Bauwelt

Ciudad Abierta in Ritoque


Die Ciudad Abierta erzählt von einem mutigen Bauprojekt, das in den siebziger Jahren an der Pontificia Universidad Católica von Valparaíso seinen Anfang nahm, heute aber ein wenig museal wirkt


Text: Dransfeld, Agnes, Copiapó (Chile)


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    Luftbild mit Markierung des 270 Hektar großen Geländes. Die Spekulanten drängen bereits, der Filetgrundstücke am Meer zu verkaufen.
    Plan: Corporación Cultural Amereida

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    Luftbild mit Markierung des 270 Hektar großen Geländes. Die Spekulanten drängen bereits, der Filetgrundstücke am Meer zu verkaufen.

    Plan: Corporación Cultural Amereida

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    Die Tragkonstruktion aus Stahlbeton wurde mit Studenten entwickelt.
    Foto: Andreas Rost

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    Die Tragkonstruktion aus Stahlbeton wurde mit Studenten entwickelt.

    Foto: Andreas Rost

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    Die hölzerne Skulptur auf einer Anhöhe im Gelände wurde von Architekturstudenten im Grundstudium errichtet.
    Foto: Andreas Rost

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    Die hölzerne Skulptur auf einer Anhöhe im Gelände wurde von Architekturstudenten im Grundstudium errichtet.

    Foto: Andreas Rost

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    Die gewölbten Ziegelmauern fassen einen offenen „Theaterplatz“.
    Foto: Andreas Rost

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    Die gewölbten Ziegelmauern fassen einen offenen „Theaterplatz“.

