Bauwelt

Kulturraum Europa

Die Idee einer jährlich wechselnden europäischen Kulturhauptstadt entstand in den 1980er Jahren zur Selbstvergewisserung zivilisato­rischer Größe und wurde um 2010 zu einem potenten Werkzeug infrastrukturpolitischen Regierens.

Text: Blumenthaler, Lorenz, Berlin; Trittmann, Jonas, Hannover

  • Bilderliste
    • Social Media Items Social Media Items

    Grafik: Jonas Trittmann

    • Social Media Items Social Media Items

    Grafik: Jonas Trittmann

  • Bilderliste
    • Social Media Items Social Media Items

    Das „MuCEM“ von Rudy Ricciotti war neben großen Infrastrukturmaßnahmen eines der Leuchtturmprojekte für Marseille 2013.
    Foto: alamy

    • Social Media Items Social Media Items
    Das „MuCEM“ von Rudy Ricciotti war neben großen Infrastrukturmaßnahmen eines der Leuchtturmprojekte für Marseille 2013.

    Foto: alamy

  • Bilderliste
    • Social Media Items Social Media Items

    Pécs in Ungarn war 2010 Kulturhauptstadt.
    Foto: Wikimedia Commons

    • Social Media Items Social Media Items
    Pécs in Ungarn war 2010 Kulturhauptstadt.

    Foto: Wikimedia Commons

  • Bilderliste
    • Social Media Items Social Media Items

    Wo einst die Eisenbahn qualmte, raucht nun eine Nebelkerze. Performance der französischen Choreographin Julie Desprairies in Elefsina.
    Foto: Pantelis Ladas

    • Social Media Items Social Media Items
    Wo einst die Eisenbahn qualmte, raucht nun eine Nebelkerze. Performance der französischen Choreographin Julie Desprairies in Elefsina.

    Foto: Pantelis Ladas

Kulturraum Europa

Die Idee einer jährlich wechselnden europäischen Kulturhauptstadt entstand in den 1980er Jahren zur Selbstvergewisserung zivilisato­rischer Größe und wurde um 2010 zu einem potenten Werkzeug infrastrukturpolitischen Regierens.

