Bauwelt

Informelles Gärtnern. Zur Freestyle-Architektur des Urban Gardening

Urbane Landwirtschaft

Text: Müller, Christa, München

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Foto: Christa Müller

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Informelles Gärtnern. Zur Freestyle-Architektur des Urban Gardening

Urbane Landwirtschaft

Text: Müller, Christa, München

Die Bricolage aus Kisten, Stauden, Brettern, Gehölzen, Tüten, Kübeln und Fässern hat auf den ersten Blick nichts mit Architektur zu tun. Was lässt sich an der Gestaltung temporärer Gärten ablesen?
Seit einigen Jahren tauchen in unseren Großstädten neue Gebilde des informellen Gärtnerns auf, die unsere Sehgewohnheiten irritieren und einige Fragen aufwerfen. Man steht auf einer innerstädtischen Brachfläche und fragt sich: Was ist das? Ein Sammelplatz für Euro-Paletten, Wasserbehälter, Jungpflanzen und umgenutzte Industrieplanen? Eine offene Werkstatt unter freiem Himmel? Oder etwa ein Garten? Klar ist zunächst nur eins: Diese Orte, in denen sich Fragmente aus unterschiedlichsten Zusammenhängen mischen, hat man in so großer Zahl hierzulande noch nicht gesehen. Ein selbst­gebauter Dorfplatz auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof, eine aus Althölzern gezimmerte Outdoorküche unweit des Münchener Olympiaturms, ein bepflanztes Einkaufswagen­ensemble an einer Kreuzberger U-Bahnstation, ein nostalgischer italienischer Eiswagen inmitten selbstgebauter Hochbeete in Leipzig, Gemüsepflanzen in ausrangierten Bäckerkisten auf einem Parkgaragendach in Hamburg-St. Pauli oder Palettenbeete auf roter Tennisplatzerde in Köln: All diese neuen Orte mit Namen wie Allmende-Kontor, o’pflanzt is!, Prinzessinnengarten, Annalinde, Gartendeck und NeuLand künden von der baulichen Verarbeitung eines epochalen Wandels: der Verabschiedung der Industriemoderne.
Öffentlicher Do-it-Yourself-Raum
Industriemoderne, das bedeutete in den letzten fünfzig Jahren eine Optimierung der Naturbeherrschung, die Neustrukturierung der internationalen Arbeitsteilung und die Intensivierung des industriellen Massenkonsums in einem räumlich und zeitlich entgrenzten globalen Kontext. Modernisierungstheoretiker belegten das Geschehen in den westlichen Wohlstandsgesellschaften mit Begriffen wie „Dienstleistungsgesellschaft“, „Wissensgesellschaft“ oder „Freizeitgesellschaft“. Antworten auf die Frage, woher die Nahrungsmittel und die Res­sourcen für den Massenkonsum stammen, überließen sie randständigen Debatten wie der über die Nachhaltigkeit. Genau diese essenziellen Fragen werden heute von der neuen urbanen Gartenbewegung auf eine bislang unbekannt pragmatische Weise aufgegriffen und kollektiv bearbeitet. Die Orte des Selbermachens erzeugen Bilder von einer Gesellschaft neuen Typs und transportieren zugleich ein anderes Verständnis von Stadt und Urbanität. Urbane Gärtnerinnen und Gärtner sind heute Bilderproduzenten und ihre Gärten die Ikonen einer Zeit, die gekennzeichnet ist durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und die Wiederkehr lange im Abseits verrichteter Praktiken wie die der Subsistenz.
