Bauwelt

Pripjat und der Tod der Stadt

Text: Dobraszczyk, Paul, Manchester

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Pripjat und der Tod der Stadt

Text: Dobraszczyk, Paul, Manchester

Im Herzen der Sperrzone gelegen, ist die einstige Stadt der Atomarbeiter neben dem Kernkraftwerk Tschernobyl heute der Inbegriff einer Geisterstadt. Inzwischen sind die Zeiten vorbei, da das Betreten der Stadt gänzlich verwehrt war. Eine Reflexion über das Bild der Ruine, postapokalyptische Visionen und über Pripjat als Paradigma.
Die Tatsachen über Tschernobyl sind bekannt: Am frühen Morgen des 26. April 1986 zerstörte eine Reihe von Explosio­nen das Gebäude und den Reaktor Nr. 4 des Atomkraftwerks. Die riesigen Mengen freigesetzten radioaktiven Materials kontaminierten weite Landstriche von Griechenland bis Schweden. Ein Gebiet im Umkreis von 30 Kilometern wurde zur Sperrzone erklärt, und die meisten Bewohner, darunter die 49.000 Menschen, die in der eigens für das Kernkraftwerk errichteten Stadt Pripjat lebten, wurden evakuiert. Inzwischen kehren vor allem alte Menschen langsam wieder in ihre Dörfer und auf ihre Bauernhöfe zurück, doch Pripjat ist nach wie vor ausgestorben.
Von der Idealstadt zur Ruine
Die heutige Geisterstadt Pripjat wurde 1970 zur Behausung der Bauarbeiter und des künftigen Personals des Kernkraftwerks Tschernobyl erbaut. Offiziell nannte man sie „Atomograd“, die Stadt der Atomwissenschaftler und -arbeiter. Pripjat wurde als sozialistische Musterstadt geplant, auf der Grundlage eines modernistischen Entwurfs mit standardisierten, von breiten Boulevards und Grünanlagen durchsetzten Hochhauszeilen und einheitlich abgewinkelten Straßen zur Vermeidung von Verkehrsstaus. Pripjat verkörperte die utopische Stadt des Modernismus im sowjetischen Kontext: Die Einwohnerzahl entsprach dem kommunistischen Ideal von 50.000, und die Stadt besaß beispielhafte öffentliche Einrichtungen, darunter das Luxushotel Polissya, einen Kulturpalast, ein Theater und ein Kino, zwanzig Bildungseinrichtungen, ein modernes Schwimm- und Sportzentrum, zwei Stadien und ei­nen Vergnügungspark, der kurz vor der Eröffnung stand, als die Katastrophe kam. Die Stadt hatte einen so ausgeprägten Modellcharakter, dass häufig sowjetische Stadtplaner und Regierungsvertreter anreisten, um sie zu besichtigen. Sie war eine der wohlhabendsten Städte in der Ukraine. Heute hat sich alles angesichts des nahen Reaktors ins Gegenteil verkehrt: Die verfallenen Gebäude und leeren Straßen von Pripjat stehen vor der Silhouette des für ewig verschlossenen Reaktorsarkophags, den man von den Dächern aller Häuser der Stadt sehen kann. Die ursprünglichen Rollen sind vertauscht: Während die Ruine – der zerstörte Reaktor – zum Denkmal geworden ist, verfällt das Modell – die Idealstadt – zur Ruine.
Als hätte er die Kinderspielzeuge im Blick, die auf Pripjats rostendem Karussell liegen, erklärt Nikolai Fomytsch Kalugin, ein ehemaliger Einwohner: „Wir verloren mehr als eine Stadt, wir verloren unser gesamtes Leben.“ Zwei Jahre nachdem er aus Pripjat evakuiert worden war und all sein Habe hatte zurücklassen müssen, war Kalugin zurückgekehrt, um die Tür seiner Wohnung zu holen, für ihn ein „Talisman“, ein Familienrelikt. „Mein Vater wurde auf dieser Tür aufgebahrt...Unser ganzes Leben ist dieser Tür eingeschrieben. Wie könnte ich sie aufgeben?“ Später musste er seine Tochter auf der gleichen Tür aufbahren – sie starb als ein Opfer der Strahlenkrankheit. Ein anderer früherer Einwohner, der in Pripjat aufwuchs, kann den Verlust bis heute nicht verstehen: „Wie soll man etwas glauben, wenn man es nicht begreifen kann? Und wie sehr man sich auch anstrengt, es bleibt unbegreiflich. Ich erinnere mich gut: Wir verließen den Ort, und der Himmel war blau.“ Die Erzählung unterstreicht die Machtlosigkeit des Denkens, das daran scheitert, die Auswirkungen der Katastrophe zu verstehen und wiederzugeben.
