Die Schönheitsrebellion
Im Internet wächst eine selbsternannte Bewegung: gegen den Geschmack der Architektur-Elite und für die Wiedererstarkung des schönen Bauens. Steckt romantische Verklärung dahinter? Rechte Spinnerei? Oder doch eine Kritik mit Substanz?
Text: Crone, Benedikt, Berlin
Die Schönheitsrebellion
Im Internet wächst eine selbsternannte Bewegung: gegen den Geschmack der Architektur-Elite und für die Wiedererstarkung des schönen Bauens. Steckt romantische Verklärung dahinter? Rechte Spinnerei? Oder doch eine Kritik mit Substanz?
Text: Crone, Benedikt, Berlin
Hand aufs Herz, welche Orte empfinden Sie als schöner? Den Berliner Alexanderplatz oder den Gendarmenmarkt? Le Corbusiers Maison de la Culture in Firminy – oder Notre-Dame? Das abgerissene Technische Rathaus in Frankfurt am Main oder das auf dessen Grundstück errichtete Altstadtviertel inklusive rekonstruiertem Hühnermarkt? Nun könnten Sie einwenden, das seien ja schiefe Vergleiche von Orten, die jeweils zu einer anderen Zeit für ganz andere Zwecke errichtet wurden. Sie haben Recht, aber darum geht es nicht. Diverse Vereine, Influencer und Online-Gruppierungen, die sich „Architektur-Rebellion“, „archi_tradition“, „StadtBild Deutschland e. V.“ oder „Architectural Uprising“ nennen, kämpfen im Namen des Volkes für einen Erhalt oder die Wiederbelebung einer Architektur, die weitgehend aus der Zeit vor der Klassischen Moderne stammt. Mal plädieren die Zusammenschlüsse mit einer wissenschaftlich-historischen Genauigkeit für die Wiederherstellung eines vermeintlich ursprünglichen Zustands eines Gebäudes oder Platzes. Mal ereifern sie sich in Hasspredigten allgemein gegen die Architektur der letzten siebzig Jahre. Letztere Variante existiert primär auf den Kanälen von Instagram, Facebook und „X“. Sie erreicht im internationalen Bereich eine teils große Anhängerschaft von bis zu eine Million Followern.
Die oben genannten Bilder-Paare, die auf dem Instagram-Kanal „architekturrebellion“ zu finden sind (es gibt Ableger in mehreren Ländern und Städten, der Ursprung des losen Netzwerks mit dem Namen „Architectural Uprising“ liegt in Skandinavien), folgen einem immergleichen Argumentationsschema: Die moderne, reduzierte Architektur wirke abweisend, eintönig, hässlich und sei daher abzulehnen. Die ältere, vormoderne oder die neue historisierende Architektur sei der goldene Gegenentwurf: einladend, menschlicher, schön. Das offenkundige Ziel hinter der Gegenüberstellung ist das Auslösen eines heimlichen Erkenntnismoments beim Betrachter, frei nach Deichkind: Tu doch nich‘ so, du magst es doch auch!
Zuletzt erregten die „Rebellen“ Aufmerksamkeit in der Presse. Der Wiener Architekturjournalist Maik Novotny, der regelmäßig für die Bauwelt schreibt, analysierte die Netzwerke im Januar 2024 in der Zeitung „Der Standard“. Novotny kritisierte zum einen die plumpe Unterscheidung in „traditionelle“ und „nicht-traditionelle“ Architektur: „Gotik, Barock und Historismus durchliefen Phasen, in denen sie als hässlich galten, und die anonyme Alltagsarchitektur ist ein ganz eigenes Kapitel. Die Boulevards von Paris und das Wien der Gründerzeit zerstörten die Stadt des Mittelalters und Biedermeiers, waren also im Grunde antitraditionell. Der sich als modern verstehende Otto Wagner hätte sich gegen eine Einordnung als Traditionalist mit Händen und Füßen gewehrt.“ Gleichzeitig sei die gescholtene Moderne von ihren Anfängen bis zur Postmoderne mannigfaltiger als es auf den ersten Blick erscheinen mag. „Fast könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich manche Rebellen gar nicht wirklich für Architektur interessieren.“ Vielmehr böten Architekturdebatten rechten Bewegungen ein dankbares, da visuell eingängiges Spielfeld für ihre gesellschaftliche Meta-Kritik: Schuld an der Hässlichkeit unserer Welt sind die (linken) Freunde und Verfechter der Moderne.
