Bauwelt

Schwereloser Mond, entwurzeltes Haus

Aufwändig und schwellenarm zeigt das Kunstmuseum Wolfsburg zum ersten Mal die Kunst von Leandro Erlich in Deutschland.

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

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Der Künstler erzeugt irri­tierende Perspektiven auf Himmel und Erde.
Leandro Erlich: Pulled by the Roots, 2015/2024, Kunstmuseum Wolfsburg, 2024, Courtesy Kunstmuseum Wolfsburg und Leandro Erlich Studio, © Leandro Erlich Studio, Foto: Marek Kruszewsk

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Der Künstler erzeugt irri­tierende Perspektiven auf Himmel und Erde.

Leandro Erlich: Pulled by the Roots, 2015/2024, Kunstmuseum Wolfsburg, 2024, Courtesy Kunstmuseum Wolfsburg und Leandro Erlich Studio, © Leandro Erlich Studio, Foto: Marek Kruszewsk


Schwereloser Mond, entwurzeltes Haus

Aufwändig und schwellenarm zeigt das Kunstmuseum Wolfsburg zum ersten Mal die Kunst von Leandro Erlich in Deutschland.

Text: Brosowsky, Bettina Maria, Braunschweig

So mancher Ausstellung zeitgenössischer Kunst eilt ja der Ruf voraus, unverständlich und arg verkopft zu sein, von stark erläuterunsgsbedürftiger „Erklär-Kunst“ ist dann schnell die Rede. „Schwerelos“ heißt die erste monografische Ausstellung des argentinischen Künstlers Leandro Erlich in Deutschland, ausgerichtet vom Kunstmuseum Wolfsburg. Aber abgehoben ist sie nicht, ganz in Gegenteil: Jung und Alt, die ganze Familie soll mit unterhaltsamer Kost erreicht werden. Dafür bedient sich das Haus spektakulärer Installationen, einer bühnentauglichen Inszenierung sowie vieler eigens für Wolfsburg erstellter Kunstobjekte, kurzum: es ist eine der wohl aufwändigsten Ausstellungseinrichtungen in der 30-jährigen Museumsgeschichte, die dort gerade zu bestaunen ist.
In der großen, nun komplett abgedunkelten Halle – eigentlich ihres Tageslichts wegen von vielen Künstlerinnen geschätzt – ist Technisches und Surreales aufgefahren: eine 13 Meter hohe Rakete, ein naturalistisch anmutender, dezent ausgeleuchteter halber Mondkörper von etwa zwanzig Meter Durchmesser, ein kleines klassizistisches Haus mit langen Wurzeln unter seiner Bodenplatte, das unter der Decke hängt. Diese ist mit einer fiktiven Landschaftskartografie unterspannt, so wie man sie von Satellitenbildern oder Google Earth kennt. Normalerweise aber schaut man ja nicht nach oben, Richtung Himmel, um solch Anordnungen aus Straßen, Vegeta­tions­texturen, Topografie und menschlichen Ansiedlungen zu sehen. Sondern man blickt, etwa aus dem Flugzeug, nach unten auf die Erde. Diese erste Irritation stimmt auf das ein, was einen erwartet. Jener halbe Mond trägt auf seinem Scheitel eine kleine Plattform mit Treppe, die Mondspitze lässt sich also erklimmen. Dazu muss man ins Innere des Mondes eintreten – und verliert sich erst einmal unter einer Kuppel in einer 360 Grad-Rundumprojektion aus Sternenkonstellationen und Bildern nächtlich hell erleuchteter Städte und Straßennetze. Die verspiegelte Bodenfläche dieser Kuppel verunsichert das körperliche Stabilitätsempfinden, sphärische Klänge begleiten die Bildfolgen, unter anderem aus NASA-Archiven. Nach einigen Minuten geht der Mond auf, rast bedrohlich auf die Betrachter zu – und der Loop beginnt von vorne. Diese mehrfache Umkehrung der Betrachtungsperspektive – Befinde ich mich im Inneren des Mondes? Eigentlich schaue ich doch aus dem Weltall auf die Erde? Und weshalb rast der Mond auf mich zu? – spielt auf die überwältigenden Erfahrungen erster Astronauten an. Etwa, als der US-amerikanische Astronaut William „Bill“ Anders Weihnachten 1968 bei einer Mondumkreisung der aufgehenden Erde gewahr wurde. Sein ikonisches Foto „Earthrise“ prägte den empathischen Blick einer ganzen Generation von Umweltschützerinnen auf die verletzliche Schönheit des „blauen Planeten“.
Die Reise zum Mond, der Aufbruch ins Weltall bietet gleichermaßen Wissenschaft wie Kunst- und Kulturgeschichte seit Jahrhunderten reichlich Material: seriöse frühe Astronomie von Galileo Galilei oder Johann Kepler, Science-Fiction in Literatur, bildender Kunst und Film, trashiges Spielzeug fürs Kinderzimmer. Die Wolfsburger Rakete dürfen jeweils drei Personen von der Saal­empore aus betreten, eine Glasplatte bildet den neuerlich das Körpergefühl herausfordernden Boden. Wer eintritt, kann an einer unteren Sichtöffnung beobachtet werden, und wenn die Möchtegern-Astronauten sich auf den Glasboden legen und entsprechende Bewegungen vollführen, scheinen sie wahrhaftig schwerelos zu schweben. Über Spiegelungen können weitere Per­sonen in anderen Kompartimenten der Rakete verfolgt werden: ein Kaleidoskop, das mit Sinnestäuschungen Realität und Imagination durch­einanderwirbelt.
Und das von der Decke hängende Haus mit seinem fliegenden Mobiliar? Es ist die Reprise einer Arbeit, die Leandro Erlich 2015 zum 300-­ jährigen Stadtjubiläum Karlsruhes beigetragen hat. Damals war die ganze Stadt Baustelle für die neue Stadtbahn, erzählt Andreas Beitin, Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg und zu jener Zeit am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe tätig. „Die Stadt ist der Star“ lautete das Motto, direkt am Karlsruher Marktplatz stand ein Baukran mit dem entwurzelten Haus, das buchstäblich aus einer der nahegelegenen Häuserreihen herausgerissen schien. Dieser Bezug ist in Wolfsburg nun nicht gegeben, als Chiffre für die weltweite Entwurzelung großer Teile der Menschheit und immense Migrationsströme ist es aber auch so lesbar.
Erlich gelingen mit seinen hyperrealen Objekten und Installationen Besucher-Rekorde; in asiatischen Museen sollen es schon mal über 600.000 gewesen sein. Seine technizistische Kunst passt perfekt zu Wolfsburg – und ist mehr als höherer Unterhaltungsklamauk. Leandro Erlich, 1973 in Buenos Aires geboren, in Uruguay lebend, studierter Philosoph mit deutschen Wurzeln, will durch seine Wahrnehmungsirritationen einen anderen Blick auf die Welt, auch ein Nachdenken über die menschengemachte Umwelt und ihre Probleme provozieren. Vielleicht muss die Welt einmal auf dem Kopf stehen, müssen sich Menschen ins Innere des Mondes begeben, um zu verstehen, was auf dem Spiel steht.

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