Bauwelt

Die Mathildenhöhe entdeckt den Expressionismus neu

Eine Norm des Erlebens

Text: Santifaller, Enrico, Frankfurt am Main

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Deutsche Kinemathek – Mu­­se­­um für Film und Fernsehen, Berlin

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Die Mathildenhöhe entdeckt den Expressionismus neu

Eine Norm des Erlebens

Text: Santifaller, Enrico, Frankfurt am Main

"Gesamtkunstwerk Expressionismus" stellt den Expressionismus als „utopischkulturkritische Be­wegung mit vielen Gesichtern“ dar, der eher „eine Norm des Erlebens“, denn eine „klar definierte Stilform“ war.
Dass sich das Institut Mathildenhöhe immer wieder dem Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert widmet, liegt wohl in seiner Geschichte begründet. Ob die monografische Schau Joseph Maria Olbrich (Bauwelt 13.10) oder, schon ein paar Jahre her, die Ausstellung zur Lebensreform (Bauwelt 4.02) – stets geht es auch darum, das Phänomen Künstlerkolonie und seine Herkunft aus den kulturellen Strömungen der Zeit zu erklären. Die aktuelle, in Kooperation mit dem Frankfurter Filmmuseum erarbeitete Ausstellung „Gesamtkunstwerk Expressionismus“, die den Zeitraum von 1905 bis 1925 im Auge hat, ist in dieser Hinsicht eine Fortsetzung. Auch wenn die interpretatorischen Konstruktionen bisweilen etwas kühn wirken mögen, so deutet die Ausstellung bereits die Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe als Gesamtkunstwerk. Auch die regionalen Wurzeln werden betont: Üblicherweise verortet man den Expressionismus in Berlin, München oder Wien, in der Schau erscheint neben Hamburg und seinem Umland auch das Rhein-Main-Gebiet als eine Art Nebenzentrum dieser Kunstrichtung: Paul Hindemith und Max Beckmann wirkten in Frankfurt, Ludwig Meidner und Carlo Mierendorff in Darmstadt, hier entstanden mit Peter Behrens’ Verwaltungsgebäude für die Höchst AG und Martin Elsässers Frankfurter Großmarkthalle einige Hauptwerke des architektonischen Expressionismus.
Expressionistische Netzwerker
Die Ausstellung, die keinen geringeren Anspruch hat, als den Expressionismus neu zu entdecken, wirft zunächst einen Blick auf künstlerische Mehrfachbegabungen und ihre Vernetzungen. Egon Schiele malt nicht nur, sondern veröffentlicht auch Gedichte. Ernst Ludwig Kirchner gründet 1905 kurz vor seinem Architektur-Diplom die Malervereinigung „Brücke“. An Bruno Tauts Glaspavillon auf der Werkbundausstellung in Köln 1914 prangen Aphorismen des Schriftstellers Paul Scheerbarth, der wiederum neben Else Lasker-Schüler und Robert Musil in Zeitschriften wie „Der Sturm“ oder „Die Aktion“ publiziert. Und der Komponist Hindemith vertont 1921 einen Text des Malers Kokoschka zur Oper „Mörder, Hoffnung der Frauen“. Kurz vorher hat der Dresdner Stadtbaurat Hans Poelzig, der in seinem Haus regelmäßig okkultische Seancen abhält, für Paul Wegeners Film „Der Golem“ ein jüdisches Ghetto entworfen. Diese Verflechtungen sind bekannt, Wolfgang Pehnt widmet in seinem Buch „Die Architektur des Expressionismus“ der Bühne und dem Film je ein Kapitel – freilich als abgeleitete Funktionen, als Auftraggeber für Architekten. Die Darmstädter Ausstellung hingegen schildert die wechselseitigen Einflüsse, das facettenreiche Netzwerk zwischen den Künstlern. Sie stellt den Expressionismus als „utopischkulturkritische Be­wegung mit vielen Gesichtern“ dar, der eher „eine Norm des Erlebens“, denn eine „klar definierte Stilform“ war.
