Bauwelt

2000 Jahre Wohnen in Wien

Vom keltischen Oppidum bis zum Wohnquartier der Zukunft

Text: Landes, Josepha, Berlin

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2000 Jahre Wohnen in Wien

Vom keltischen Oppidum bis zum Wohnquartier der Zukunft

Text: Landes, Josepha, Berlin

Wolfgang Förster kamen während einer Busfahrt durch Washington D.C. Gedan­ken für sein Buch „2000 Jahre Wohnen in Wien“, in dem er anhand des Wohnens eine So­zialgeschichte seiner Heimatstadt nachzuzeichnen sucht. Der abrupte Übergang in der US-Hauptstadt von Regierungsviertel und großbürgerlichen Quartieren zu verwahrlosten Wohngebieten regte ihn an, jene ihm vertrauteste aller Städte hinsichtlich derSchlüsse zu betrachten, die sich aus der Art ziehen lassen, wie die Herrschaftsverhältnisse verschiedener Epochen sich in den Wohnformen der Wiener Bürger niederschlugen. Es geht ihm also darum, einen Zusammenhang herzustellen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Die Frage, inwieweit sich die Werte einer Gesellschaft an ihrer Wohnungspolitik abbilden, verwässert zwarüber zehn historische Kapitel etwas, in den Nachbemerkungen gelingt es dem Autor jedoch, die ausgelegten Fäden aufzunehmen. Mit der Untersuchung in der 2000 Jahre zurückliegenden Römerzeit zu beginnen, ist nur dahingehend sinnvoll, als so die komplette Historie des Siedlungsflecks abgedeckt ist. Ein Beginn im Mittelalter hätte dem Thema genügt.
Försters Wien kulminiert in einem Ort der Offenheit, Verschiedenartigkeit und Toleranz. Doch dies, daran bleibt kein Zweifel, ist eine Kehrtwen-de des vorigen Jahrhunderts. Über gesellschaftlich entzweiende, ja zerreißende, Epochen wie das Mittelalter, den Barock und die Zeit des Nationalsozialismus hinweg, habe Wien es schließlich geschafft, den Wohnungsbau in einem freiheitlich demokratischen, nach Gerechtigkeit strebenden Gesellschaftssinn zu behandeln. Wien war viel länger noch als viele deutsche Städte von starker Sozialzonierungen der Stadtgebiete, Wohnungsnot und mangelnder hygienischer Ausstattung gezeichnet. Förster erklärt knapp, nichtsdestoweniger aussagekräftig, wie dringlich die Projekte des „Roten Wien“ ihrerzeit waren. Und wenn auch dieses Kapitel als eins unter vielen hingestellt bleibt, so ist es primus inter pares, Schlüsselmoment der Stadt: Und bezeichnend daran ist der Funke, der das Pulverfass der Gegenwart zu entzünden im Stand ist. Der Wohnungsmarkt und die Gesellschaftsstrukturen von europäischen Städten (und Staaten) scheinen derzeit ähnlich disparat, wie sie im Wien der 1920er Jahre bloßlagen.
Försters Buch kommt mit golden eingedruckten Titellettern daher, als sei es eine Jubiläumsschrift – vielleicht zur aktuellen IBA, die er auch behandelt? –, dabei lässt es sich auch lesen als eine sanfte Streitschrift, liefert in vielen Randnotizen und in Zwischentönen ein Abbild des Suchens und Findens oder des Scheiterns. Markt, Arbeit, Wohnen, Staat – es ist an der Zeit, dass die europäische Wertegemeinschaft in den Spiegel schaut, um sich selbst nicht zu verlieren: Wer oder was ist das goldene Kalb? Wien hat zu Beginn des vorigen Jahrhunderts nur knapp vor dem, eigentlich bereits im Kollaps seiner Sozialstruktur, im Elend seiner Bürger, eine Kehrtwen­-de geschafft. Es ist jetzt wieder an der Zeit! Es sieht nur anders aus. Es gibt weniger Rauchschwaden und weniger Tagschläfer, aber an erschwinglichem und dabei attraktivem Wohnraum mangelt es. Nicht so dringend in Wien wie andernorts, wo Wohnen als Grundbedürfnis, dem eine ernsthafte architektonische Auseinandersetzung gebührt, kaum mehr wertgeschätzt wird. Ein leidliches Quengeln derer am unteren Ende der Gesellschaft. Städte vollziehen einen Eiertanz um Investoren, fadenscheinige Rechenmodellen sind an der Tagesordnung, und weder Geld noch Potenziale sind so recht im Fluss. Wohnraum bedeutet viel zu oft bereitgestellte Quadratmeter.
Die Werte einer Gesellschaft drücken sich immer durch die Wohnsituation ihrer Bürger aus. Grundbedürfnis einer Demokratie sollten die Grundbedürfnisse der Bürger sein, so sagt es das Wort. Und die Städte den Bürgern gehören, ihnen dienen, voll von ihnen sein.
Wieso Förster unter dem Vorsatz der unausweichlichen städtischen Verdichtung die Aus­lagerung privater Funktionen in Gemeinschaftsräume als Zukunftsperspektive erstrebt, führt er leider nur wenig aus. Als Behauptung wird dieses Modell nicht den sozialen Fragen gerecht, die es begründen könnten. Zuerst einmal bestehtschließlich die Notwendigkeit, die Schwelle zwischen Öffentlichem und Privatem überhaupt zeitgemäß zu verhandeln. Das Modell, in dem die Wohnform der Zukunft automatisch aus ökonomischen und ökologischen Zwängen heraus die Gemeinschaft sein sollte, ist kurzgegriffen. Geben Architekten und Stadtplaner ihm zu geflissentlich nach, besteht die Gefahr, dass wiederum Marktinteressen den Ton vorgeben.
Die Menschen in Wien (ähnlich auch anderswo) haben 2000 Jahre, mit Höhen und Tiefen, gemeinschaftlich gelebt. Während dieser Zeit waren große Teile der Gesellschaft prekär untergebracht und ohne zureichenden privaten Rückzugsort der Umwelt ausgeliefert. Dies entspricht der Logik einer Ablesbarkeit der Werte einer Gesellschaft anhand der Lebensumstände ihrer Bürger. Die Ära der Sozialstadt in den 20er Jahren, in der dies infolge politischer Umwälzungen anders wurde, Individuen ermächtigt wurden, Nähe und Abstand ausgehend von einem gesicherten Grundbedürfnis in Maßen selbstständig zu regulieren und durch den Zugewinn an privater Freiheit auch ihre öffentliche Funktion besser auszufüllen vermochten, findet nach wie vor Entsprechung im Gedankenbild eines europäischen Bürgerstaatswesens. Dies umzukehren, darf keine Option sein. Wenn das „Neuen Wohnen“ den Zügeln des Marktes folgt, immer mehr Satellitenstädte für Bürger und Finanzsektoren im City Center entstehen, sehen wir eine Wohnrealität, die das demokratische Staatswesen bloßstellt. Wien hat den Zusammenhang zwischen öffentlicher Hand und privatem Raum früh erkannt und ihn zu schützen nicht wieder für überflüssig erachtet. Es ist nicht zu spät, wenn auch nie einfach, diese Initiative auch andernorts im Interesse der Öffentlichkeit zu ergreifen.
Fakten
Autor / Herausgeber Wolfgang Förster
Verlag Jovis Verlag, Berlin 2020
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aus Bauwelt 7.2021
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