Im neuen Verständnis von Urbanität wird die Natur nicht länger als Gegenpol zur bebauten Fläche wahrgenommen. Zugleich gilt es, den städtischen Raum mitzugestalten. Die Bedeutung von Urban Gardening und anderen Praktiken des Do-it-Yourself liegt in der Umdefinierung und der dadurch ermöglichten Aneignung von öffentlichen Räumen. Das Gärtnern kommt der Einübung einer Logik gleich, die nicht auf Verwertung, sondern auf Subsistenz ausgerichtet ist. Hier geht es um ein anderes Vergesellschaftungsmodell. Autonomie bedeutet für diese Bewegung nicht, hohe Löhne zu erzielen, um lebensnotwendige Dinge kaufen zu können, sondern Wissen, handwerkliches Können und soziale Netzwerke zu teilen und mit weniger materiellen Ressourcen, dafür aber nach eigenen Vorstellungen, ein Mehr an Lebensqualität zu erreichen. Man re-inszeniert die alte Praxis der Allmende und schafft radikal offene Räume, die in einer durch Klassen und Milieus segregierten Gesellschaft Begegnung auf Augenhöhe ermöglichen.
Diese Haltung zeigt sich beispielsweise im partizipativen Design des 3300 Quadratmeter großen Gemeinschaftsgartens o’pflanzt is! in München-Schwabing: Ausgemusterte Holzfenster wurden in Frühbeetkästen verbaut, Paletten für Wabenbeete fanden sich auf einer Baustelle, und die Container für Gießwasser gab es kostenfrei bei einem Druckbetrieb um die Ecke. Die Kompost-Toilette wurde aus Rundhölzern von entsorgten Hockey-Toren einer benachbarten Schule gebaut. Als Transportmittel diente ein ebenfalls selbstgebautes Lastenfahrrad. Den Strom für die Freiluftküche liefern gespendete Solarzellen, unterstützt durch ein Windrad aus einer al­-ten Fahrradfelge. Eichenparkett aus einem ehemaligen Münchener Restaurant bedeckt die Dächer der Unterstände und der unbeheizten Gewächshäuser. Unablässig werden neue Baumaterialien geliefert: Das Stadtmuseum spendet einen Stapel fehldimensionierter Bretter, Privatleute einen alten Holzofen für die Küche, die Münchner Möbelbörse steuert Tische bei – Vollholz, aus dem die Gartenaktivisten neue Geräte drechseln. Auf der Fläche liegen Ziegelsteine aus einem Abbruchhaus, die nach und nach zerkleinert werden und danach den Insekten und Kleintieren auf dem Gelände als Unterschlupf und Nistplatz dienen sollen. Niemand werkelt hier aus Langeweile, vielmehr bietet das Selbermachen die seltene Chance, in einer bereits vordefinierten Großstadt gemeinsam mit anderen räumliche Wirkung zu entfalten.
Das Gemüse, vorwiegend alte Sorten und seltene Kulturpflanzen, wird in lebensmittelechten Reissäcken, Bäckerkisten, aufgeschlitzten Tetrapacks und auf Palettenbeeten angebaut. Das geschieht wegen der fragwürdigen Bodenqualität, aber auch, um die Mobilität dieser urbanen Landwirtschaft zu betonen und zu ästhetisieren. Als temporäre Landnutzung ist vieles im Garten mobil: Im Berliner Prinzessinnengarten sind Café und Küche in gespendeten Containern aus dem Hamburger Hafen untergebracht. Kollektive Umnutzung, Weiterverwendung und Umdeutung vorhandener urbaner Ressourcen zeugen davon, dass der städtische Bauer nur über begrenzte Mittel verfügt und diese möglichst ideenreich einsetzen muss. Sich dabei der kollektiven Intelligenz zu bedienen und dar­über zugleich Vergemeinschaftungsprozesse in Gang zu setzen, ist eine weitere fruchtbare Chance, die das Urban Gardening in einer anonymen Großstadt bietet.
Gärtner und Hacker
Mit dem Begriff Materialrecycling ist das Phänomen jedenfalls nicht zu fassen; es geht es um mehr. Die neue Gartenbewegung ist vergleichbar mit der Hackerbewegung. Das Gärtnern dient auch dazu, die Codes der Lebensmittelindustrie zu knacken. Im Gemüseanbau liegt Selbstermächtigung, man versucht, pragmatische Statements zu Problemen der industriellen Nahrungsmittelproduktion oder der Belegung von Flächen in Ländern des Südens zu geben. Die Bewegung will die Dinge durchdringen, verändern, kapern. Es geht um „Welt-Aneignung“, indem die durch Planung und Industrie vorgefer­tigten Lebens- und Dingwelten „aufgebrochen“ werden. Die neuen Akteure