Als Reaktion auf das Nichtverstehen gewannen Alltagsdinge und Erinnerungen für die ehemaligen Einwohner Pripjats eine fast kosmische Bedeutung, anhand derer sich der Verlust einer ganzen Welt artikulieren lässt. In diesem Zusammen­hang sind die Ruinen der Stadt nicht nur Zeugnis der Gewalt systematischer Plünderungen, die den Einwohnern wertvolle Quellen der Erinnerung raubten, sondern auch Zeugnis für den Verlust verbindlicher Werte und eines von ihnen getrage­nen gesellschaftlichen Zusammenhalts. Vor dem Unfall wa­ren die Einwohner Pripjats ein musterhaftes Kollektiv; nach dem Unfall wurden sie in typische europäische Vorstädte umgesiedelt, in denen „ein neues, unvertrautes Gefühl herrschte, die Gewissheit, dass jeder sein Leben allein lebt“. Und genau deshalb fühlten sich die Menschen verwirrt und verloren.
Das künstlerische Abbild der Katastrophe
Fotos der Ruinen von Pripjat stehen im Kontext der langen Geschichte dystopischer oder postapokalyptischer Darstellungen der Zivilisation und ihrer Städte. Seit der Entstehung der modernen Industriestadt im 19. Jahrhundert fungierten Visio­nen ihrer Zerstörung als Gegenpol zum herrschenden Diskurs des Fortschritts und der Weiterentwicklung. Seit Mary Shelleys Roman „The Last Man“ (1826) wurde die Ruinenstadt zu einem Standardtopos literarischer und später auch filmischer postapokalyptischer Visionen. Den inhaltlichen Mittelpunkt der filmischen Bilder des städtischen Zusammenbruchs bildete zunächst die Kritik an sozialer Ausgrenzung. Metropolis etwa bezog sich 1926 auf aus dem 19. Jahrhundert stammende literarische Visionen gewalttätiger Klassenkämpfe, die zum Untergang der Industriestädte führen würden. Nach den beispiellosen Zerstörungen, denen die Städte im Zweiten Weltkrieg anheimfielen, und in Zeiten des Kalten Krieges konzentrierten sich die filmischen Apokalypsen mehr auf die Gefahr einer atomaren Vernichtung. Wie Mick Broderick gezeigt hat, präsentierte das Kino der fünfziger bis frühen neunziger Jahre die Zerstörung der Städte höchst unterschiedlich: als halbdokumentarisches Spiel, das die Vorbereitung auf einen Nuklearkrieg und das Überleben porträtierte wie in „The War Game“ (1965), als Ort undefinierter Bedrohung wie in Tarkowskis „Stalker“ (1979), als Darstellung des tatsächlichen Geschehens und seiner fürchterlichen Auswirkungen wie in „Threads“ (1985) oder als postapokalyptische Vision vom Leben nach dem Atomkrieg wie in „Planet of the Apes“ (1968), „The Road Warrior“ (1981) oder „Delicatessen“ (1990).
Seit Brodericks Überblicksstudie ist der Kalte Krieg zu Ende gegangen und die gefühlte atomare Bedrohung geringer geworden, dafür aber haben die Warnungen vor einem katastrophalen Klimawandel und die Angst vor dem internationalen Terrorismus postapokalyptischen Filmen neue Nahrung gegeben, die mit raffinierten, computererzeugten Spezialeffekten die Grenzen von Realität und Fiktion verwischen. Die gewissermaßen in „Echtzeit“ stattfindenden, durch Außerirdi­sche oder Naturgewalten verursachten Zerstörungen in Filmen wie „The War of the Worlds“ (2005) oder „2012“ (2009) fügen sich ein in die täglichen Fernsehbilder von Ruinen, die der modernen Kriegstechnologie oder dem Terrorismus geschuldet sind: Die spektakulären Bilder der Zerstörung der Türme des World Trade Center im Jahre 2001 erlebten Millionen in „Echtzeit“.