Text: Blumenthaler, Lorenz, Berlin; Trittmann, Jonas, Hannover

Schon vor der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957 bemühten sich heute in Vergessenheit geratene Vereinigungen wie das Bureau International des Autoroutes (1931), die Union for the Co-ordination of Transmission of Electricity (1951) oder die European Conference of Transport Ministers (1953) darum, nationale Infrastrukturen in ein kontinentales Netz zu integrieren. Die Geschichte dieser Verbünde ist bis heute schlecht erforscht, wohl auch, weil viele von ihnen in der EU aufgingen. Es war denn auch die EU, die mit dem Programm TEN-T („transeuropean networks”) 1996 erstmals ein umfassendes Infrastrukturprogramm auf den Weg brachte. Längst geht es in der europäischen Infrastrukturpolitik nicht mehr nur um die Integration nationaler Netze, sondern vielmehr um die Stärkung des wirtschaftlichen wie sozialen Gefüges zwischen den Mitgliedstaaten. Das Zauberwort lautet Kohäsionspolitik: Sie soll gemäß Artikel 174 des Single European Act von 1986 „Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete […] verringern”.
Auch die kulturpolitischen Initiativen der EU wie die European Capitals of Culture (ECoC) müssen als Teil eines transnationalen Infrastrukturprojekts betrachtet werden. Die Idee entstand 1985 bei einem Treffen der griechischen Kulturministerin Melina Mercouri mit ihrem französischen Amtskollegen Jack Lang. Seither entwickelte sich das Programm zu einem Bestandteil des europäischen Integrationsprozesses auf sozio-kultureller Ebene einerseits und europäischer Strukturpolitik im Sinne langfristiger Regional- und Stadtentwicklung andererseits.
Konjunkturen eines Projekts
Während das kulturpolitische Moment des Programms als Gegenmaßnahme zur demokratischen Legitimitätskrise der Europäischen Gemeinschaft in den siebziger und achtziger Jahren entstand, sind die infrastrukturellen und entwicklungspolitischen Komponenten weit jünger; sie gehen auf eine Studie von 2004 zurück. Der sogenannte Palmer Report hatte die Aufgabe, die 21 Städte zu untersuchen, die zwischen 1995 und 2004 europäische Kulturhauptstadt gewesen waren. Im Report ist zum ersten Mal die Rede von den positiven Effekten des ECoC-Programms für die Stadterneuerung, die ökonomische Entwicklung der Kulturhauptstädte und die infrastrukturelle Perspektive ganzer Regionen. Dies war ein Novum für das Programm, das zuvor vor allem die Traditionen, die Kunst und Kultur einer Stadt sichtbar machen sollte. Der Report kam zu einem für die Europäische Kommission erbaulichen Urteil: „The European Capital of Culture (ECoC) action of the European Union is a powerful tool for [...] development that operates on a scale that offers unprecedented opportunities for acting as a catalyst for city change.” Auf dieser Grundlage sprachen sich die Autoren der Studie für eine deutlich höhere Subventionierung des Programms aus.
Die Europäische Kommission nahm sich die Empfehlungen des Reports zu Herzen: In den kommenden Jahren sollte sich das Programm grundlegend ändern. Neben einer Professionalisierungsoffensive, die sich unter anderem in einem einheitlichen Corporate Design und der Kenntlichmachung geförderter Maßnahmen niederschlug, sollte vor allem die infrastrukturelle Dimension stärker betont werden. Von nun an waren die durch das Programm in Aussicht gestellten Entwicklungsmöglichkeiten Teil der Auswahlkriterien geworden. Am deutlichsten wird dies an der Auswahl postindustrieller Städte wie Cork (2005), Liverpool (2008) und Essen (2010), die stark unter dem Strukturwandel zu leiden hatten.
Im Buch „Eventful Cities” teilen Robert Palmer und der Tourismusforscher Greg Richards das Kulturhauptstadt-Programm in drei Phasen ein, von denen die erste den Zeitraum von 1985 bis 1989 umfasst. Die ersten Kulturhauptstädte Athen, Florenz, Paris etc. konnten schon zum Zeitpunkt ihrer Ernennung gut ausgebaute kulturelle Infrastruktur von internationaler Relevanz vorweisen. Melina Mercouri ging es vornehmlich um die Präsentation und Würdigung eines Ist-Zustands. Gleichzeitig findet sich in der Auswahl der Städte eine symbolische Ordnung wieder, wie sie in der europäischen Kulturpolitik immer wieder auftaucht: die Inszenierung Athens als Wiege der europäischen Zivilisation sowie eine implizierte Kontinuität von der Athener Demokratie über das christliche Reich Karls des Großen und die Renaissance bis zur Europäischen Gemeinschaft.