entnehmen ihnen die Gegenstände und irri­tieren die Trennung von Konsumtion und Produktion. Durch das „Hacken“ der Baupläne von Industrieprodukten werden die Güter im mehrfachen Sinne „offen“: Sie ermöglichen Teilhabe sowohl am Produktions- als auch am Entwicklungsprozess und eröffnen die Möglichkeit von Reparatur und Umdeutung. Die urbanen Gärten sind ebenso wie die Offenen Werkstätten und „Hightech Fab Labs“ auf Teilhabe und Produktion „eigenwilliger“ Produkte sowie auf die Wiederaneignung der Produk­tionsmittel und des Produktionswissens durch kollektive Prozesse des Weiterentwickelns und Teilens ausgerichtet.
Viele derjenigen, die zu Hacke, Schaufel und Säge greifen, gehören der „Generation Internet“ an. Sie gestalten auch in der „analogen“ Welt Orte nach Vorbild des Webs, in dem sie gelernt haben, Dinge zu teilen und virtuelle Räume gemeinschaftlich zu bewirtschaften. Die Grenzen zwischen digitaler und analoger Welt sind schon in Auflösung begriffen, und das Internet hat mit seinen Verweisungs- und Vernetzungslogiken sowie seinen Praktiken des Teilens und Tauschens Demokratisierungserfahrungen ermöglicht, die jetzt in die analogen Orte migrieren. Collaborative Consumption, Teilen und Tauschen, gemeinsam nutzen, so heißen die neuen Schlagwörter. Jeremy Rifkin hat schon in seinem Ende der neunziger Jahre erschienenen Buch „Access. Über das Verschwinden des Eigentums“ prophezeit, dass die Ära des Eigentums zu Ende geht und ein Zeitalter anbricht, in dem es um Zugang und um die befristete und gemeinsame Nutzung der Güter geht, nicht mehr in erster Linie um das Besitzen. Teilen mit zunächst unbekannten Menschen in der realen Welt setzt allerdings voraus, dass man die kulturelle und habituelle Fähigkeit dazu hat; viele müssen das erst wieder einüben. Urbane Gärten und Werkstätten bieten Raum und „Produktionsmittel“ für diese Form des Lernens, z.B. beim Teilen der Ernte, beim Lastenfahrradbau, beim Imkern oder gemeinsamen Kochen.
Die „Generation Garten“ schafft und kuratiert ihre eigenen Landschaften und Architekturen, meist an der offiziellen Stadtplanung vorbei. Sie macht sich, nicht zuletzt durch die Wiederentdeckung des Handwerks, im Sinne von Foucault weniger regierbar und, was die Urheberschaft betrifft, weniger identifizierbar. Bei den Gartenprojekten weiß man nicht genau, wer eigentlich den Ort geplant, entworfen, gebaut hat. Das Design entsteht beim Tun und in der permanenten Aus­einander­setzung mit den Materialien. Erkennbar bleibt nicht die Handschrift eines Einzelnen, vielmehr findet eine kollektive Gestaltung statt, die nie abgeschlossen ist.
Die bewusst dilettantische Freestyle-Architektur in den Gärten sowie das Experimentieren und Spielen mit den vorhandenen Materialien der Großstadt weist eine frappierende, ja fast simultane Übereinstimmung auf zu „Reduce/Reuse/Recyle“, der Programmatik des deutschen Pavillons der 13. Architekturbiennale. Kurator Muck Petzet verabschiedet in Venedig den Stararchitekten und ruft zu einer bescheideneren Architektur auf, die nicht einfach abreißt und neu baut, sondern an das Vorhandene anschließt und sich von ihm inspirieren lässt. Wenn der Respekt vor dem Bestand irgendwann tatsächlich nicht mehr Zweite-Reihe-Architektur ist, sondern Avantgarde, dann wäre das auch in der Architektur eine ra­dikale Hinwendung zur Gegenwart; ein Reality Check und ein Messen der Kreativität an den vorhandenen Bedingungen und Materialien. Die Freestyler in den urbanen Gärten haben schon einmal damit angefangen.

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