Bauwelt

Ehemalige Sehbehindertenschule


Im ungenutzten Baudenkmal


Text: Brandenburger, Dietmar, Hannover


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    Foto: Olaf Mahlstedt

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Die ehemalige Sehbehindertenschule in Hannovers Südstadt stand leer, aber unter Denkmalschutz. Doch in die Klassen­räume passten Wohnungen, Bungalows in die Bibliothek, town houses in die Turnhalle. MOSAIK Architekten haben die individuellen Wohnwünsche und den Charakter der Architektur zusammengeführt.
Zur 1. Baufachmesse „Constructa“ 1951 entstand in Hannovers zerstörter Südstadt ein genossenschaftlich getragenes Quartier mit 500 Wohnungen. Als „Constructa-Block“ wurde die von Gutschow / Spengelin, Kraemer und Seewald geplante Anlage zwischen Hildesheimer Straße, Krausen- und Bandelstraße oft und ausführlich veröffentlicht. Warum dabei die Bezeichnung „Block“ verwendet wurde, ist nicht ganz nachvollziehbar, handelt es sich bei ihr doch um eine Bebauung im Sinne der gegliederten und aufgelockerten Stadtbauideologie; das missverständliche Etikett hängt ihr allerdings bis heute an. Als östlichen Abschluss dieses „Blocks“ baute der hannoversche Architekt Friedrich Lindau (1915–2007) zehn Jahre später an der Schlägerstraße eine Schule für Sehbehinderte; für die damalige Zeit eine ungewöhnliche Bauaufgabe. Der Schule angegliedert war eine Stadtteilbibliothek. Jetzt wurde der Gebäudekomplex zu einer Wohnanlage umgestaltet.
Lindaus Entwurf zeigt für diese exponierte Lage eine städtebaulich eher kraftlose Hybridform zwischen Zeilenbau und Blockrandbebauung. Eine ausgeprägte Ecklösung an der Straßenkreuzung nach Art der Südstadttradition wurde ebenso vermieden wie eine Beziehung zur bestehenden Bebauung. Die Diskussionen um einen „gebundenen Kontrast“, also einer Symbiose zwischen Kriegsruinen und daneben entstehendem Neuaufbau, setzten in Hannover erst kurz danach mit Dieter Oesterlens Landtagsgebäude ein. So betonte die Schule zwar ihre Sonderstellung als „Bildungsinsel“, ihre baulich integrierende Funktion im Stadtteil war damit aber vertan. Der Architekt selbst sprach von einer „kompakten“ Anlage. Aus heutiger Sicht kommt man aber nicht umhin festzustellen, dass es sich um ein weitläufiges, nach Funktionen ablesbar „zergliedertes“ Gebäude handelt.
Die Anlage wurde um einen Pausenhof entwickelt, zu dem sich die eingeschossige Stadtteilbibliothek entlang der Krausenstraße, der dreigeschossige Klassentrakt an der Schlägerstraße und die Turnhalle orientieren; die Haupterschließung erfolgte – etwas versteckt – von Süden her über eine ebenfalls eingeschossige Pausenhalle. Die Klassenräume wa­ren nach dem Schuster-Prinzip organisiert, d.h. jeweils zwei Klassen wurden durch ein zwischenliegendes Treppenhaus flurlos erschlossen und von zwei Seiten, Ost und West, belichtet. Neben dem mit weißen und anthrazitfarbenen Keramikplatten verkleideten Klassenriegel zeigen die Turnhalle und die Bibliothek eine rote Backsteinvermauerung mit stirnsei­tigen Mauerscheiben, wohl eine Anspielung auf die zahlreichen Klinkerfassaden der Südstadt. Die Denkmalpflege, die das Gebäude 1990 unter Schutz stellte, urteilte damals: „Als
