Bauwelt

Europan 5: Quartier am Rande Ceutas



Text: Geipel, Kaye, Berlin; de Giles, Sara, Sevilla


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    Jesús Granada

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Es gibt nur wenige Orte, die die heutigen Grenzen Europas sichtbarer werden lassen als Ceuta, die spanische Stadt-Enklave in Nordafrika. 1999, bei Europan 5, gewann ein ambitioniertes Wohnbauprojekt der Architekten Morales Giles Mariscal den ersten Preis. Elf Jahre später ist der erste Bauabschnitt des herausragenden Projekts fertiggestellt. Wir befragen die Architekten.
Thema des fünften Europan-Wettbewerbs (1998–99) waren „Les nouveaux Paysages de l’Habitat“, die neuen Landschaften des Wohnens. Mitten in den neoliberal verursachten Absturz des geförderten Wohnbaus hinein stellte der Wettbewerb die Frage, wie im dichten Kontext der Stadt ein neues Nebeneinander von gemischten Wohnungen gedacht werden kann. In den Niederlanden war das der Moment, wo im gan­zen Land die Retortenkonzepte der VINEX-Siedlungen zu wuchern begannen; in Berlin war es der Beginn einer Phase, wo die Mittelklasse in kleinen Baugruppen für sichselbst denken lernte. In Paris explodierten gerade die Preise für Altbauten in derartige Höhen, dass bloß noch reiche Interessenten aus den Erd­ölländern zum Zuge kamen. Jeder wollte lieber für sich oder unter seinesgleichen wohnen, als im kollekti­ven Maßstab denken.
Der mehr als zehn Jahre nach dem Wettbewerbsgewinn realisierte Wohnbau in Ceuta der Architektengruppe MGM wirkt da wie ein Fels. Zugegeben: Auch dieses Projekt hat Schwächen. Über die Schwierigkeiten, die die besondere Form des geförderten Wohnbaus in Spanien mit sich brachte – das plötzliche Interesse an dem Wohnprojekt stellte die Vergaberichtlinien in Frage –, äußert sich die Architektin Sara de Giles am Ende des Interviews. Und doch: Entstanden ist ein außergewöhnliches Projekt, das die geduldige Suche nach den neuen Qualitäten des verdichteten Wohnbaus sichtbar macht. Nicht zuletzt übersetzt es die schwierigen Rahmenbedingungen des Bauens in der europäischen Enklave Ceuta in eine glaubwürdige Form, ohne die Auftraggeber und ohne die Bewohner zu verraten. Mehr kann Architektur nicht leisten.
 
Der Standort des Europan-5-Projektes, für das Sie zusammen mit José Morales und Juan González Mariscal den ersten Preis erhielten, ist charakteristisch für den Europan-Wettbewerb. Es handelt sich um einen im Grunde unbebaubaren Ort. Nur mit einer außergewöhnlichen Idee kann dieser Ort gerettet, oder sagen wir: zurückgewonnen werden. Dieser Ort ist ein aufgegebener, nicht mehr benutzter Steinbruch am Rande Ceutas. Er liegt auf halbem Weg zwischen der Altstadt und der Halbinsel mit ihrem Kastell. Wie geht man mit einem solchen Standort um?

Sara de Giles | Wir haben die metaphysischen Qualitäten des Standorts sofort geschätzt, weil er uns symptomatisch erschien für die Transformation heutiger städtischer Landschaf­ten. Die Homogenität der alten Stadt ist verloren. Wir müssen neues Know-how entwickeln und mit solchen unmögli­chen Landschaften umgehen lernen.
 
Auf den ersten Blick eine schöne, eine ambitionierte Idee. In Galizien, aber auch in Norditalien gab es schon mehrmals Europan-Standorte, wo ein aufgelassener Steinbruch Bauland für ein Wohngebiet werden sollte. Aus keinem dieser Projekte ist bisher etwas geworden. Wie ist das in Ceuta gelungen?