Der Wert des Laienblicks
Zweifelsohne gibt es unter den Befürwortern von Rekonstruktionsprojekten nicht wenige rechte Nostalgiker, Reichsbürger und andere Demokratiefeinde. Gerade, wenn es um so symbolträchtige Orte wie die Potsdamer Garnisonkirche geht. In einer Ausgabe der Schweizer Architekturzeitschrift Hochparterre fügten die Autorinnen Maarit Ströbele und Tamino Kuny in dem Artikel „Warum so reaktionär?“ allerdings an, dass viele der Akteure jener Online-Gruppierungen „harmlose“ Kritiker seien, die sich schlicht an der durchschnittlichen Erscheinung der Gegenwartsarchitektur störten. Der Niederländer Ruben Hanssen distanzierte sich auf seinem sehenswerten YouTube-Kanal „The Aesthetic City“, dessen Videos teilweise über drei Millionen Views zählen, explizit von rechtsextremen Positionen. Spricht man mit einem frühen Mitglied und wesentlichen Treiber des „Architectural Uprising“ Netzwerks, dem Schweden Peter Olsson, trifft man auf einen freundlichen, zurückhaltenden Mann, der nicht ansatzweise so konfrontativ redet, wie es Bilderposts auf der Facebook-Seite seines Vereines erwarten lassen würden. „Ich kann am besten für Schweden sprechen: Hier bekommen wir von allen Parteien, von links bis rechts, Interesse gespiegelt.“ Auf die Schönheit einer „traditionellen Architektur“, wie er sie nennt, könnten sich nahezu alle einigen, vergleichbar mit der parteiübergreifenden Bejahung eines intakten Gesundheitssystems. Olsson verortet sich ebenfalls „weit weg“ vom rechten Rand. „Ich arbeite im Marketing und hatte vor Architectural Uprising wenig Aufmerksamkeit für Architektur“, erzählt er. Dann sei er vor über zehn Jahren auf Beiträge der damals jungen Initiative gestoßen, habe recherchiert, sich mit Studien befasst und wurde Mitglied. Wissenschaftliche Forschungen bilden eine Basis der „Rebellen“-Kritik. Zitiert wird beispielsweise eine Untersuchung mit VR-Brillen an der University of Life Sciences in Oslo, bei denen Orte der norwegischen Hauptstadt mit reduzierter Gestaltung und wenig Zierde, aber aus viel Glas, Beton und Stahl – also „typisch modern“ –, von den Testpersonen als weniger angenehm empfunden wurden als vormoderne Plätze und Straßenzüge.
Heute ist Peter Olsson mehr denn je überzeugt, dass die Gegenwartsarchitektur oft an dem Geschmack der Leute vorbei entworfen wird. Ihm ist wichtig, dass die Meinung der Laien gleichwertig gesehen wird mit derer von Experten – beide müssten ja gleichermaßen Gebäude ansehen und nutzen. „Es geht nicht einfach um mehr oder weniger Ornamentik, es geht um Gestaltungsformen und Proportionen, die vielen Menschen nachweisbar gefallen“, so Olsson.
Die Instagram-Seite von „Architectural Uprising“ allerdings zeigt neben nachvollziehbar schöner Architektur nicht wenige Häuser, deren Gestalt wieder die Proportionalität verlässt, durch eine hohe Dichte an Gesimsen, Pilastern, Gauben und Walmdächern ins Vulgäre und Kitschige abdriftet, in ein „Zu-viel-an-Zucker“. Auf die Kritik, sein Verein konzentriere sich bei der Bewertung auf die Fassade, ignoriere andere Elemente wie Innenräume, Grundrisse oder die Funktionen eines Gebäudes, entgegnet Olsson: „99 Prozent von uns sehen von einem Haus halt nichts als die Fassade; sie ist essenziell für den öffentlichen Raum und das öffentliche Leben.“ Es sei ihm wichtig anzumerken, dass sich seine Kritik nicht nur an Architekten richte, sondern auch an Bauherren oder Politikerinnen, die meinen, einen traditionellen Baustil aus falscher Scheu ablehnen zu müssen. Dennoch hätte Olsson auch einen Rat an Architektinnen und Architekten: „Fragt nicht Berufskollegen, ob euer Entwurf gelungen ist, fragt die Menschen, die nicht aus eurem Umfeld stammen.“ Da laut Tests rund zwanzig Prozent der Befragten sich lieber eine „modernistische Architektur“ ansehen würden und achtzig Prozent eine „traditionelle“, müssten aktuelle Bauprojekte nach Olssons Auffassung ein ähnliches Mischverhältnis aufweisen.