signifikante Merkmale für den Baustil der 50er Jahre gelten die kubischen Baukörper mit ihren flachen Dächern und mit Mauerscheiben geschlossenen Giebelscheiben bei gleichzeitig großflächiger Öffnung der Längsfronten der Gebäude.“ Das Mauerwerk übrigens ist ziegelrot verfugt, eine Manier, die Lin­dau von seinem Lehrer Fritz Fischer an der TH Hannover übernahm und der die großen Ziegelflächen ihre einheitliche Wirkung verdanken. Nach Aufgabe des Standorts und der Auslagerung der Schule wurde das Ensemble 2007 von der Stadt zum Verkauf ausgeschrieben. Den Zuschlag erhielt die Bewerbung der Projektentwicklungsgesellschaft „Plan W“ zusammen mit dem Hannoveraner Büro MOSAIK Architekten.
16 Wohnungen sind hier entstanden, zwischen 60 und 170 Quadratmeter groß; sie reichen über ein Geschoss, über deren zwei oder gar drei; dazu drei Büroeinheiten und, als Kompensation für die aufgegebene Stadtteilbibliothek, in der ehemaligen Eingangshalle eine liebevoll detaillierte Kinder- und Jugendbücherei. Das Planungsprozedere war nicht einfach. In rund 60 Sitzungen wurden die individuellen Wünsche der künftigen Eigentümer „verhandelt“, zusammen mit den Architekten und den Fachleuten von „Plan W“ als Moderatoren. Im Laufe dieses Prozesses sprangen einige Interessenten ab, dafür kamen neue hinzu; die Attraktivität des Projekts blieb ungebrochen. Schließlich konnte man die 16 Dabeigebliebenen auf ein finanzielles Engagement verpflichten und das Objekt erwerben.
Bungalow, Spänner, Reihenhaus
Insgesamt bleibt es staunenswert, wie scheinbar mühelos und elegant die „Inkorporation“ der neuen Wohnnutzung in das Baudenkmal gelungen ist. Der Bibliothekstrakt im Norden war von seinem Grundriss her sicher unproblematisch aufzuteilen, auch beim Klassenriegel ist die überwiegende Kongruenz von Schulräumen und Wohnungen festzustellen. Der Um­bau der Turnhalle zu einer dreigeschossigen Reihenhaus­zeile dürfte aber, allein schon wegen der konstruktiven Struktur, Zeit zum Knobeln gebraucht haben. Das erzielte Ergebnis ist jedoch beim Grundriss wie beim Wohnstandard gleichermaßen hoch; hinzu kommen noch die souverän bewältigten Unwägbarkeiten und Eigentümlichkeiten, die sich bei solchen besonderen Umbauten ergeben und den Reiz des Ungewöhnlichen ausmachen.
Stadtteilbibliothek
Die nur erdgeschossigen Wohnungen unterschiedlichsten Zuschnitts werden von Norden über einen Laubengang erschlossen und so zur verkehrsreichen Straße abgeschirmt, außerdem wirkt dieser Raum als Wärmepuffer. Die Wohnungen sind allesamt nach Süden, zum Innenhof, orientiert. Die größte Wohnung ist geschickt um die Ecke erweitert und erhält zusätzlich Licht von Westen. Alle früheren Bibliotheksfenster sind zum Innenhof durch Fenstertüren mit Sonnenschutzverglasung ersetzt worden.
Klassenriegel
Die Wohnungen in den Obergeschossen entsprechen jeweils einem bzw. zwei nebeneinander liegenden Klassenräumen. Nass-und Nebenräume wurden auf die Ostseite verlegt. Dort profitieren sie von dem Oberlicht der früheren Klassenräume. Deren Raumhöhe machte auch Niveausprünge mit eingebauten Podesten möglich. Die nördlichste Wohnung im ersten Obergeschoss ist als Maisonette ausgebildet. Der Westfassade sind, verteilt auf zwei Geschosse, fünf Balkone an Stahlseilen vorgehängt, mit Brüstungen aus gelb eingefärbtem Sicherheitsglas. Die Fenster der Westfassade wurden – um einen starren Sonnenschutz zu vermeiden – allesamt mit Sonnenschutzglas ausgestattet. Die beiden Haupttreppenhäuser im Erdgeschoss des ehemaligen Klassenriegels bleiben im Osten durch einen