Kirchners Linolschnitt „Mädchen, auf der Treppe leuchtend“ von 1904 – Kirchner besucht in Dresden gerade die Vorlesungen von Fritz Schumacher – wirkt mit seinen starken Kontrasten und der extremen Perspektive wie ein Präludium zum expressionistischen Film eineinhalb Dekaden später. 1919 veröffentlicht Bruno Taut ein „Architekturschauspiel für symphonische Musik“ namens „Weltbaumeister“, das er auch eine „architektonische Pantomime“ nennt. Seine Kristallphantasien teilen nicht nur Kollegen wie Hans Scharoun und Wenzel Hablik, sondern auch der Maler und Bühnenbildner César Klein. Während kristalline Strukturen auch in Hindemiths Musiktheoremen Berücksichtigung finden, entwirft Mies für den Friedrichstraßen-Wettbewerb einen Glaskristall. Die Erschütterungen des Ersten Weltkriegs und der anschließenden Revolution schweißen die Künstler zusammen. Wobei die Grenzen fließend werden, nicht nur zwischen den einzelnen Disziplinen, sondern auch und vor allem zwischen der Kunst und dem Le­ben. Für den „Arbeitsrat für Kunst“ schreibt Walter Gropius 1919: „Vielleicht ist der lebende Künstler dazu berufen, vielmehr ein Kunstwerk zu leben, als es zu erschaffen.“ In den Wirren der Revolution – die Schriftsteller Kurt Eisner, Erich Mühsam und Ernst Toller stehen in München an der Spitze der Rätebewegung – wird die expressionistische Formensprache zur kraftvollen Ästhetik politischer Agitation.
Tanz den Koitus, tanz das Kokain!
Wenn die Kunst zum Leben wird, wird das Leben zum Gesamtkunstwerk: Gropius fordert im Bauhaus-Ma­nifest 1919 die „Wiedervereinigung aller künstleri­schen Disziplinen“ unter dem Primat der Architektur. Konkurrenten in der Disziplin des Gesamtkunstwerks sind freilich die Oper und vor allem der Film. Robert Wienes Stummfilm „Das Cabinet des Dr. Caligari“ verschränkt moderne Filmtechniken wie Überblendun­gen mit in der Tradition des expressionistischen Tanzes gebildeten, grell geschminkten Schauspielern und grotesk verzerrten Kulissen, die gemalt und gebaut, mit kontrastreicher Beleuchtung und gemaltem Licht und Schatten kombiniert werden. Der Höhepunkt ist gleichzeitig Keim des Niedergangs. Zwar wird die schillernde Mimin Anita Berber, die sowohl dem Koitus als auch dem Kokain einen Tanz widmet, zur Ikone der Bewegung, doch zur selben Zeit wird aus der Bewegung ein Stil, eine Mode. Der kulturrevolutionäre Anspruch verkommt zum mondänen Design. Expressionistische Plakate werben für Unterhaltungsfilme und Glühlampen, Interieurs wie das Haus des Juweliers Carl M.H. Wilkens am feinen Hamburger Jungfernstieg kommen im wild-gezackten Stil daher. Die Bewegung läuft sich tot und wird von der Neuen Sachlichkeit abgelöst.
1925 ist das Jahr, mit dem die Ausstellung auf der Mathildenhöhe abschließt. Bis dahin breitet sie mit einer schieren Masse an Exponaten – von Architekturmodellen über Filme und die herrlichen Ganzkörpermasken von Lavinia Schulz bis zur Rekonstruk­tion einer Nische von Kirchners Atelier – ein eindrucksvolles kulturhistorisches Panorama aus. Der Einfluss des Expressionismus auf die Künste in späteren Jahrzehnten dagegen, etwa auf den Dekonstruktivismus, wird nicht thematisiert. Doch kommt der Ausstellung das Verdienst zu, die expressionistische Architektur bis hin zum frühen Bauhaus in ihren politisch-sozialen Kontext zu stellen, der bei Anhängern wie Gegnern heute immer wieder gerne vergessen wird.

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