Die zweite Phase von 1990 bis 2004 dominieren sogenannte Second Cities, also Städte, die hinter das kulturelle Angebot der Hauptstädte und größerer Metropolen zurückfallen. Die Rede ist von Glasgow, Thessaloniki, Porto oder Graz. Zwar gab es dort eine ausgeprägte kulturelle In­frastruktur und ein breites Veranstaltungsangebot, ihre infrastrukturelle Anbindung über das Stadtgebiet hinaus war aber weitaus schlechter als die der Hauptstädte und deren Metropolregionen. Von hier an erweist sich das Programm zusehends als Motor für wirtschaftliche Entwicklung: Infrastrukturprojekte rücken immer mehr in den Vordergrund und die symbolpolitische Dimension der Auswahl der Städte immer mehr in den Hintergrund.
In der dritten Phase, von 2005 bis heute, scheint sich der Trend zu mehr Infrastrukturinvestitionen zu verstetigen. Zudem wird das ECoC-Programm nun auch als Instrument in der Erweiterungspolitik der EU eingesetzt. Seit 2009 nämlich können auch „europäische Drittstaaten“ teilnehmen. So ging mit Istanbul 2010 der Titel (und das Geld) in ein Land, dessen Beitrittsperspektive sich bis heute als äußerst begrenzt darstellt. Ähnlich ist es mit dem serbischen Novi Sad, das 2021 Kulturhauptstadt war.
Pécs und Marseille: zwei große Infrastrukturprojekte
In einer Studie kroatischer Wirtschaftswissenschaftler wurde das ungarische Pécs (Kulturhauptstadt 2010) als erste große ECoC-Infrastrukturentwicklung in den neuen osteuropäischen Mitgliedsländern beschrieben. Während Pécs in den 1970er Jahren mit seinen staatlichen Bergbaubetrieben noch zu den hoch-entwickelten Zentren des sozialistischen Ungarns zählte, zeigte sich Anfang der 2000er Jahre ein völlig marodes Stadtbild. Die Bewerbung zielte in diesem Kontext auf die Revitalisierung Pécs’ als Zentrum der Region Süd-Transdanubien ab. Es wurden alle zur Verfügung stehenden Mittel aus dem EU-Kohäsionsfonds sowie aus nationalen und städ­tischen Haushalten gebündelt, wodurch der Kulturhauptstadt-Etat auf 202 Millionen Euro anwuchs, wovon über zwei Drittel direkt in Infrastrukturmaßnahmen investiert werden sollten.
Zu den Großprojekten gehörten neben einem Museum, einem Musik- und Konferenzzentrum und einer Regionalbibliothek auch die Wiederbelebung öffentlicher Parks und Plätze und der Aufbau des „Zsolnay Cultural Quarter“ als genuin ungarisches Kulturerbe und Tourismusmagnet. Diese Investitionen in den Kultursektor zogen im weiteren Verlauf umfangreiche staatliche wie privatwirtschaftliche Investitionen nach sich, die sich heute vor allem im mittlerweile abgeschlossenen Bau der Autobahn M6-M60 zeigen. Entgegen der reinen Ost-West-Erschließung der Stadt aus Sowjetzeiten bindet die neue Schnellstraße Pécs aus südlicher Richtung an und stellt damit eine Verknüpfung zum überregionalen Straßenverkehrsnetz Ungarns her. Noch während der Bauphase lockten die verbesserten infrastrukturellen Bedingungen Investoren an, wodurch auch der Flughafen ausgebaut und Stadterweiterungsgebiete im Umland erschlossen wurden.
2013 wurde Marseille in Verbindung mit der umliegenden Region Europäische Kulturhauptstadt. Das Konzept Marseilles war strategisch an die Bewerbung der ehemaligen deutschen Industriestadt Essen (Ruhr2010) angelehnt, die wenige Jahre zuvor in Verbindung mit 53 weiteren Städten des Ruhrgebiets den Zuschlag erhalten hatte. Mit der Kandidatur Marseilles formulierte die französische Regierung über die zu erwartenden Effekte in der Tourismusbranche hinaus großmaßstäbliche Zielvorstellungen für die Entwicklung der Region. Dabei wurde ins­besondere der Revitalisierung des brachliegenden Hafenareals große Bedeutung zugemessen,
die als Stadterneuerungsprojekt fortan unter dem schmucken Neologismus Marseille-Euro­méditerranée vermarktet wurde.