Am Anfang gab es auch bei uns nur Schwierigkeiten. Uns gefiel die harte Charakteristik des Ortes, und wir wussten, welchen Aufwand ein solches Projekt mit sich bringt. Wir haben uns den Ort sehr genau angesehen. Am Ende kannten wir jeden Stein. Vor allem wollten wir die Charakterstik ei­nes „Steinbruchs“ erhalten, zumindest aber in die neuen Bauten überführen. In unseren Augen hat die Stadt viel zu lang gegen diese großartige Topographie geplant. Sie hat die neuen Bebauungen einfach wuchern lassen.
Die Grundidee unseres Entwurfs hat man sofort akzeptiert. Aber in der Umsetzung gab es kaum zu überwindende Schwierigkeiten. Man sagte uns, wir seien Idealisten. Ein Beispiel: Der leergeräumte Steinbruch zeigte eine brüchige Geometrie. Die Fotos aus der Ferne (Seite 18), die wir in der Vorbe­reitung des Wettbewerbs gemacht haben, zeigen dies deutlich. Wir wollten, dass die neuen Wohnbauten sich zwischen diesem Auf und Ab des Steins entfalten: eine Siedlung von 127 Wohnungen in Türmen und Patiowohnungen, wo auch der rohe Schiefer sichtbar wird.
 
Was war so schwierig?

Die ausführende Baufirma hielt das für unnötigen Luxus. Den Stein wegsprengen, so weit wie möglich, das war ihre Devise. Dann darauf bauen. Wir konnten uns am Ende durchsetzen. Der Stein wurde manuell bearbeitet, nicht gesprengt. Das war viel teurer. Aber wir haben dieses Nebeneinander von Architektur und Natur bekommen, das wir wollten.
 
Hatten Sie vergleichbare Beispiele, mit denen Sie argumentieren konnten?

Nicht in der Architektur. Angeregt hat uns der Vergleich mit der Kunst. Es gibt ein Projekt von Eduardo Chillida, die „Windkämme“ in San Sebastián, riesige Stahlskulpturen, die, in den Fels der baskischen Steilküste gerammt, wie Zangen in den Himmel greifen. Auch bei Chillida geht es um ein unmittelbares Aufeinanderprallen von räumlicher Leere, von heftigen Winden und von Fels. Das Klima in Ceuta ist sehr aggressiv. Die Winde sind überaus heftig. Die Konzeption der Wohnungen nimmt darauf Rücksicht.
 
Die Wohnungen haben kaum sichtbare Fenster, die Anlage wirkt auf den ersten Blick hermetisch. Aber alle Wohnungen haben aufwendige, um die Ecke gesteckte Loggia-Vorbereiche. Nach welchen Prinzipien haben Sie die Wohnun­gen im Wettbewerb entwickelt?

Es gab drei Prinzipien. Wir entwarfen erstens eine Art „Nischenarchitektur“; alle Wohnungen sind je nach Himmelsrichtung sorgfältig vor den herrschenden Windrichtungen geschützt. Zweitens sind die Wohnungen so gut wie immer durchgesteckt. Drittens haben wir sehr genau geplant, dass schon die Eingänge in geschützten Vorbereichen liegen.


Etwas ist ungewöhnlich: Das Wettbewerbskonzept, das Sie 1998 auf drei Tafeln eingereicht haben, entspricht in vielen Details dem mehr als zehn Jahre später realisierten Bauwerk. Wie konnten Sie damals so präzis entwerfen?

Man muss anerkennen, dass uns die Stadt Ceuta ausgezeichnete Unterlagen geliefert hat. Dazu kam unsere genaue Ortskenntnis. Schließlich gab es noch einen persönlichen Grund. Aus Altersgründen war dies unser letzter Europan. Wir wollten unbedingt gewinnen.
 
Bis zur – ja noch nicht vollständig abgeschlossenen – Realisierung hat es mehr als zehn Jahre gebraucht. Was waren die Gründe für den Verzug?

Einer davon lag in der aufwendigen Erschließung. Wir mussten im oberen Teil des Grundstücks eine neue Straße anle-gen, da war der Fels im Weg. Das ist teuer und braucht viel Zeit. Bei der ganzen Frage der Erschließung und der Konzeption des Wohnquartiers ist uns die Stadt sehr entgegengekommen. Die Vorgaben unseres Wettbewerbsgewinns wurden in den Bebauungsplan eingearbeitet und haben diesen verändert. Nor­malerweise ist es umgekehrt. Auch das braucht Zeit.


Kommen wir zurück zu den Wohnungen. Sie konnten eine große Varianz an Typen umsetzen. Auffällig ist allerdings, dass sich diese Unterschiede vor allem auf die nach außen ge­richteten „Kopfbereiche“ der Wohnung beziehen. Die Funktionseinheiten im Inneren sind auf wenige Typen beschränkt.

