Bauwelt

Die unbekannten Städte

Text: Gegner, Martin, São Paulo

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Blick auf das Zentrum der Stadt São Carlos
Foto: Maurício Matar/Prefeitura Minicipal de São Carlo

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Blick auf das Zentrum der Stadt São Carlos

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Wohngebiet des Bundesprogramms „Minha Casa, Minha Vida“ (Mein Haus, mein Leben) in der Südregion
Foto: Renato Anelli

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Wohngebiet des Bundesprogramms „Minha Casa, Minha Vida“ (Mein Haus, mein Leben) in der Südregion

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Die unbekannten Städte

Text: Gegner, Martin, São Paulo

Im weiten Hinterland Brasiliens, dem Interior, manifestiert sich der wirtschaftliche Aufschwung der letzten Jahre in zahlreichen gesichts- und geschichtslosen Groß­städten, die außerhalb des Landes relativ unbekannt sind.
Wer die prosperierende Gewöhn­lichkeit dieser Städte genauer betrachtet, kann die Eigenarten, aber auch manches Problem der brasilianischen Gesellschaft, vor allem aber der rasch gewach­senen Mittelschicht, besser verstehen.
Das Bild brasilianischer Städte ist geprägt vom Blick auf Rio de Janeiro, Brasilia und São Paulo. Doch die „wunderbare Stadt“, die Ikone der Moderne und die Megalopole haben mit der Lebensrealität in den meisten brasilianischen Städten nicht viel gemein. Auch die bekannteren Hauptstädte von Bundesstaaten, wie Porto Alegre, Curitiba, Belo Horizonte, Salvador, Recife, Belém und Manaus sind nicht repräsentativ für das urbane Leben in Brasilien. Dafür muss man schon einen Blick in das Interior, ins weite Hinterland, riskieren. Im Folgenden wird diese Perspektive exemplarisch im bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich stärksten Bundesstaat, São Paulo, dem Estadão, eingenommen. Hier sind tiefere Einblicke in die derzeitige wirtschaftliche und soziale Entwicklung des ganzen Landes zu erwarten, ist doch der Estadão in Gänze – und nicht nur in der Metropolregion São Paulo – Wachstumsregion und Ziel großer interner Migrationsströme Brasiliens. Doch bevor näher auf diese Entwicklungen eingegangen wird, müssen zum Verständnis des Kontextes ein paar Makrodaten präsentiert werden.
Von den im Jahre 2010 knapp 193 Millionen Brasilianern (2013 sind es ca. 200 Mio.) leben 84,4 Prozent in Städten (Quelle: Staatliche Statistikbehörde IGBE). In der Bundesre­publik Deutschland lag der Urbanisierungsgrad (laut Statis­tischem Bundesamt) dagegen nur bei 74 Prozent. In einzelnen Gebieten, zum Beispiel in Amazonien, beträgt dieser Index sogar 90 Prozent. Die brasilianische Lebensweise ist also zuvorderst städtisch geprägt. Der brasilianische Staat ist in 26 Bundesstaaten und einen Bundesdistrikt aufgeteilt, mit 5665 Gemeinden (Municípios). Deren Zentren weisen mehr oder weniger städtischen Charakter auf, bündeln also administrative, kulturelle und wirtschaftliche Aktivitäten auf en­gem Raum, was sich auch in Architektur und Städtebau ausdrückt. Die Bandbreite an städtischen Verdichtungsformen umfasst acht Agglomerationen mit mehr als vier Millionen Einwohnern, (darin zum Teil enthaltene) 16 Millionenstädte, 34 Großstädte mit mehr als 300.000 Einwohnern, 260 Mit­telstädte (die nach brasilianischem Verständnis mindestens 100.000 Einwohner zählen) und über 5000 Kleinstädten mit weniger als 100.000 Einwohnern. Grob gesprochen lebt jeweils ein Drittel der brasilianischen Bevölkerung in Millionenstädten, in Groß- und Mittelstädten und in Kleinstädten.
Die Mehrzahl der Groß- und Mittelstädte liegen im Südosten des Landes. Hier leben 42 Prozent der Bevölkerung Brasiliens, allein im Estadão sind es ca. 42 Millionen. Dieses Bundesland ist das wirtschaftlich stärkste Brasiliens, und seine Metropolregion São Paulo, in der 20 Millionen Menschen le­ben, ist die größte Industrieregion der südlichen Hemisphäre. Weitere wirtschaftliche Superlative zeichnen den Estadão aus. Sein Interior ist von scheinbar endlosen Weiden für die Viehzucht und von Zuckerrohrfeldern geprägt. Die Zuckerbarone verdienen den Großteil ihres Geldes heutzutage mit der Ethanol-Gewinnung: Im Jahre 2012 tankten die Brasiliener zu 50 Prozent Ethanol (Quelle: Petrobras).