Bis vor kurzem standen die Ruinen von Pripjat aufgrund der Verstrahlung als Filmdrehort nicht zur Verfügung. Für Filme, die lange Dreharbeiten vor Ort benötigen, wird das auch weiterhin so bleiben. Doch zwei Drehtage reichten im Jahr 2004 für die Aufnahmen zu „Return of the Living Dead: Necropolis“ (2005). Der Film, der von der Kritik allgemein verrissen wurde, handelt von einer Zombie-Kolonie, die sich in der Tschernobyl-Zone eingenistet hat und von menschlichen Besuchern bekämpft wird. Mehr Zuspruch fand die Nutzung der Räume von Pripjat in dem preisgekrönten Computerspiel „S.T.A.L.K.E.R. Shadow of Chernobyl“ (2007) und seinen Fortsetzungen „Clear Sky“ (2008) und „Call of Pripjat“ (2009). In der Kulisse der Tschernobyl-Zone, in der sich Tarkowskis Visio­nen mit authentischen Bildern aus Pripjat zu einer Landschaft des „Staunens und des Todes“ verbinden, muss sich der Spieler mit mutierten Zombies und anderen Monstern auseinandersetzen, bis ihn im Mittelpunkt der Zone etwas weit Tödli­cheres und Bedrohlicheres erwartet.
Stärker noch als Filme demonstrieren Computerspiele die Verwischung der Grenzen zwischen dem Realen und dem Virtuellen. In diesen Spielen fungieren die Räume von Pripjat, die aus realen Fotos konstruiert sind, als Träger für eine Atmosphäre des Horrors und der ständigen Bedrohung. Für diese Spiele, die ihren Ursprung im Cyberpunk der USA der achtziger Jahre haben, sind die Folgen, die die Zerstörung der Stadt für die Menschen hatte, ohne jede Bedeutung; die postapokalyptische Szenerie wird vielmehr zu einem Spielplatz eskapistischer Träumereien.
Die zerstörte Stadt ist eine wichtige Kulisse für postapokalyptische Fiktionen, gleichzeitig aber wird die tote Stadt allzeit auch als ein Ort beschrieben, den die Natur zurückerobert. Ein frühes Beispiel ist der 1885 erschienene Roman „After London“ von Richard Jefferies, in dem das London des Industriezeitalters in ferner Zukunft untergegangen ist und die im Boden verbliebenen Reste wie eine große Giftmülldeponie die zurückkehrende Natur verseuchen. Jefferies’ minuziöse Beschreibungen wurden vor kurzem gründlich von Wissenschaftlern untersucht, die sich für die Frage des Lebens nach einem Zusammenbruch der Städte interessieren. Aber der Verfall von Innenstädten und Zerstörungen durch Kriege liefern naturgemäß konkretere Fallbeispiele. Nach den Zerstörungen, die deutsche Bomber im Zweiten Weltkrieg in London verursachten, wurden die Ruinen für Künstler wie John Piper und Graham Sutherland zur Quelle „neuer Schönheiten in unerwarteter Zusammenfügung“. Insbesondere Pipers Ruinenbilder, die die „natürliche“, organische Qualität der Ruinen betonten, erinnerten an ältere Traditionen des Pittoresken. Als heutiges Vergleichsbeispiel könnte die Umweltaktivistin und Kulturkritikerin Rebecca Solnit dienen: Sie erklärt, die moderne Stadt sei eine künstliche Umwelt, die die Landschaft, aus der sie gewachsen ist, zur Ruine macht. „Nur Wartung und Ersetzung verschieben den unvermeidlichen Untergang: die Entropie des Gebauten und die Rückkehr des Organischen.“
Pripjat dient als reales Beispiel dafür, was passiert, wenn diese ständige Wachsamkeit aufhört: In der Serie des History Channels „Life After People“ wurde 2008 anhand der Stadt die Frage aufgeworfen, wie die Welt nach zwanzig Jahren ohne Menschen aussehen würde. Tierpopulationen gedeihen in der Vegetation zwischen den Gebäuden, Pflanzen wachsen in den einst von Menschen genutzten Bauten, und unter den klimatischen Extrembedingungen der nördlichen Ukraine zerfallen die Betongebäude schnell. Die Sendung endet 10.000 Jahre nach dem Verschwinden der Menschheit, wenn nur mehr Reste der stabilsten Bauten vorhanden sind, erwähnt aber den nahen Reaktorsarkophag von Tschernobyl nicht, der ironischerweise zu den letzten Spuren des Menschen gehören würde. Zwar mögen manche der Rückkehr der Natur beim Untergang der Städte etwas Positives abgewinnen, doch verleugnet dieser Topos in seiner stadtfeindlichen Rhetorik die menschheitliche Katastrophe, die unvermeidlich aus dem Untergang der Städte erwächst. Bei Jefferies und anderen kehrt die Natur als eine Rächerin zurück, die zurückfordert, was von Rechts wegen ihr gehört – sie vollstreckt an den Städten und ihren Bewohnern ein grausames Jüngstes Gericht.