Wir beschäftigen uns seit Jahren sowohl theoretisch wie auch praktisch mit dem Wohnbau. Die Regeln des spani­schen sozialen Wohnungsbaus sind sehr einschränkend. Du kannst maximal vier, fünf unterschiedliche Typologien umsetzen. Damit sollst du dann 150 Wohnungen bauen. Das emp­finden wir als unbefriedigend. Wir haben deshalb ein Konzept der „Sachets fonctionels“, funktionaler Boxen, entwickelt. Das sind stapelbare Einheiten aus Küche, Schlafzimmer, Bad. Die sind mehr oder weniger ähnlich. Um diese „Sachets“ herum haben wir aber eine größere Freiheit. Dieses Konzept wurde in Ceuta umgesetzt. Über die Außenbereiche der Wohnungen haben wir bereits gesprochen. Sie sind eigentlich immer nach zwei Seiten orientiert. Die Bewohner blicken auf der einen Seite zum Fels, auf der anderen zum Wasser. Und bei den Patiowohnungen variieren wir die Zugänge.
 
Wie kam es grundsätzlich zu der Idee städtebaulicher Ver dichtung: auf der einen Seite die Türme, daneben die sehr flachen Patiowohnungen, die sich kaum über den Boden erheben?

In Ceuta hat man sich lange Zeit um die Form, die die Landschaft vorgibt, kaum Gedanken gemacht. Diesen Felsen mit dem Castillo, das haben Sie nur hier. Unser Ziel war, diese Kon­stellation zu erhalten, ja, sie zu stärken. Wir wollten unter allen Umständen vermeiden, dass die neuen Bauten den Berg verdecken. Deswegen die schlanken Türme, die Teil eines sehr flachen Sockels sind.
 
Die Materialien sind Stahlbeton und helles Holz. Inwiefern gehörte diese Kargheit mit zum Programm?

Die Materialwahl entspricht uns zwar ästhetisch, hatte aber vor allem pragmatische Gründe. Da Ceuta eine spanische Enklave ist, müssen die Baumaterialien importiert werden. Das macht alles um 20 Prozent teurer. Wir haben deshalb so weit wie möglich mit Materialien, die vor Ort verfügbar waren, gebaut: Stahlbeton, verzinktes Blech für den Sonnenschutz und die Abgrenzung der Loggien und recycelte Schaltafeln für die Holzvertäfelungen und Klappläden.
 
Sie erwähnen die Zinkblechgitter für den Sonnenschutz. Warum war es nötig, sie vollflächig anzubringen?

Damit haben wir lange experimentiert. Wir brauchten ein Material, das billig und stabil ist. Vor allem wollten wir keine Brüstungen, die die Blickbeziehungen der Bewohner gerade im wichtigen unteren Bereich abdecken. Die Blechroste verschwinden nach einiger Zeit vor den Augen. Man sieht sie einfach nicht mehr. Außerdem gewähren sie einen gewissen Sicherheitsschutz, der es möglich macht, den Übergang Wohnung–Loggia völlig offen zu halten. Die Bereiche vor den Küchen sind übrigens immer offen.
 
Wie hätte das Projekt ohne Europan ausgesehen?

Die fachliche Debatte bei Europan war für uns wichtig, auch wenn wir manchmal mit den Kategorien, denen unser Projekt zugeordnet wurde, nicht so glücklich waren. Bei der Realisierung wurden wir aber stark unterstützt. Selbst einen Teil der Honorare bekamen wir über das Ministerium in Madrid – möglich war das nur wegen der Bedeutung des Wettbewerbs. Es gibt noch einen weiteren Aspekt, den wir für wichtig halten. Wo sonst könnten Sie heute in einem öffentlichen Umfeld über neuen Wohnbau diskutieren? Spanien mag lange als ein Wunderland der Architektur gegolten haben. Doch das betrifft vor allem die kulturellen Projekte. Was den Wohnbau angeht, ist es schon lange still geworden bei uns. Grausame Wohnanlagen sind entstanden, gerade an den Küsten. Und es sind vielleicht nur noch experimentelle Projekte wie das in Ceuta, die neue Entwicklungen leichter machen.
 
Ein Teil des Projektes ist noch nicht realisiert.

Stimmt. Erstaunlicherweise hat auch die große Nachfrage nach den Wohnungen für Verzögerungen gesorgt. Das hängt damit zusammen, dass die Vergaberichtlinien in Frage gestellt wurden. Und es fehlt immer noch an Geld, das Ceuta nicht allein aufbringen kann. Aber Ceuta hat eine strategische Position. Spanien muss deutlich machen, dass es die Enklave nicht vergisst. Es wird weitergebaut. Noch klafft in der Mitte des Quartiers ein großes unbebautes Loch aus Schiefer.



Fakten
Architekten Morales Giles Mariscal, Sevilla
aus Bauwelt 29.2010

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