Bauwelt

So nah und doch so fern

Paris will zur 15-Minuten-Stadt werden. Vielen Orten gilt das Modell als Vorbild. Doch dient es allen Menschen oder ist es ausschließlich ein Projekt der Innenstadt?

Text: Lella, Leonardo, Bordeaux

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    Zwei Ansätze, ein Ziel: Erreichbarkeit verbessern. Die radfreundlichere Rue de Rivoli, im 1. und 4. Arrondissement, ...
    Foto: Alamy/Andy Soloman

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    Zwei Ansätze, ein Ziel: Erreichbarkeit verbessern. Die radfreundlichere Rue de Rivoli, im 1. und 4. Arrondissement, ...

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So nah und doch so fern

Paris will zur 15-Minuten-Stadt werden. Vielen Orten gilt das Modell als Vorbild. Doch dient es allen Menschen oder ist es ausschließlich ein Projekt der Innenstadt?

Text: Lella, Leonardo, Bordeaux

Der Tonfall des Mannes ist laut und deutlich, er klingt überzeugt: „Man ist nah an allem, hat alle notwendigen Geschäfte, es ist ruhig und belebt zugleich“, schwärmt Benjamin, Mitte Vierzig, mit einer Einkaufstasche in der Hand. Der Immobilienmakler, der seit zwanzig Jahren in Paris tätig ist und im Viertel Bonne-Nouvelle wohnt, hat sich vor allem wegen der Erreichbarkeit von Dienstleistungen, Verkehrsmitteln und Arbeitsplätzen in dieser Gegend niedergelassen. Katharine, eine deutsche Anwältin aus dem gleichen Bezirk, berichtet: „Die Veränderung seit meiner Ankunft vor acht Jahren war phänomenal. Heute fahre ich alles mit dem Fahrrad, was zuvor noch undenkbar gewesen wäre.“
Diese Eindrücke stammen aus einer Straße des Viertels, das von der Tageszeitung Le Parisien als die Adresse Nummer eins eingestuft wurde, um „im Rhythmus der 15-Minuten-Stadt“ zu leben. Sie könnten in den zahlreichen Artikeln stehen, die die Stadtverwaltung von Paris regelmäßig online stellt, um ihre Politik der Bürgernähe zu veranschaulichen. In diesen Werbebeiträgen werden die Vorzüge verschiedener Viertel der Hauptstadt gelobt und die Politik der Stadtverwaltung hervorgehoben, die das Prinzip der 15-Minuten-Stadt für ganz Paris verfolgt. Der Begriff „15-Minuten-Stadt“ fasst eine Kommunalpolitik zusammen, die darauf abzielt, dass man in der Nähe seiner Wohnung alles finden kann, was man zum Leben braucht: Arbeit, Einkaufsmöglichkeiten, Unterhaltung, Kultur, Sport, medizinische Versorgung – innerhalb einer Viertelstunde zu Fuß erreichbar. Oder in fünf Minuten mit dem Fahrrad.
Das Konzept wurde von Carlos Moreno entwickelt (StadtBauwelt 19.2021), einem französisch-kolumbianischen Stadtplaner, der an der Sorbonne in Paris lehrt. Er entwickelte es 2016, ein Jahr nach dem Pariser Klimaabkommen, mit dem Ziel, auf städtischer Ebene die Notwendigkeit von Fortbewegung zu reduzieren und so die Treibhausgasemissionen zu begrenzen. Seiner Meinung nach sollte die Stadt nicht mehr in Zonen für eine einzige Nutzung aufgeteilt werden, sondern so gedacht werden, dass alles in
einem kleinen Umkreis erreichbar ist. Der Lockdown im Frühjahr 2020, der die Pariser zwang, sich innerhalb eines Radius von 15 Minuten zu Fuß zu bewegen, trieb seine Idee voran. Sie wurde einige Monate später vom Team der sozialistischen Bürgermeisterin Anne Hidalgo aufgegriffen. Im Jahr 2020 stellte sie die Idee in den Mittelpunkt ihrer Kampagne bei den Kommunalwahlen.
Neuer Titel für ein altes Konzept
„Die Idee der 15-Minuten-Stadt ist nicht neu“, sagt Marco Cremas­chi, Professor für Stadtplanung an der Sciences Po in Paris. Er betrachtet das Konzept skeptisch. Der Wissenschaftler weist darauf hin, dass der US-amerikanische Stadtplaner Clarence Stein bereits vor einem Jahrhundert die neighbourhood unit theoretisierte – deren Maßstab eben die Viertelstunde zu Fuß war – und dass ein ähnliches Konzept in den 1960er-Jahren von Jane Jacobs entwickelt wurde. Abgesehen von Fragen der Urheberschaft findet der Professor den Vorschlag vage bis uninteressant: „Dieses angeblich neue Konzept beschreibt einfach das gentrifizierte Paris, mit Ausnahme des Arbeitsplatzangebots, das nach wie vor ungleich verteilt ist. Das implizite Ziel ist oft, dass die Dienstleistungen näher an den Wohnort heranrücken. Aber das Angebot an adäquaten Arbeitsplätzen in der Nähe der Wohnorte zu erhöhen, ist eindeutig schwieriger.“