Geschichtlichkeit und Identität
Die ersten brasilianischen Städte wurden im 16. Jahrhundert gegründet, so auch in São Paulo: Hafenstädte wie Cananéia, Itanhaém und São Vicente prosperierte als Brückenköpfe der portugiesischen Kolonie entsprechend gut. Alle Stadtgründungen dieser Zeit sind geprägt durch ihre Nähe zum Meer beziehungsweise zu schiffbaren Flüssen. Durch wirtschaftliche Ereignisse, wie beispielsweise Goldfunde, kamen zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch einzelne Städte im südlicheren Binnenland hinzu. Sie wurden von Bandeirantes, Gruppen rücksichtsloser Abenteurer gegründet, die, meist auf der Suche nach Gold, Silber und indianischen Sklaven, von São Paulo aus ins weite Binnenland aufbrachen. Die Bandeirantes gelten heute im Interior São Paulos als die eigentlichen Eroberer des Landes. Im Gründungsmythos Brasiliens haben sie einen festen, zumeist positiv beschriebenen Platz.
Den Aufstieg zum wirtschaftlichen und mittlerweile auch kulturellen Zentrum Brasiliens verdanken Staat und Stadt São Paulo dem Kaffeeboom ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit war São Paulo eine relativ unbedeutende Stadt (1860: 18.000. Einwohner). Das Zentrum des wirtschaftlichen Handels verschob sich vom Nordosten, der bis dahin von der relativen Nähe zu Europa und von seiner großflächigen Zuckerproduktion profitiert hatte, in den Südosten, wo die klimatischen Bedingungen eine effizientere und differenziertere Landwirtschaft zuließen. Außerdem siedelten sich dort Migranten aus Europa (nicht nur Portugiesen) an, die die landwirtschaftliche Produktion diversifizierten und neue Produktionsmethoden einführten.
Die meisten der 645 paulistanischen Klein-, Mittel-, und auch Großstädte sind von Geschichts- und Gesichtslosigkeit geprägt. Das verwundert nicht: Sie wurden um 1860 oder später gegründet. Abhängig von der geografischen Lage sind sie zumeist schachbrettmusterartig angelegt. Sie weisen einen ausufernden Urban-Sprawl auf sowie – selbst in Kleinstädten – ein stark vertikalisiertes Zentrum. Mit der gesellschaftlichen und städtebaulichen Modernisierung ab Mitte der 1920er Jahr und ihrer Intensivierung während des Vargas-Regimes (1930–1945) gerieten die ohnehin wenigen baulichen Zeugen der Kolonialzeit in Verruf. Sie galten radikal-modernen Intellektuellen als „unbrasilianisch“. Die Bestrebungen zur Vereinheitlichung der brasilianischen Kultur zeigten sich unter anderem in der Idealisierung der Moderne als dem neuen brasilianischen Stil. Die große Verehrung, die Le Corbusier in Brasilien entgegen gebracht wurde (und wird), muss im Zusammenhang mit der positivistischen Staatsdoktrin Brasiliens gesehen werden, die bereits seit 1889 in der Flaggeninschrift „Ordem e Progesso“ dokumentiert ist. „Ordnung und Fortschritt“ könnte als prägnante Kurzform von Le Corbusiers städtebaulichen Vorstellungen verstanden werden. Geschichte zu tilgen, ist zentraler Bestandteil dieses Programms. Im Geiste von Le Corbusier und unter dem Eindruck der vorherrschenden Entwicklungsideologie, der Politik des Desenvolvimentismo, wurden die historischen Zentren von São Paulo, São Vicente und anderen älteren Städten von 1930 an systematisch zerstört und durch qualitativ minderwertige Neubauten ersetzt, die ihrerseits häufig nur 30 Jahre standen. Das führte dazu, dass sich die meisten Städte des Interior zum Verwechseln ähnlich se­hen und dass die Identifizierung der Bewohner mit ihnen sehr gering ist – verglichen mit Bewohnern europäischer Klein- und Mittelstädte, aber auch denen der alten brasilianischen Städte an der Küste.
Das urbane Leben in den Städten des Interior