Im Zusammenhang mit der Kulturhauptstadt-Bewerbung wurden über 50 bauliche Großprojekte entwickelt, darunter öffentliche Kulturhäuser wie das MuCEM (Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers) und ein interdisziplinäres Kommunikationszentrum für den Mittelmeerraum (Centre Régional de la Méditerranée). Darüber hinaus wurde der Bau einer Straße vorangetrieben, die seit der Fertigstellung im Jahr 2016 die zwei wichtigen Autobahnen A50 und A7 verbindet: ein komplexes System aus neugebauten Zubringern, Verkehrsknoten, Drehkreuzen und Tunnels, durch das die umliegenden Subzentren Arles, Aix-en-Provence und La Ciotat in die Metropolregion Marseille eingebunden wurden. Das Konzept präsentierte sich auf internatio­naler Bühne als gewinnversprechendes Investitionsobjekt. Auch die Verpflichtung namhafter Architekturbüros wurde im Rahmen von Immobilienmessen wie der jährlich in Cannes stattfindenden Mipim als erprobtes Instrument der Investorenanwerbung genutzt – unter anderem für prestigeträchtige Projekte wie View Ports, die größte Fußgängerzone Europas (Norman Foster) oder die Bürohochhäuser La Marseillaise (Jean Nouvel) und Tour CMA CGM (Zaha Hadid).
Blickt man heute auf das Veranstaltungsjahr 2013 zurück, zeigt sich eindrücklich der Wandel, den das ECoC-Programm seit seinem Start im Jahr 1985 vollzogen hat: Marseilles Hauptstadtjahr war von Anfang an als umfassendes In­frastrukturprojekt konzipiert worden, dessen erhoffte Effekte die umliegende Region über ein ganzes Jahrzehnt ökonomisch stabilisieren und fortentwickeln sollten. Deutlich wird der Erfolg dieser Operation, wenn man die Kosten für Organisation und Betrieb der Kulturveranstaltungen im Jahr 2013 (101 Millionen Euro, davon 84 Prozent aus EU-Mitteln) mit den indirekt ausgelösten Investitionen in „kulturferne“ Infrastruktur-Sektoren vergleicht, die sich bis heute auf etwa 600 Millionen Euro belaufen. EU-Subventionen in großem Ausmaß mit staatlichen Krediten und pri­vaten Investitionen zu verbinden ist ein Konzept, das spätestens seit der Auszeichnung von Marseille-Euroméditerranée durch den Mipim-Award 2015 als bestes Stadterneuerungsprojekt anderen Kulturhauptstadt-Bewerbern als Vorbild dient.
Neben zwei Millionen Besuchern im Jahr 2013 (die etwa 500 Millionen Euro in Gastronomie und Hotellerie ausgaben) entstanden in der Provence im Zusammenhang mit der Ernennung zur Kulturhauptstadt Europas 2800 neue Vollzeitjobs in der Tourismusbranche, 24.000 neue Wohneinheiten, 150 Hektar neu gestalteter öffentlicher Raum und 100.000 Quadratmeter zusätzliche Büroflächen.
Am Beispiel Marseilles wird deutlich, dass das Siegel „Kulturhauptstadt“ den Bewerberstädten heute in erster Linie als ökonomischer Entwicklungsimpuls dient. Auch wenn die Förderung und Vermarktung der lokalen Kulturszene nach wie vor die Außendarstellung bestimmt, wird diese von umso wirkungsmächtigeren infrastrukturellen Unternehmungen im Hintergrund begleitet. Selbst in einem offiziellen Factsheet der Europäischen Union aus dem Jahr 2019 werden Schlagwörter wie „Wirtschaftswachstum“ und „Stadterneuerung“ noch vor den kulturpolitischen Aspekten als Vorteile einer Bewerbung um den Titel als Kulturhauptstadt angepriesen.
Ein neuer Kulturbegriff?
Gleichzeitig leitet sich aus diesem Wandel des ECoC-Programms zur infrastrukturpolitischen Maßnahme eine grundlegende Veränderung im Kulturbegriff der EU ab. Anstatt, wie noch in der ersten Phase, das bestehende (nationale) Kulturerbe auszuzeichnen, ist durch die Akzentuierung des infrastrukturpolitischen Gedankens eine gemeinsame europäische Identität in den Vordergrund getreten, die sich in Form von großmaßstäblichen Infrastrukturprojekten materialisiert. Die Konstruktion eines transeuropäischen Kulturraums wird demnach nicht erst seit dem Bau des Eurotunnels in den 1980er Jahren – der noch heute Großbritannien mit der EU verbindet – als Schaffung real erfahrbarer räumlicher Verbindung begriffen. An die Stelle der eventbasierten Musealisierung von Stätten europäischen Kulturerbes ist in Verbindung mit anderen kulturpolitischen Instrumenten wie dem Erasmus-Programm oder dem Interrail-Ticket ein Kulturbegriff getreten, der das praktische Erleben und Erfahren der Idee eines vereinten Europas durch integrierte Mobilitätsnetze erst ermöglicht.

0 Kommentare


loading
x
loading

10.2024

Das aktuelle Heft

Bauwelt Newsletter

Das Wichtigste der Woche. Dazu: aktuelle Jobangebote, Auslobungen und Termine. Immer freitags – kostenlos und jederzeit wieder kündbar.