    Foto: Andreas Rost

Etwas nördlich der chilenischen Hafenstadt Valparaíso liegt, zwischen Dünen und Wald versteckt, ein außergewöhnliches Zeugnis der neuen chilenischen Architektur- und Kunstgeschichte: die Ciudad Abierta (Offene Stadt). Es handelt sich dabei nicht, wie der Name suggeriert, um eine urbane Struktur, sondern um ein nahezu unbebautes Gebiet von 270 Hektar Ausdehnung. Teile der weiten Dünenlandschaft Ritoque mit mehr als drei Kilometern Strand gehören dazu, wie auch das Feuchtgebiet Manta-gua. Ein Areal seiner Flächen wird als architektonisches und künstlerisches Experimentierfeld der Fakultät für Architektur und Design der Pontificia Universidad Católica von Valparaíso genutzt.
Die Ciudad Abierta möchte ein Ort sein, an dem seine Bewohner und Besucher Leben, Arbeiten und Studieren miteinander verbinden können. Entstanden ist diese Idee an der Universität. Ab Mitte der fünfziger Jahre treffen sich dort Professoren, Architekten, Künstler und Dichter, die Architektur und Poesie in einen speziellen Zusammenhang setzen. Sie verstehen Architektur als Materialisierung von Poesie, als Raum gewordenes Wort. Ein weiteres Anliegen ist ihnen, einen eigenen, südamerikanischen Zugang zur Architektur und Kunst zu finden. So beschließen sie, im Jahr 1965 eine Reise durch Südamerika, von Kap Horn bis nach Santa Cruz de la Sierra in Bolivien, zu unternehmen. Nach ihrer Rückkehr entsteht das Buch Amereida. Dieses Werk enthält verschiedene Texte, Notizen und Gedichte der Reiseteilnehmer. Sein Titel setzt sich aus den Worten Amerika und Eneida zusammen, spanisch für die Aeneis, dem von Vergil verfassten Epos über die Irrfahrt von Eneas nach seiner Flucht aus Troja. Die Reisenden hatten sich ebenfalls auf eine Odyssee begeben, aber statt mit Speeren, bewaffneten sie sich mit Pinsel, Bleistift und Notizblock.
Amereida ist das Gründungswerk der Ciudad Abierta, ihr Manifest. Aus dem Wunsch heraus, dem poetischen Fundament von Amereida einen Ort zu geben und dem Bedürfnis, das Wort zur Aktion werden zu lassen, wird 1970 das Gelände der Ciudad Abierta angekauft. Bei der Wahl des Grundstücks achten die Gründer vor allem auf die Lage am Meer, das für Südamerika und besonders für Chile sehr wichtig ist. Zur Einweihung und ersten Begehung des Geländes wird das Gedicht „Der Gang aufs Land“ von Friedrich Hölderlin vorgetragen. Danach finden verschiedene „Poetische Handlungen“ statt, wie die künstlerischen Aktivitäten in der Ciudad Abierta bis heute heißen.
Im Jahr 1973, also kurz nach der Gründung der Ciudad Abierta, putscht das Militär in Chile und versenkt das Land für sechzehn Jahre in eine Diktatur. Die Ciudad Abierta bleibt von Repressalien weitgehend verschont. Das mag daran liegen, dass an der Pontificia Universidad Católica de Valparaíso generell eine apolitische Stimmung herrschte und auch die Gründer und Bewohner der Ciudad Abierta damals offizielle keine Stellung bezogen. Man kann jedoch auch vermuten, dass die Universität, deren Studenten und Professoren bis heute fast ausschließlich der Oberschicht angehören, unter dem Schutz der dem Militär nahen Eliten stand.
Drei Bautypen
Heute wird die Ciudad Abierta von der gemeinnützigen Corporación Cultural Amereida (Kulturvereinigung Amereida) verwaltet. Sie ist Eigentümerin des Grundstücks und der sich darauf befindenden Werke.
Auf dem Gelände sind drei Typen von Bauten entstanden: die Hospederías, als Häuser der Bewohner, kleinere Kunstwerke und Spontanarchitektur, dazu die Ágora genannten Plätze, die für die Ciudad Abierta und ihre Nutzung von großer Bedeutung sind.
Der Name Ciudad Abierta bedeutet nicht etwa, dass das Gebiet und die Architektur allen immer offenstehen, im Gegenteil, man kann sie nur mittwochs und nur nach Absprache besuchen. In der Ciudad Abierta leben zurzeit 38 ständige Bewohner, hauptsächlich Familien mit Kindern. Viele der Bewohner sind Professoren an der Fakultät für Architektur und Design.
Victoria Jolly, Bewohnerin und Präsidentin der Kulturgemeinschaft Amereida, erklärt dazu: „Die Ciudad Abierta ist ein Gesamtkunstwerk in fortwährendem Bauprozess, etwas ganz anderes als ein Museum. Dieser Prozess bezieht das Leben und Arbeiten seiner Bewohner mit ein. Viele der Bauten sind das Heim einer Familie, deren Privatsphäre respektiert werden muss.“
Erstsemester
„Offene Stadt“ bedeutet in diesem Zusammenhang ungeschützte Stadt, eine Stadt ohne Stadtmauer oder Festung. Der Schutz der Stadt soll durch ihre Gastfreundschaft und durch Dialog entstehen. Diese Gastfreundschaft zeigt sich besonders in der noch immer sehr nahen Beziehung zur Fakultät für Architektur und Design. Jeden Mittwoch wird die Ciudad Abierta zum Campus. Dann findet dort das Amereida Seminar statt, eine Pflichtveranstaltung für Erstsemester, die oft auch in den Dünen abgehalten wird. In den Sommermonaten wird auf dem Gelände das Seminar Kultur des Körpers veranstaltet, das eine Mischung aus Sport und Raumerleben ist. Auch für andere sportliche Aktivitäten und Turniere und für die Feier des Heiligen Franziskus, des Schutzpatrons der Fakultät, wird die Ciudad Abierta genutzt. In Baustellenseminaren tragen Professoren und Studenten zum Weiterbau der Ciudad Abierta bei, und die Industriedesign-Studenten haben dort eine Prototypen-Werkstatt.
Eine sehr bekannte und bis heute oft neu interpretierte „Poetische Handlung“ in der Cuidad Abierta ist „Phalène“, bei der es um die Verbindung von Raumerfahrung und Poesie geht. Eine Gruppe begibt sich auf eine Wanderung und ein Mitglied der Gruppe beginnt eine Geschichte zu erzählen. Dabei werden die Orte und die Topografie, die durchwandert werden, mit einbezogen.
Heute sind die Vereinigung der Ciudad Abierta und die Fakultät für Architektur und Design offiziell unabhängige Einrichtungen. Es fällt jedoch schwer, von der einen zu reden, ohne die andere zu erwähnen. Nicht zuletzt, da die Mehrheit der Professoren Mitglieder der Vereinigung und die Bauwerke Ausdruck der Lehre an ihrer Fakultät sind.
Ihre Architekturlehre misst der Beobachtung eine fundamentale Rolle im architektonischen Schaffen zu. Die Poesie, oder vielmehr das Wort, ist weiterhin Ausgangspunkt des Entwerfens. Im Entwurfsprozess ist das Handwerk zudem ein elementarer Bestandteil, denn die Studenten entwerfen an Modellen. Erst die endgültige Version wird am Computer gezeichnet.
Hospederia del Errante
Einer der bekanntesten Professoren der Fakultät war der kürzlich verstorbene Manuel Casanueva. Die Hospedería del Errante, eine der beeindruckendsten Bauten der Ciudad Abierta, ist aus seiner Idee entstanden, die Schnelligkeit des Wortes in einen Gegensatz zur Langsamkeit des architektonischen Schaffens zu stellen. Vom
Baubeginn im Jahr 1981 bis zur Vollendung im Jahr 2000 wurde ganz im Sinne des „poetischen Wachsens“, einiges am Originalentwurf verändert und ergänzt.
Auch wenn die Bauten in der Ciudad Abierta in ihrer Form und Entstehung Ähnlichkeiten mit der Architektur des Dekonstruktivismus und der experimentellen Architektur der achtziger und neunziger Jahre, aufweisen, will sich die Ciudad Abierta nicht in Kategorien einordnen lassen. Die Vereinigung sieht sie nicht als Teil einer bestimmten Architektursprache, sondern vertritt eigene Entstehungsprozesse. Sie habe sich nicht von formalen Eindrücken beeinflussen lassen.
Diese Prozesse werden durch den kulturellen Austausch mit Künstlern und Architekten aus dem In- und Ausland bereichert, die die Ciudad Abierta besuchen, dort forschen oder sogar etwas bauen. Momentan ist es ein Gästehaus, Pórtico de los Huespedes, das in Zusammenarbeit mit Schweizer Studenten unter der Leitung der École Polytechnique Fédérale de Lausanne und Studenten der Fakultät für Architektur und Design der Pontificia Universidad Católica entworfen wurde. An dem Bauseminar zur Realisierung des Entwurfs nehmen Professoren und Studenten beider Universitäten teil.
Auf diese Weise wird die Ciudad Abierta auch im Ausland immer bekannter. In Chile gibt es keinen Architekten der sie nicht kennt und keine Meinung zu ihr hat. Viele sind von der Freiheit des Entwerfens aus der Betrachtung heraus begeistert. Andere kritisieren die Initiative und ihre Ausrichtung als verschlossen und elitär. Niemand bestreitet jedoch deren kulturellen Wert für die lateinamerikanische Kunst und Architektur und die positive Wirkung dieses Experimentierfeldes auf die kreative Entwicklung der Studenten.



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