Die Lebensweise in den kleineren Städten des Interior (weniger als 100.000 Einwohner) ist meist eine sehr ländliche. Die Kultur der Städte, die sich als Zentren der Weiterverarbeitung landwirtschaftlicher Produkte oder als Viehmärkte entwickelten, ist immer noch von dieser Tradition geprägt. Rodeo, Country- und Volksmusik sind hier populärer als Samba. Kinos gibt es selten und wenn dann sind es eher Multiplex-Kinos. Größere Theater und Säle für klassische Musik sind auch in Städten mit einer halben Million Einwohner eine Seltenheit. Die Kulturzentren der Handelskammer (SESC) übernehmen für die Städte die Kulturarbeit. Es sind private Institutionen, die vom Staat durch Steuermittel finanziert werden.
Doch die Wirtschaft des Interior basiert nicht nur auf Zuckerrohr und Viehzucht. Sie diversifizierte sich in den letzten Jahren enorm. São Carlos, 1857 gegründet und 230 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt São Paulo gelegen, ist mit heute knapp 240.000 Einwohnern ein gutes Beispiel für die boomenden Mittelstädte des Interior. Die Landesuniversität USP unterhält zwei Campi in São Carlos. Außerdem gibt es die Bundesuniversität UFScar. Beide Einrichtungen sind exzellent in Lehre und Forschung. Neben den Produktionsstätten von Volkswagen und Faber-Castell hat sich in den letzten zehn Jahren ein Technologiepark mit zahlreichen Spin-Offs aus den Universitäten etabliert. Diese Entwicklung zieht gut ausgebildete Arbeitskräfte aus ganz Brasilien an. Die Einwohnerzahl von São Carlos ist seit dem Jahr 2000 um fast 20 Prozent gewachsen.
Der anhaltende Boom schafft aber auch Probleme. Wie Renato Anelli, Professor am Institut für Architektur und Urbanismus (IAU) der USP und Vorsitzender des städtischen Rates für Stadtentwicklung, erklärt, ist die Verkehrsinfrastruktur be­reits seit Jahren überlastet. Der Wohlstand der neuen Mittelklasse „C“ fließt auch in São Carlos vor allem in Automobile. Die Innenstadt erstickt täglich im Verkehr. Durch ihre disperse und großflächige Struktur sei es jedoch kaum möglich, einen bedarfsgerechten und effizienten öffentlichen Nahverkehr zu etablieren. Auch das Fahrrad sei, bei Temperaturen bis zu 40 Grad in den Sommermonaten, nur für die wenigsten eine Alternative. Zwar wird das öffentliche Leben in São Carlos stark von den Studierenden geprägt, doch entspricht auch ihr Mobilitätsverhalten zumeist dem Lebensstil der gutver­dienenden Mittelschicht.
Dieses stellt sich überall im Interior ähnlich dar: Ein typischer Tag beginnt mit der Fahrt aus der Tiefgarage eines Apartmenthauses, führt zum geschlossen Parkplatz einer Arbeitsstätte, nach der Arbeit von dort aus zur Tiefgarage eines Shopping-Centers und dann vielleicht noch zum Parkplatz einer Bar. Der oder die Angehörige der Mittelklasse befindet sich also immer in geschlossenen Räumen oder im „Reizschutzpanzer Auto“ (ein Ausdruck des Mobilitätsforschers Stephan Rammler). An diesen Alltag werden auch die Kinder früh gewöhnt. Die Eltern fahren sie mit dem Auto zur Schule, von dort vielleicht zu einem Club. Ihr Zuhause sind kleinen Apartments oder Einzelhäuser, meterhoch ummauert und von Elek­trostacheldraht umzäunt. Es verwundert nicht, dass diese Menschen eine „I-Car-Mentalität“ entwickeln. Kern dieser Mentalität ist die Angst vor öffentlichen Räumen.
Schuld an diesem Zerrbild hat auch das Urban Design der Stadträume des Interior, auch in São Carlos. Die Straßen und Plätze sind Durchfahrtskorridore ohne Aufenthaltsqualität. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts folgen sie noch immer dem modernistischen Stadtplanungsleitbild der 1950er Jahre: strikte Funktionstrennung zwischen Wohnen, Arbeiten und Freizeit und autogerechte Erschließung. Tagsüber belebte Geschäftsstraßen sind abends menschenleer. So werden auch in São Carlos bei Einbruch der Dunkelheit die Bürgersteige hochgeklappt.
