen und den Ankommenden ihr Recht auf Asyl zu gewähren. Sie kritisieren, dass ein Großteils des Geldes, dass die EU für Flucht und Migration bereitstellt, für die Befestigung der Grenzanlagen ausgegeben wird.
Städte versus Staaten – das mag absurd klingen, folgt aber einer einfachen Logik. Flüchtlinge gehen dorthin, wo sie eine Perspektive finden oder zumindest vermuten. In der Türkei haben Hunderttausende die Lager an der syrischen Grenze verlassen, obgleich sie dort versorgt werden und in Sicherheit sind, und sind in die Städte gezogen. Diese „Urban Refugees“, so die offizielle Bezeichnung des UNHCR, sind ein weltweites Phänomen. Zwischen 60 und 80 Prozent der Flüchtlinge kommen in Städten an und suchen Wohnraum, Arbeit, Infrastruktur und Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe. Die Städte reagieren mit Realpolitik, teils aus Überzeugung, teils aber auch, weil ihnen gar nichts anderes übrig bleibt. Der US-Politologe Benjamin Barber, der im Herbst 2016 das Parlament der Bürgermeister (General Parliament of Mayors/GPM) gegründet hat und seit langem eine „Weltherrschaft der Bürgermeister“ fordert, formuliert es so: „Städte reagieren schneller, konkreter und bürgernäher auf die großen Krisen, ob auf die Gefahren des Klimawandels, auf Migration oder auf die Bedrohung der Sicherheit. Denn Bürgermeister müssen handeln. Und sie tun das unideologisch und pragmatisch.“ Bleibt die Frage, wie weit die Rechte von Kommunen reichen und wie sie gestärkt werden können.
Gespräche, Reportagen und Analysen aus Europa
Mit dieser Stadtbauwelt blicken wir über den deutschen Tellerrand. Wie gehen die Nachbarländer mit dem Thema um? Was passiert an den Rändern Europas, dort, wo sich die Folgen der Abschottungspolitik am deutlichsten zeigen? Räumliche Auswirkungen wie Wohnungspolitik und jüngst entstandene Grenzgeographien haben uns ebenso interessiert wie die informellen Netzwerke der humanitären Hilfe. Wo es möglich war, haben wir die Perspektive gewechselt: Wie beurteilen diejenigen, die nach Europa kommen, ihre zweite Heimat? Die Reise beginnt in Berlin und endet in Istanbul, wo Hunderttausende stranden, die aus dem Nahen Osten und aus afrikanischen Ländern fliehen.
Berlin Um zu verstehen, wie Europa als Exil wahrgenommen wird, haben wir in Berlin mit zwei jungen syrischen Architekten gesprochen. Mada Saleh und Tony Al-Arkan kamen zwar nicht als Flüchtlinge, sondern mit einem Studentenvisum, doch sie kennen die Probleme und Hoffnungen der Syrer in Deutschland. Was Integration für sie bedeutet, welche Erfahrungen sie in Deutschland bei der Arbeitssuche und mit Behörden machen, lesen Sie ab Seite 18.
Paris und Calais Während in der deutschen Architektenschaft seit dem Herbst 2015 über die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen diskutiert wird, scheint das Thema in Frankreich noch gar nicht richtig angekommen zu sein. Im Oktober 2016 wurde in Paris das erste Auffanglager eröffnet, zugleich geht der Staat mit Härte gegen informelle Flüchtlingscamps vor. Wolfgang Kabisch berichtet aus Paris (Seite 24), der Fotograf Jan Lemitz hat eine Langzeitrecherche an der Ärmelkanalküste gemacht, wo sich rund um den Eurotunnel und das informelle Flüchtlingscamp „Dschungel“ in Calais die Konsequenzen europäischer Abschottungspolitik drastisch in die Landschaft einschreiben.
Barcelona und Melilla Zwei Beiträge zu Spanien zeigen die Widersprüche, die es innerhalb einzelner Länder gibt: Während sich Barcelona als „Stadt der Flüchtlinge“ präsentiert (Seite 36) und für Offenheit wirbt, sterben an der spanisch-marokkanischen Grenze Flüchtlinge beim Versuch, die hochgerüstete Grenzanlage zu überqueren. Der preisgekrönte Dokumentarfilm „Les Sauteurs – Those Who Jump“, den die Filmemacher selbst ab Seite 40 vorstellen, gibt Einblick in eine Gemeinschaft von Flüchtlingen am Rand der EU und wagt einen Perspektivwechsel, indem er dem aus Mali geflohenen Abou Bakar Sidibé die Kamera übergibt.
Malmö Keine Stadt in Europa hat so viele unbegleitete Kinder und Jugendliche aufgenommen wie die ehemalige Industriemetropole am Öresund. Rasmus Waern berichtet von den Versuchen, Stadtentwicklung und Intergration zu verbinden – um Flüchtlinge auf den Arbeitsmarkt zu bringen, aber auch, um der schwedischen Mittelschicht ihre Ängste zu nehmen.
Riace Auch am Südrand der EU versucht eine Kommune, mit Flüchtlingen Strategien für aussterbende Dörfer zu entwickeln: In Kalabrien, wo seit Jahrzehnten Flüchtlinge in Booten ankommen, hat ein Dorf den Ankommenden leerstehende Häuser zur Verfügung gestellt. Ob es Riace auf Dauer gelingen wird, die Zugezogenen zu halten, oder ob es ein Transitort für die Weiterreise nach Norden bleibt, untersucht Luca De Giorgi.
Lesbos Auf der griechischen Insel nahe der türkischen Küste kulminiert die europäische Abschottungspolitik: Internationale Hilfsorganisationen und lokale Freiwillige organisieren die Ankunft und Unterbringung von Flüchtlingen. Caetana Nicanor berichtet von Humanitäts-Tourismus und Abschiebelagern, eine Gruppe junger Wissenschaftler hat die Infrastruktur der humanitären Hilfe akribisch kartiert und kommt zu dem Schluss, dass lokale Freiwillige mit minimalen Budgets oft flexibler rea­gieren und schneller helfen können als kapitalstarke NGOs.
Istanbul Als Torwächter Europas hat die Türkei mehr als drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen, ein Großteil davon ist seit 2012 aus dem Kriegsland Syrien gekommen. Martina Priessner berichtet über die „Urban Refugees“, die in Istanbul bleiben müssen, weil ihnen der Weg nach Euro­pa versperrt ist.

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