Die Frage des Jobzugangs bleibt im Fall von Paris in der Tat zentral. Einerseits wurden seit der ersten Amtszeit von Anne Hidalgo (2016–2020) enorme Anstrengungen unternommen, um das Wohnungsangebot ausgewogener zu gestalten. So stieg der Anteil der Sozialwohnungen an den Hauptwohnsitzen der Stadt von 19,9 Prozent im Jahr 2016 auf 25,2 Prozent im Jahr 2024. Andererseits weisen Studien darauf hin, dass das Arbeitsplatzangebot in der Hauptstadt noch immer sehr unausgewogen ist. Darüber hinaus zieht Paris jeden Tag eine Million Menschen aus den Vororten und den umliegenden Städten an, die im Zentrum arbeiten. „Die 15-Minuten-Stadt macht für sie wenig Sinn, ebenso wenig wie für die Person, die um fünf Uhr morgens in Seine-Saint-Denis aufbricht, um in La Défense die Büros zu putzen“, so Jean Coldefy, Experte für Mobilitätsfragen.
Dass diese Stadt der Nähe primär den wohlhabenden Bewohnern von Paris vorbehalten ist, liegt daran, dass das Pariser Wahlsystem, das nach Arrondissements organisiert ist, eine Fragmentierung der Debatten begünstigt. Ja, es gibt positive Projekte wie den Grand Paris Express, ein U-Bahn-Megaprojekt, das die Größe des Pariser Métronetztes verdoppeln wird. Allerdings wirkt sich das 15-Minunten-Konzept noch nicht auf alle Bereiche der Stadtplanung aus.
Unter Berücksichtigung der Interdependenz zwischen Stadtzentrum und Vorstädten wendet die Stadtverwaltung das Konzept immerhin inzwischen in allen zwanzig Arrondissements an. Für die Umsetzung dieser Politik wurde 2020 sogar eine Beigeordnete für die Viertelstundenstadt ernannt. Zu ihren Erfolgen zählen schon 180 Kilometer neue Radwege, die seit 2020 angelegt wurden, 42 Schulhöfe, die samstags geöffnet sind, um Familien Freizeitmöglichkeiten zu bieten, und 300 Straßen, die vor Schulen für Autos gesperrt sind. Hinzu kommen bald 500 neue Straßen, die nach einem Referendum im März als Fußgängerzonen ausgewiesen und begrünt werden sollen.
Vorwand zur Begrünung und Auto-Reduzierung?
Trotz dieser Zahlen haben viele Beobachter den Eindruck, dass diese Entscheidungen vor allem Hidalgos Politik einer Begrünung und Reduzierung des Autoverkehrs dienten, und nur vordergründig dem Ziel der 15-Minuten-Stadt. Der heute beliebte Fachbegriff tauchte wie über Nacht in der Kommunikation des Rathauses auf. „Politische Modelle reisen schnell um die Welt und finden Eingang in die Sprache und die politischen Programme, um dann genauso schnell wieder zu verschwinden“, mahnt Marco Cremaschi. Die im Konzept der 15-Minuten-Stadt versprochene Nähe von allem „ist leider nur ein Traum, vor allem wenn man bedenkt, dass die benötigten Dienstleistungen zunehmend über Netzwerke und Fernkommunikation erbracht werden, wie der Mangel an logistischen Antworten während der Coronapandemie gezeigt hat.“
Wird die Umgestaltung der Stadt auf Kosten derjenigen gehen, die sie täglich am Laufen halten und die es sich zugleich nicht leisten können, dort zu wohnen? Dies zumindest werfen Gegner Hidalgos ihr vor. Paris wird, das lässt sich nicht leugnen, grüner, fahrradfreundlicher und nach Fußgängermaßstäben gestaltet. Doch für wen wird dieses friedliche Arkadien reserviert sein?
Die Bemühungen der Stadtverwaltung, eine soziale Mischung zu erhalten und Segregation zu verhindern, sind durchaus beträchtlich. Neben dem Bau neuer Sozialwohnungen vor allem in den wohlhabenden Vierteln im Westen hat die Stadt vor kurzem die Anzahl der Tage, die für die Vermietung von Ferienwohnungen vom Typ Airbnb erlaubt sind, gesenkt und neue städtebauliche Regeln eingeführt, die die Aufstockung bestehender Gebäude fördern. Dennoch verliert die Hauptstadt seit 2011 jährlich 12.000 Einwohner, während der Anteil der Zweitwohnungen (die den Großteil des Jahres leer stehen) von zwei Prozent im Jahr 1970 auf heute zehn Prozent gestiegen ist. Um dieses Phänomen einzudämmen und Immobilien wieder auf den Markt zu bringen, hat das Team von Anne Hidalgo kürzlich vorgeschlagen, die Steuer auf Zweitwohnungen zu verdreifachen. Eine solche Erhöhung kann jedoch nur im Parlament beschlossen werden – was zeigt, dass eine Stadt trotz allen guten Willens nicht allein gegen Gentrifizierung ankämpfen kann. Es ist eine konzertierte Arbeit auf metropolitaner oder sogar nationaler Ebene erforderlich. In dem Zusammenhang ist das Kriterium der 15-Minuten-Stadt nur eine von vielen Zutaten im Rezept einer funktionierenden Stadt. Dieses muss auch und vor allem durch eine erfolgreiche Wohnungspolitik erreicht werden.
Der Text ist die aktualisierte Version eines Artikels, der zuvor auf der Plattform Urban-Matters.de erschien.

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