Die unheimliche Stadt
In den Visionen der postapokalyptischen Stadt – gleichgültig ob sie durch eine zukünftige Katastrophe oder durch das Walten der Natur unterging – definiert ein ästhetischer Topos die Qualität der Leere: das Unheimliche. Der von Sigmund Freud 1919 eingeführte Begriff wurde erst in den letzten zwanzig Jahren auf die gebaute Umwelt angewandt: Das Unheimliche findet seine metaphorische Stätte in der modernen Stadt, „wo das einst Ummauerte, Intime, die Bestätigung der Gemeinschaft ... durch die räumlichen Übergriffe der Moderne unheimlich“ geworden ist. Im Gegensatz zu den phantastischen und naturalistischen Zugängen, die oben beschrieben wurden, entzieht sich das Unheimliche der Wiedergabe, weil es aus einem seelischen Zustand entsteht, in dem vertraute Dinge und Räume unvertraut werden, Furcht erregen und das Gefühl erwecken, es spuke. Eine Stadt in Sonderheit, nämlich Pompeji, das ab dem späten 18. Jahrhundert ausgegraben wurde, erweckte bei späteren Beobachtern die Assoziation des Unheimlichen: Hier war eine lebendig begrabene Stadt, in der Spuren des Alltagslebens verstörend unmittelbar zu finden waren; eine Stadt, deren heimatliche Räume – die Straßen, Läden und Wohnhäuser – nun, nach Freud, „in toter Unbeweglichkeit versteinert“ waren. Pripjat wurde von einem Kommentator als „modernes Pompeji“ bezeichnet. Das Gefühl des Eingefrorenseins in der Zeit erzeugt hier eine unheimliche Wirkung, die jener ähnelt, die Freud beschrieb und die post­apokalyptische Filme als Wirkungsmittel einsetzen; der Eindruck des Ruins ist mehr psychisch als physisch greifbar.
Wie Dylan Trigg ausführt, unterscheidet sich das unheimliche Gefühl der Leere, das moderne Ruinen wie Pripjat hervorrufen, fundamental von dem Gefühl angesichts von Ruinen, die bewusst für die Nachwelt erhalten werden: die Formlosigkeit der Industrieruinen überwältigt den Betrachter, der ihnen keinen Sinn abgewinnen kann, und erzeugt einen „Schwindel“. Erlebt man die Ruinen von Pripjat das erste Mal, so wirkt die Stadt vertraut und zugleich entfremdet: Da ko­existiert das Vertraute – der Supermarkt, die Wohnung, das Hotel, das Krankenhaus, die Schule – mit der desorientieren­den, unvertrauten, bedrückenden Leere. Angesichts der insistenten optischen Hinweise auf Verluste, die Menschen erlitten haben, kann der Betrachter in Pripjat nicht die Distanz gewinnen, die für eine ästhetische Wahrnehmung erforderlich ist. Die Fotografie und andere Mittel der Abbildung stoßen hier an eine Grenze. Vielmehr wird die Ruinenstadt zu einem Teil des Beobachters, der ihn überwältigt und alle Versuche, den Raum zu klären und zu verstehen, scheitern lässt.
Pripjat ist unheimlich, weil es ein vertrauter Ort ist, in dem man sich heimatlos fühlt und hilflos Gewalten gegen­übersteht, die sich dem Verständnis entziehen. Dieses Gefühl verbindet das Erlebnis von Pripjat mit unserer aktuellen Sorge bezüglich eines möglichen Untergangs unserer Städte durch den Klimawandel oder andere feindliche Gewalten. Das Erlebnis einer versteinerten Stadt wie Pripjat stellt alle Versuche in Frage, einen sicheren Abstand zu der mit diesen Entwicklungen verbundenen Unverstehbarkeit zu gewinnen. Das daraus resultierende Gefühl der Hilflosigkeit spiegelt die Ängste angesichts der ungewissen Zukunft unserer Städte wider.

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