Heute Bauen wie im Gestern
Neben Zustimmung erhalten die „Rebellen“ auf ihren Kanälen auch Gegenwehr. Nutzer verteidigen ikonische Werke der Moderne, sehen den Reiz in der Abwechslung. Auch wird gegen die „Rebellen“ eingewendet, es würde ein unnötiger Keil zwischen Laien und Experten getrieben. Was in den knappen Posts zudem fast immer unerwähnt bleibt, sind die wirtschaftlichen, technologischen und politischen Beweggründe, die zu der kritisierten Architektur geführt haben. Es liegt auf der Hand, dass sich gesellschaftliche Umbrüche und bautechnische Neuerungen im Gebauten niedergeschlagen haben und weiter niederschlagen werden. Die Stadt der Moderne ist schließlich undenkbar gewesen ohne Erkenntnisse in der Materialforschung, die zum Neuen Bauen ermutigen musste. Einfamilienhausgebiete, Großsiedlungen, Shopping-Malls und Gewerbegebiete, die grauen Perlen des 20. Jahrhunderts, sind zudem das Ergebnis einer individuellen Reichweiten-Vergrößerung durch motorisierte Verkehrsmittel; eine kleinparzellierte Altstadt dagegen funktioniert am besten autoarm. Wollte man eine Wiedererrichtung alter Stadtstrukturen konsequent verfolgen, müsste eine Reduktion des Autoverkehrs in Kauf genommen werden, was zumindest in Deutschland manchen Verfechtern einer reaktionären Verkehrspolitik sicherlich aufstoßen würde. Es wäre zudem wohl eines Pritzker-Preises, wenn nicht Nobelpreises würdig, die oft gelobte Gründerzeitbebauung derart wiederaufstehen zu lassen, dass sie heute und in Zukunft praktikabel, ansehnlich und gleichzeitig bezahlbar ist – ohne dafür die Arbeitsbedingungen und Umweltschäden der Kaiserzeit in Kauf nehmen zu müssen. Eine Altstadt-Rekonstruktion wie in Frankfurt am Main war nur durch einen enormen öffentlichen Kostenzuschuss möglich.
Diese Einwände allein aber werden der „rebellischen“ Schelte der Gegenwartsarchitektur nicht gerecht. In einigen Punkten ist Kritik ja berechtigt – und selbstverständlich wird auch in Fachkreisen debattiert. Undefinierte Straßenräume, die berüchtigten „Klötzchen“ einer Neubausiedlung, die Tristesse einer WDVS-Fassade, unklare Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Räumen: All das kann als störend, abweisend oder verwirrend empfunden werden. Hässliche Orte werden nicht unweigerlich schöner dadurch, dass man ihre Geschichte kennt. Ein Verzicht auf Zierde allein macht kein qualitätvolles Haus; dagegen kann eine interessant strukturierte Fassade das Auge erfreuen. Zutreffend ist wohl auch der Vorwurf einer politischen Doppelmoral, allerdings auf „beiden“ Seiten: Wo leben viele Freunde moderner Architektur, unter denen vermutlich die meisten mittig bis links wählen? In den teuren Innenstädten und Häusern der Vormoderne. Und wo wohnen dafür viele Wähler der AfD mehr oder weniger freiwillig? In den klassischen Agglomeraten der Moderne: Einfamilienhausgebiete, Randstädte, Plattenbau-Siedlungen. Passenderweise war die AfD die einzige Partei, die in ihrem letzten Bundeswahlprogramm versprach, sich für die „Schönheit historischer Innenstädte“ einzusetzen, als könnte sie ihrer Klientel einen fernen Sehnsuchtsort erhalten oder neu errichten. Eine Tragik liegt daher auch darin, dass populistischen Berufspolitikern durch die Politisierung eines Stilempfindens das Feld des „schönen Bauens“ überlassen wird, die dieses mit den immergleichen Abziehbildern füllen.
Wer hat Angst vor der Stildebatte?
Die holzschnittartige Kritik der „Bewegungen“ verflacht Architekturdebatten auf eine instagramtaugliche Bildlichkeit. Einflussfaktoren, die es wert wären, näher betrachtet zu werden – von der Grundstücksverteilung über die Bauherrenschaft bis zu politischen und rechtlichen Vorgaben – bleiben außen vor. Gleichzeitig geht die auch hiervon abhängige Frage der ansehnlichen Architektur in der öffentlichen Wahrnehmung bei Meta-Themen wie Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit schnell unter. Dabei zeigt die Anhängerschaft der Online-Gruppen und YouTube-Influencern, dass der Bedarf an einer Stildebatte gerade auch außerhalb der Fachkreise besteht. Doch wäre es im Sinne eines reichhaltigen Spektrums an Antworten fruchtbar, die Diskussionen würden nicht nur in den Echokammern des eigenen Netzwerks oder Berufsfelds geführt.
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