bestehenden Laubengang verbunden, der auch hier als Puffer wirkt. Über die Eingänge zu den Treppenhallen erfolgt auch die Erschließung des Riegels. Die südliche Treppenhalle hat einen Durchstich zum Innenhof erhalten. Die drei Wohnungen im Erdgeschoss sind mit kleinen Patios „perforiert“. Es sind dies die Reste längsrechteckiger Atrien aus der „Schulzeit“ des Gebäudes. Der ihnen vorgeschaltete ehemalige Pausengang wurde den Wohnungen zugeschlagen. Geradezu verblüffend ist der Effekt, den das Ziegelmauerwerk der früheren Außenfassade hier nun im Wohnungsinneren erzeugt. Alle Wohnungen sind nach Westen, zum Innenhof, ausgerichtet.
Turnhalle
Hier findet man das Wohnen nun auf drei Ebenen in Analogie zum Reihenhaus. In der ehemaligen Turnhalle „stecken“ das Wohn- und Schlafgeschoss, darunter ergeben sich, zum abgegrabenen südlichen Außenbereich hin, Mehrzweckräume für Hobbies oder zum Arbeiten. Angenehm großzügig ist der Effekt des „Durchwohnens“ vom südlichen Wohnraum zum Innenhof. Die Höhe der alten Turnhalle wird durch gelegentlich aufgehende Lufträume deutlich. Das Gitterraster der südlichen Turnhallenfassade musste erhalten werden, die neuen Glasfassaden sind dahinter zurückgesetzt. In der Ansicht ergibt sich so ein reizvoll verrätseltes Spiel der beiden Fassaden­ebenen. Bis auf eine werden alle Einheiten vom Innenhof erschlossen.
Innenhof
Der einstige Schulhof steht sinnbildlich für die tragende Idee des jetzt hier praktizierten gemeinschaftlichen Wohnens mehrerer Generationen. Als Mehrzweckfläche hat er seine Bewährungsprobe allerdings noch vor sich. Sein Erfolg wird daran zu messen sein, ob die einzelnen Eigentümer hier ihre persönlichen Gestaltungs- und Abgrenzungsambitionen zurückhalten können – vor allem die der „Bungalows“ in der ehemaligen Bibliothek, deren Gärten hier angrenzen. Die durch die Außengestaltung vorgegebenen eingeschränkten Möglichkeiten sollen wohl ein zu starkes individuelles „Ausleben“ in den Hof
hinein abmildern. Der „Genius Loci“ appeliert geradezu, mit der Chance des Hofes „lernend“ umzugehen.
Ein existentielles Problem des gesamten Vorhabens stellte sich mit der vorgeschriebenen Energieeinsparung durch die Vorgaben der EnEV. Da eine energetische Sanierung durch eine Außendämmung wegen der denkmalgeschützten Fassaden nicht möglich war, wurde eine 120 Millimeter dicke kapillaraktive Innendämmung vorgeschlagen und nach langwierigen Wärmebrückenmessungen dann auch eingebaut. Sie besteht aus Kalziumsilikat, Korkdämmlehm, Mineralschaum und Perlit. Das Projekt darf nunmehr als „KfW-Effizienzhaus 70“ bezeichnet werden und wird als Pilotprojekt der Förderung heraus­gestellt.
Die Denkmalschutzbehörde, die oftmals so restriktiv aufzutreten pflegt, hat in diesem Fall von Anbeginn an den Architekten viel Spielraum gelassen und sich als ebenso schöpfe­rischer wie kongenialer Partner erwiesen. Die Auffassung, dass ein Gebäude über die Zeiten hinweg verschiedene Nutzungen erleben kann, ohne mit notwendig werdenden Veränderungen seinen Charakter wesentlich einzubüßen, scheint immer häufiger durchsetzbar – die intelligenten Kompromisse, die dieses Projekt auszeichnen, sind dafür ein beredtes Beispiel.



Fakten
Architekten MOSAIK Architekten, Hannover; Lindau, Friedrich (1915–2007)
Adresse Schlägerstraße 36 30171 Hannover


aus Bauwelt 11.2012
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