Öffentliche Räume gelten hier – vor allem nachts – als gefährliche Räume, die es zu meiden oder möglichst schnell mit einem Auto zu durchfahren gilt. Plätze, Straßen und Alleen sind Räume des Transits. Hier wird nicht flaniert. Dazu begibt man sich in die allgegenwärtigen Shopping-Center, also formalrechtlich private Räume. Nahezu jede Stadt im Interior nennt mindestens ein Shopping-Center ihr Eigen. Es ist meist bis Mitternacht oder länger geöffnet und bietet neben Geschäften auch Kinos, Bowlingbahnen und Restaurants. Für viele Paulistas spielt sich ihr Sozialleben komplett in diesen privaten Räumen ab.
Kollektiver Individualismus
Ein anderer wichtiger Aspekt der Sozialität in den Städten des Interior betrifft die Familie. Sie ist auch nach 150 Jahren Urbanisierung immer noch der soziale Hauptbezugspunkt des Einzelnen – anders als in Europa, wo sich tradierte Familienverhältnisse im gleichen Zeitraum aufgelöst haben. In den gro­ßen Städten leben viele Kinder bis zur ihrer Hochzeit – und manchmal darüber hinaus – bei ihren Eltern. Die Mieten sind schlicht zu hoch und die Löhne zu niedrig, als dass sie sich eine eigene Wohnung leisten könnten. Zudem ist das Leben in der elterlichen Wohnung für die meisten jungen Leute sehr praktisch. Hausangestellte zu haben, ist in der Mittelschicht nahezu obligatorisch, sodass man sich um Putzen, Waschen, Einkauf und Kochen nicht zu kümmern braucht. Doch geht dieser Full-Service zu Lasten der Intimität. Denn eine vierköpfige Familie mit erwachsenen Kindern wohnt selten in Apartments mit mehr als 100 Quadratmetern. Es gibt zwar häufig vier Parkplätze für die Bewohner, aber die einzelnen Zimmer der Wohnung sind oft nicht größer als 10 Quadratmeter. Stattdessen gibt es ein großes Wohnzimmer, quasi für die „familiäre Öffentlichkeit“.
Bei so viel physischer und sozialer Nähe bleibt für die Intimsphäre der Familienmitglieder buchstäblich wenig Raum. Freundinnen und Freunde der jungen Erwachsenen werden zwar umstandslos in die Familie integriert, Intimität wird jedoch in der Regel nicht in den eigenen vier Wänden ausgelebt. Dafür gibt es Motels, Hotels mit einem Autostellplatz direkt vor dem Apartment, die sich auf die Befriedigung des außerhäuslichen Sexuallebens spezialisiert haben. Ein Motel aufzusuchen hat nichts Anrüchiges an sich und wird auch von langjährig Verheirateten praktiziert.
In den einfachen Wohnvierteln der ärmeren Schichten gehören zu einem Haus oder einer Wohnung häufig nur eine Wohnküche und zwei Schlafzimmern. Diese teilen sich Eltern mit ihren drei, fünf oder noch mehr Kindern. An Intimsphäre ist hier überhaupt nicht zu denken. Der fehlende häusliche Rückzugsraum scheint für die meisten überhaupt kein Problem zu sein. Paulistas aller Klassen sind es gewohnt, in relativer Enge aufzuwachsen, und sie suchen auch in der Öffentlichkeit geradezu die Nähe anderer Menschen. Man könnte dieses Sozialverhalten deshalb als „kollektiven Individualismus“ bezeichnen.
Allerdings bezieht sich diese Form von Individualismus auf die Angehörigen der jeweiligen gesellschaftlichen Schichten. Die privaten und wenigen öffentlichen städtischen Räume, in denen sich Paulistas treffen, sind in den seltensten Fällen sozial durchmischt. Diese Segregation setzt sich in den Stadtstrukturen fort. Auch im Interior sind die Städte sozial stark abgegrenzt, häufig in Kombination mit rassistischer Segre­gation: Die reichen Viertel sind in der Regel „weiß“ bzw. von Bewohnern asiatischer Herkunft geprägt, die ärmeren Viertel sind „schwarz“ und „braun“. Gemeinsam ist den armen und den reichen Stadtvierteln die Abgrenzung des Privaten zum Öffentlichen oder zum benachbarten Privatbesitz: Hier wie dort dominieren hohe Mauern, Stacheldraht und Elektrozäune.
Die Stadt des Interior kann als Idealtypus der brasilianischen Stadt gelten. Ein Blick auf sie spiegelt die Lebensverhältnisse der meisten Brasilianer wider und lässt Rückschlüsse auch auf die Makroebene der brasilianischen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu. Die derzeitig zu beobachtenden positiven Entwicklungen halten sich die Wage mit strukturellen Gefährdungen, vor allen Dingen sozialer Art. 

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